Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Maike Wetzel: "Elly"
Wenn dein Kind geht, hört alles auf

Maike Wetzel hat sich Zeit gelassen: Anfang des Jahrtausends veröffentlichte sie zwei vielbeachtete Prosabände. Jetzt erscheint ihr erster Roman. "Elly" erzählt von einem verschwundenen Kind und einer zerfallenden Familie.

Von Julia Schröder | 10.08.2018
    Ein Kind sitzt hinter einer halb undurchsichtigen Scheibe. Es trägt ein rotes Hemd.
    Vom plötzlichen Verschwinden einer Elfjährigen: "Elly" von Maike Wetzel (imago/Igor Stevanovic/Science Photo Library)
    Manchmal kommt auch Literaturkritik nicht ohne einen Blick in die Statistik aus. Genau 8.234 Kinder unter 13 Jahren wurden 2017 laut BKA in Deutschland als vermisst gemeldet. Die meisten - 7.886 - tauchten innerhalb eines Jahres wieder auf. Die Frage, was aus den verbliebenen 348 Kindern wird, wie es ihren Eltern, Großeltern, Geschwistern damit ergeht, hat die Autorin Maike Wetzel zum Ausgangspunkt ihres ersten Romans gemacht. "Elly" heißt das Buch, denn Elly ist der Name des elfjährigen Mädchens, das auf dem Weg zum Judo-Kurs spurlos verschwindet.

    Wetzel, Jahrgang 1974, hat Film studiert, Drehbücher geschrieben und Regie geführt, und Anfang des Jahrtausends - lang, lang ist's her - galt sie mit zwei Erzählungsbänden als Vertreterin eines Phänomens namens "Fräuleinwunder der deutschen Literatur". Wie lang diese Zeiten her sind, merkt man schon an dem Etikett "Fräuleinwunder" in seiner ganzen sexistischen Obsoleszenz. Aber zurück zum Buch: In "Elly" arbeitet Maike Wetzel stark mit Leerstellen und wechselnden Perspektiven. Immer wieder stellt sich die Frage, wer hier gerade jeweils spricht, und dies wiederum entspricht dem, was gleich zu Beginn benannt wird:
    "Diese Geschichte ist nicht meine Geschichte. Ich bin nicht sicher, wem sie gehört. Sie liegt auf der Straße, sie schläft in unserem Haus und trotzdem ist sie mir immer einen Schritt voraus. Wenn ich diese Geschichte nun aufschreibe, ist das ein Versuch, sie zu bannen. Ich will, dass sie zur Ruhe kommt und auch mich verschnaufen lässt. Ich renne schon so lange."
    Nach einem kurzen Einstieg von kaum drei Seiten setzt die Erzählung an einem ganz anderen Punkt ein. Zwei Mädchen, eins dreizehn, eins schon vierzehn Jahre alt, teilen sich ein Zimmer im Krankenhaus. Almut, die jüngere der beiden, hat eine Darmverschlingung gehabt und bewundert Ines mit dem geplatzten Blinddarm vom ersten Augenblick an. Die manipulative Ines bringt Almut dazu, dass sie sich jede Nacht mittels mitgebrachter, fast schwarzer Perücke in ein Mädchen namens Elly verwandelt. Als Almut eigentlich entlassen werden soll, zeigt Ines ihr, wie sie ihre OP-Narbe absichtlich infiziert, so dass sie länger bleiben muss. Almut macht alles willig mit – bis sie ein Foto entdeckt, das Ines zusammen mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester zeigt, einem Mädchen mit fast schwarzen Haaren. Dieses Mädchen ist Elly. Almut ist Ines' Geheimnis auf die Spur gekommen.

