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Majakowskis "Der fliegende Proletarier"
Eine sowjetsozialistische Utopie

Mit dem dritten Band, dem "Fliegenden Proletarier" von Wladimir Majakowski wurde einen Schatz gehoben. Denn bislang hatten die deutschsprachigen Majakowski-Übersetzer dieses Langgedicht außer Acht gelassen.

Von Brigitte van Kann | 25.09.2015
    Eine Büste des russischen Dichters Waldimir Majakowski im Museum in Moskau.
    Wladimir Majakowski gilt als bedeutendster Dramatiker und Lyriker des russischen Futurismus. (picture-alliance/ dpa/ ITAR-TASS / Alexandra Mudrats)
    Die meisten deutschsprachigen Leser kennen den russischen Dichter Wladimir Majakowski aus der roten Suhrkamp-Werkausgabe von 1980 – mit den Übersetzungen des damals in Wien lebenden Dichters Hugo Huppert, der Majakowski noch persönlich gekannt hatte. In der editorischen Notiz heißt es lapidar, die deutsche Werkausgabe enthalte alle abgeschlossenen und bedeutenden Poeme des großen Russen, nicht jedoch den "Fliegenden Proletarier". Für den Ausschluss dieses 1925 in einem sowjetischen Luftfahrt-Verlag publizierten Textes bleiben Herausgeber Kossuth und Nachdichter Huppert allerdings jede Erklärung schuldig.
    Sollte Huppert, Zeit seines Lebens ein überzeugter Kommunist und Parteigänger des Sowjetregimes, diesen Text etwa aus politischem Kalkül nicht in die Werkausgabe aufgenommen haben? Wohl kaum, denn das "Agit-Poem", wie Majakowski es selbst nannte, ist durchaus auf Linie. Bleibt nur zu vermuten, dass der linientreue Nachdichter den luftig-verspielten Text nicht neben einen anderen Majakowski-Poem des Jahres 1925 sehen wollte, das "Wladimir Iljitsch Lenin" heißt und in toto von diesem handelt.
    In seinem "Fliegenden Proletarier" entfaltet der russische Dichter eine sowjetsozialistische Utopie, ein Bild, wie die Welt unter diesem Vorzeichen im Jahre 2125 aussehen könnte. Eingangs rechtfertigt der Dichter sein in die Zukunft gerichtetes Interesse: In der "Prawda" stehe die Wahrheit – "prawda" heißt ja Wahrheit – in der Iswestija – zu deutsch: die Nachrichten – stehe das Neue:
    "Der Dichter / aber sichtet / auch das / was erst in zweihundert / Jahren ist /oder – gut hundert."
    Es geht los mit einem furiosen Luftkrieg zwischen den Amerikanern und dem unter dem Sowjetbanner vereinten Europa und Asien:
    "Vorwärts! / Über Wolkenhügel! / Ziehen wir / im Schwingenglanz. / Wir sind die Flieger / für die Republik / des Arbeiter- und Bauernstands."
    Das imperialistische Amerika ist natürlich der Aggressor.
    "Amerika – wo sich die gestürzte Bourgeoisie verschottet – erhebt / gegen uns / seine Luftstreitflotte. / Sie kriegen die Arbeiterklasse / nicht unters Gras. Hände – ans Steuer! / Augen – aufs Gas! "
    Es versteht sich von selbst, dass der Kampf nicht im gewöhnlichen Luftraum, sondern interstellar stattfindet:
    "Minuten .../ Tage ... / Wochen ... /sie flogen. / Durch Sonnenzonen, / durch Schwärme von Monden / sie flogen."
