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Nationale Symbolfigur und politischer Realist

Was Wagner für die Deutschen war, wurde er für die Italiener: der Komponist Giuseppe Verdi - Schlüsselfigur musikalischer wie nationaler Identität im 19. Jahrhundert. Seine Opern handeln vom Drama des Individuums um Selbstbestimmung. Seine emotionale Kunst der Melodie behält bis heute ihre Faszination.

Von Wolfgang Schreiber | 10.10.2013
    Verdis berühmtestes Stück ist auch sein am meisten missverstandenes. Der Triumphmarsch aus der Ägypten-Oper "Aida" ist eine pompöse Musik der Sieger, gern gespielt bei Staats- und Sportaktionen. Aber eigentlich ist er nur Maskerade, Reichsparteitagsmusik. Die Ägypter haben die Äthiopier bezwungen – am Ende stirbt ein junges Liebespaar, zermalmt im Räderwerk von Staat und Kirche.

    Die Stoßkraft von Verdis Musikdramen der extremen Gefühle, ihr Wahrheitsgehalt, kann uns noch immer berühren. Menschen erleiden ihr tragisches Schicksal auf der Bühne. Der Realist Verdi kann mit seinem geraden Blick aufs Leben vor dem Mythologen Wagner bestehen, dem einzigen Gegenspieler. Beide wurden im selben Jahr geboren.

    Am 10. Oktober 1813 – vielleicht, sagen Historiker, auch am Tag davor - kommt Giuseppe Verdi in dem Dorf Róncole bei Parma zur Welt. Sein Talent zeigt sich früh. Mit fünfundzwanzig zieht es ihn nach Mailand - an der Scala wird seine erste Oper "Oberto" aufgeführt, die zweite ist ein Misserfolg. Der Tod rafft Frau und Kinder hinweg. Doch dann gelingt Verdi mit "Nabucco" der große Wurf, der Marsch durch Italiens Opernhäuser beginnt. Innerhalb nur eines Jahrzehnts schreibt er mehr als ein Dutzend Opern – "meine Galeerenjahre" nennt Verdi später den Kampf um Kunst und Anerkennung.

    Die gefangenen Hebräer in Nabucco rufen nach der Freiheit, ähnlich ringt das von Franzosen und Österreichern besetzte Italien damals um seine Identität. In der Tat steckt in Verdis Laufbahn europäische Geschichte – im ersten Parlament Italiens sitzt er kurzzeitig als Abgeordneter. Verdi wird zur nationalen Symbolfigur. In ganz Europa erkennt man die politische Energie seiner Opern, in "Troubadour", "Maskenball", "Simon Boccanegra", da toben die Kämpfe des Individuums um seine Selbstbestimmung.

    Die emotionale Direktheit in Verdis Bühnenwerken war Motor seiner internationalen Erfolge, in Paris, London und St. Petersburg, in Wien, in Berlin. Aber bei allem Jubel des bürgerlichen Publikums fühlte Verdi sich stets als der einfache, der ehrliche Landwirt, der in den elementaren Dingen des Lebens zu Hause war. Im Brief an seinen Verleger Giulio Ricordi schreibt Verdi.

    "Für den Sänger wünschte ich: dass der junge Mensch, ohne dass ein Lehrer ihm gesangliche Zierereien beibrächte, musikalisch sicher und mit geschmeidiger Kehle nur nach seinem eigenen Gefühl sänge. Das wäre kein Gesang der Schule, sondern der Inspiration. Der Künstler wäre ein Individuum, er wäre … im Musikdrama die Persönlichkeit, die er darstellen sollte."

    Der Sänger als Medium der Emotion - Verdis Ideal. Der Komponist Luciano Berio verglich einmal Verdis dramatische Kraft mit der William Shakespeares. Dass Verdi im hohen Alter noch zwei grandiose Shakespeare-Opern schrieb, "Otello" und "Falstaff", zeugt von höchster Kreativität. Verdis Musiktheater einer nervösen Welthaltigkeit, der tiefen menschlichen Konflikte und Emotionen, ist in den Opernhäusern der Welt zu Hause. Im Land Richard Wagners wurde Verdi erst nach 1920 entdeckt. Er selbst erlebte noch knapp das 20. Jahrhundert, Giuseppe Verdi starb am 27. Januar 1901.