    Dieses Großkapitel trägt den Titel "Königin". Am Ende scheint Ines, Almuts Königin, entthront, wenn nicht Schlimmeres.
    "Ines bleibt stumm. Sie muss nichts sagen. Ich weiß es auch so. Sie stand bestimmt schon einmal hier oder an einem anderen Ufer. Auch damals hielt sie ein Mädchen an der Hand. Aber sie kehrte wohl allein zurück. (...) Meine Königin stirbt an diesem Kai. Aber Ines und ich, wir stehen da. Wir warten auf den Aufgang der Sonne. Es sind nur sie und ich. Niemand ist sonst dabei."
    Unterschiedliche Erzähl-Perspektiven
    Aber so einfach ist die Sache nicht. Maike Wetzel legt in "Elly" manch falsche Spur, baut das ganze Buch auf wie ein großes Rätsel, das aus lauter kleinen Rätselhaftigkeiten besteht. Gewissheiten verdichten sich und verflüssigen sich wieder: Ist das erste Kapitel aus der Perspektive der kleinen Bewunderin Almut erzählt, kommt im nächsten Großkapitel Ines selbst zu Wort, die in der Innensicht wesentlich weniger dämonisch wirkt als in der Außenperspektive des ersten Teils, vielmehr schwankend zwischen Hoffnungsfantasien, Resignation und Genervtheit. Außerdem spricht in diesem Kapitel Judith, die Mutter von Ines und der verschwundenen kleinen Elly. Sie kommt nur noch mit Hilfe von Tabletten durch den Tag, denn, wie sie sagt:
    "Wenn dein Kind geht, hört alles auf." 'Unter Null' heißt dieses zweite Kapitel, und tatsächlich wird hier sehr eindringlich das Einfrieren aller Gefühle, der Zerfall einer Familie vorgeführt.

    Im dritten Teil kommt zum Mutter-Tochter-Doppel-Psychogramm als dritte Stimme die des Vaters Hamid. Vor allem aber taucht das verschwundene Kind wieder auf - nach vier Jahren! Oder etwa nicht? Jedenfalls passt Ellys Beschreibung auf ein traumatisiert aufgefundenes Mädchen im entsprechenden Alter, und die verzweifelten Eltern glauben, in ihr die so lang vermisste Tochter wiedergefunden zu haben. Sie hoffen, alles werde nun wieder gut, die Familie sei endlich wieder vollständig. Aber irgendwann schaltet sich dann auch noch die Erzählstimme dieses Mädchens ein, und aus ihrer Perspektive sieht die Geschichte ganz anders aus. Und Ines weiß:
    "Als Elly zurückkehrte, dachten meine Eltern und ich, wir hätten das Schlimmste hinter uns. Heute weiß ich: Folter ist ein unendlich zu multiplizierender Begriff."
    Helden aus scheinbar normalen Verhältnissen
    Als Anfang des Jahrtausends zwei Erzählungsbände von Maike Wetzel erschienen, wurde sie wegen ihrer Lakonie, ihrer lapidaren Sätze, wegen ihres Talents für die Leerstelle mit Judith Hermann verglichen. Jedoch fiel auf, dass Wetzel ihre Protagonisten nicht in der Berliner 'Irgendwas mit Theater'- und Hipster-Boheme castete, sondern eher in der Provinz der Normalos, in der allerdings die Lebenslüge mindestens so heftig spukt wie in irgendeinem angesagten Hauptstadt-Kiez. So ist es auch in diesem Buch. Die Mutter Judith gönnt sich am Wochenende mit ein paar Partydrogen und Internetbekanntschaften kleine Fluchten aus ihrem Dasein als Hausfrau und freiberufliche Verfasserin von "Nachhaltigkeitsberichten", also Greenwashing-Texten für Unternehmen. Der Vater Hamid ist Architekt, aber er entwirft nicht etwa Häuser, sondern Vehikel stillgestellter Bewegung, nämlich Rolltreppen.
    Noch etwas hat Maike Wetzel mit Judith Hermann gemeinsam, und das ist ein Formproblem. Hermann vertraute in ihrem dritten Erzählungsband "Alice" darauf, dass eine Reihe einzelner Porträts sich durch eine gemeinsame Katalysatorfigur - die titelgebende Alice - alles in allem irgendwie zu einer Großerzählung runden würde. Das hat nicht funktioniert, und ähnlich ist es jetzt mit Maike Wetzels "Elly".
    Am Ende wird es zu eindeutig
    Das liegt nicht am Umfang von lediglich 150 Seiten. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, hier sei eine längere Erzählung - die des verlorenen Kindes - ergänzt worden mit zwei nicht ganz so langen Erzählungen, nämlich der einer unheimlichen Kinderfreundschaft und der einer Streunerin. Jede dieser Erzählungen für sich ist gut gemacht, aber aus der bloßen Kombination wird keine kongruente Welt und damit kein Roman. Stattdessen stellt ein enttäuschender Effekt sich ein: Das kunstvoll aufgebaute Rätsel bricht in sich zusammen, und alles mündet in eine eindeutige Geschichte. Und Eindeutigkeit ist vermutlich das Letzte, was Maike Wetzel erreichen wollte.
    Maike Wetzel: "Elly"
    Verlag Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 148 Seiten, 20,- Euro