Montag, 29. April 2024

Archiv

Mailänder Scala
Grenzen des konservativen Geschmacks

Pfiffe und Buhrufe gehören an der Mailänder Scala dazu. Intendant Stephane Lissner plant das ein, wenn er den Geschmack seines Publikums erweitern möchte. Nun geht er in seine letzte Saison, zu deren Auftakt er Verdis "La Traviata" auf die Bühne brachte.

Von Henning Klüver | 10.12.2013
    Pfiffe und Buhrufe an der Scala? Dmitri Tscherniakov ging nach der Premiere eher gelassen damit um. Sie gehörten nun mal zum Geschäft, kommentierte der Regisseur. Getroffen zeigte sich dagegen der polnische Tenor Pjotr Beczala, dem das berühmte Trinklied nun weniger leicht von den Lippen kam. Er wolle zwar seinen Vertrag erfüllen, kündigte der Sänger auf seiner Facebook-Seite an, doch anschließend werde er nie wieder in Italien auftreten. Intendant Stéphane Lissner, der seit neun Jahren versucht, den Publikumsgeschmack der Mailänder vorsichtig zu erweitern, kennt seine Pappenheimer, die nicht nur von den oberen Rängen der Scala protestieren.
    "Jeder Mailänder, jeder Italiener fühlt sich als Inhaber dieser Bühne. Er hat genaue Vorstellungen davon, wie man eine Oper inszenieren muss und wie nicht, wie die Kostüme gestaltet sein müssen, dass der Gesangsstil in Italien nur so und nicht anders sein kann, und Ausländer sowieso fehl am Platze sind. Das alles hat mit einer musealen Vorstellung von Oper zu tun, die wir bekämpfen müssen, täglich bekämpfen müssen."
    Die Inszenierung der Traviata ist ein weiterer Baustein in diesem täglichen Kampf um ein zeitgenössisches Opernverständnis. Und das lag vor allem an dem überzeugenden Auftritt von Diana Damrau, die der Violetta nicht nur eine glänzende Stimme gab. Sondern sie wusste ebenso mit ihrem Schauspiel, die verschiedenen Seelenzustände einer Kurtisane zu treffen, die plötzliche ihre große Liebe entdeckt.
    Diese Aufführung kann auch als ein kleiner Triumph für die Spielplanpolitik und das Besetzungsgeschick des Intendanten gelten, der zugleich künstlerischer Leiter der Scala ist. Stéphane Lissner war im Frühjahr 2005 an das Teatro alla Scala gekommen, als hier jeder mit jedem stritt, Riccardo Muti Türe schlagend das Haus verlassen hatte und acht Millionen Euro Schulden die Bühne drückten.
    Stéphane Lissner, Intendant der Mailänder Scala
    Stéphane Lissner, Intendant der Mailänder Scala (AP)
    "Ich habe versucht, am Anfang zwei Dinge zu erreichen. Zunächst musste ich die Mitarbeiter und Techniker auf eine gemeinsame Linie einschwören, weil ich ohne sie nichts erreicht hätte. Und dann ging es darum, das Theater zu professionalisieren und in der Auseinandersetzung mit den Bühnen von New York, London, Paris oder Wien fit zu machen."
    Vieles ist Stéphane Lissner in seiner Zeit als Intendant der Scala gelungen. Er hat das Haus mit einem Etat von gegenwärtig rund 110 Millionen Euro trotz der teils aberwitzigen Kürzungen öffentlicher Zuschüsse saniert und immer ausgeglichene Bilanzen vorgelegt. Es gibt inzwischen rund 280 Vorstellungen im Jahr bei etwa 450 000 Besuchern, darunter 17 000 Abonnenten.
    Doch Lissner hat die Bühne auch mit Hilfe von Dirigenten wie Daniel Barenboim und Regisseuren wie Claus Guth oder dem kürzlich verstorbenen Patrice Chéreau gegen einen konservativen Publikumsgeschmack vor allem künstlerisch weiter entwickeln können. Seine Bilanz, wenn er im Spätsommer kommenden Jahres die Leitung des Hauses an den Österreicher Alexander Pereira übergibt, klingt selbstbewusst:
    "Ich hinterlasse, glaube ich, ein Theater, das internationaler geworden ist, das ein mehr jugendliches Publikum anzieht und eine professionelle Arbeitsmethode entwickelt hat, um künftige Krisen durchzustehen."
    Denn Krisen werden auf die Bühne zukommen, davon ist der scheidende Intendant überzeugt, weil sie im italienischen Opernsystem geradezu politisch angelegt sind. Noch könne die Scala eine herausragende Rolle spielen, aber um sie herum sinke in Italien das künstlerische Niveau.
    "Es versteht sich von selbst, dass die Qualität nachlässt, weil der Staat die Unterschiede zwischen den verschiedenen Opernstiftungen des Landes nicht anerkennen will und die Regeln und Zuschüsse jedes Jahr verändert, weil man zum Beispiel politisch Bari helfen will. Bari geht’s besser, also helfen wir husch, husch Florenz. Florenz sieht Land, schwups gehen die Gelder nach Neapel, Neapel – das kann doch nicht gut gehen. Das ist die Grundsünde Italiens, dass man hier keine Zukunftsvisionen für das Opernsystem der kommenden zehn Jahre entwickelt und nur immer an die nächsten zehn Tage denkt."
    So wursteln sich die Italiener weiter durch und glauben, dass es genügt, eine große Operntradition zu besitzen. Wie der Zwischenrufer, als am Sonnabend zu Beginn der Vorstellung gerade die Nationalhymne verklungen war:
    "Viva Verdi! Viva Verdi!"