    Literarisches Nachbeben des Ersten Weltkriegs
    Star Wars aus der Perspektive von 1925. Gekämpft wird mit Strahlen und Gas, ein literarisches Nachbeben des Ersten Weltkriegs, in dem erstmals in der Geschichte Kampfgas und Flugzeuge eingesetzt wurden. Es ist ein Kampf um die zukünftige Ordnung der Welt. Die feindlichen Maschinen zieren drei schwarze Ks für den Ku-Klux-Klan und – wie es bei Majakowski heißt – "faschistische Krakelkringel". Es sind Moskauer Flieger und amerikanische Revolutionäre, die schließlich gemeinsam den Sieg erringen und mehr als das:
    "Frieden! / Die Völker / stehen nicht mehr im Kampf. / Ein Vivat / für diese Minute! Die Große / Amerikanische Föderation / steht an der Seite / der Sowjets und ihrer Union! "
    Majakowski ließ in seinem utopischen Poem "Der fliegende Proletarier" noch einmal die Idee der Weltrevolution aufleben. Und natürlich erlag der Dichter wie viele seiner sowjetischen Kollegen der Faszination des Fliegens und der Begeisterung für den Kosmos: Die Kunst der russischen Avantgarde feierte geradezu die Eroberung des Luftraums durch den Menschen und nahm Kurs auf das All.
    Dem Futuristen Wassili Kamenski, der zugleich Dichter und Pilot war, wird das genuin russische Wort für Flugzeug zugeschrieben: "samoljot" – wörtlich: der Selbstflieger – ein Begriff, der schnell das Fremdwort "aeroplan" ersetzte.
    Die Suprematisten um Malewitsch drangen gedanklich in die siebte Dimension vor und entwarfen Modelle, die die Eroberung des Weltraums vorwegnahmen. 1924 hatte der sowjetische Stummfilm "Aelita" Premiere, in deutschen Kinos lief er unter dem Titel "Der Flug zum Mars", einer der ersten Science-Fiction-Filme überhaupt. Dem technischen Fortschritt im Alltag huldigt der Dichter im zweiten Kapitel seines Poems, wo er den Tagesablauf eines Werktätigen im neuen friedlichen, weltumspannenden Sowjetreich schildert. Schon die Morgentoilette ist ein Wunder an Automation:
    "Schlaftrunken / aber flugs / in der Spur / drückt der Bürger den Knopf / zur Elektrorasur. / In einer Minute – frisiert / ein so / glattes Kinn / kriegt selbst Genossin Venus / von Milo nicht hin. / Den Stecker zur Buchse / und Lippen gewendet: und die Strombürste – / zzupp! – / bringt ein Lachen, das blendet."
    Schöne neue Welt
    Unser Mann aus der Zukunft fährt nicht zur Arbeit, er fliegt, denn es gibt nur noch Luftverkehr. Die Arbeit nimmt nur noch vier Stunden in Anspruch, und sie ist leicht und sauber – "es reicht, die richtigen Tasten zu tippen". Mittagessen gibt es aus der "fliegenden Volkskantine", den Abwasch erledigt ein "Selbstspülprogramm"... Eine "schöne, neue Welt", in der Menschheitsträume wahr werden, offenbar ganz ohne die Kontrolle, Repression und Entmenschlichung, die Majakowskis britischer Kollege Aldous Huxley sieben Jahre später in seiner Dystopie "Brave new world" als Gefahr eines konsequent zu Ende gedachten technischen Fortschritts an die Wand malte.
    Vieles von dem, was der russische Dichter sich in einer Utopie vom "Fliegenden Proletarier" erträumte, ist heute schon Wirklichkeit. Vieles noch nicht – da kann das Poem vielleicht den ein oder anderen Tüftler inspirieren. Wladimir Majakowski, der mit seiner Existenz auf Erden haderte und sich im April 1935 das Leben nahm, forderte zumindest sein Publikum dazu auf, nach den Sternen zu greifen:
    "Einen Lebtag / auf Flügeln / den gibt's nicht bis dato. / Und auch nicht / in Kürze / jubeln wir: / "Alles soweit!" / Ich aber – / als Zukunftsweltagitator – / bringe euch heute / einen kleinen Schritt / voraus in die Zeit."
    Wladimir Majakowski: " Der fliegende Proletarier", Edition Revers, Verlagshaus J. Frank, Berlin 2014, 14,90 Euro. In der Übersetzung aus dem Russischen von Boris Preckwitz
    (Edition ReVers)