Freitag, 03. Mai 2024

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"Man fürchtet alles. Man vermischt vieles."

Der französische Politologe Alfred Grosser betont, dass ein "gewaltiger Unterschied" sei, ob die Parlamente oder das Volk zur EU-Verfassung befragt werden. In einem Referendum werde vieles vermischt und ein guter Teil der Nein-Stimmen habe nichts mit dem Vertrag selbst zu tun, sondern wolle "es denen oben mal zeigen". Allerdings sei das Interesse für den Inhalt des Vertrages bei der franzosischen Bevölkerung inzwischen viel stärker als in Deutschland.

Moderation: Dirk Müller | 13.05.2005
    Dirk Müller: Wir sind die Musterknaben Europas. Diese durchaus selbstbewusste Aussage ist immer wieder zu hören auf den Parlamentsfluren, in Hintergrundgesprächen, hin und wieder sogar in offiziellen Interviews. Wir, damit sind wir, die Deutschen gemeint oder zumindest die deutsche Politik, die deutschen Politiker. Gestern nun war wieder einmal so ein Tag. Die europäische Verfassung brauchte grünes Licht und sie hat es klipp und klar bekommen vom deutschen Bundestag mit überwältigender Mehrheit. Die eine oder andere Gegenstimme, die im Vorfeld für reichlich viel Tammtamm gesorgt hatte, fällt da wohl nicht weiter ins Gewicht. Nächste Woche entscheidet noch der Bundesrat, aber auch da wohl kein Grund zur Sorge, jedenfalls aus Sicht der Pro-Europäer. Diese jedoch sorgen sich um Frankreich, um die Volksabstimmung der Franzosen Ende des Monats, denn die Umfragen verheißen bislang nichts Gutes. - Am Telefon sind wir nun verbunden mit dem französischen Politologen Alfred Grosser. Guten Morgen nach Paris!

    Alfred Grosser: Guten Morgen.

    Müller: Herr Grosser, gibt das nun Rückenwind für die "Grand Nation"?

    Grosser: "Grand Nation" sagt man nur in Deutschland. In Frankreich sagt man das nie; man denkt es nur. - Nein, ich glaube ein bisschen Rückenwind schon. Vor allen Dingen möchte ich heute darauf hinweisen, dass es in Deutschland keine Rechts- und Linksstimme gibt zum Vertrag, sondern deutsche Stimmen zu einem europäischen Vertrag. Hier ist ein guter Teil der Diskussion damit befasst: Ich kann doch nicht mit den Rechten stimmen oder ich kann doch nicht mit den Linken stimmen. Wenn die beiden auch noch zusammen auf einem Bild sind, dann wird schon gezetert.

    Müller: Herr Grosser, hat denn diese Abstimmung im Bundestag gestern eine gewichtige Rolle in den französischen Medien, in der Berichterstattung gespielt?

    Grosser: Das ist ein Element unter anderen. Österreich hat auch beinahe einstimmig gestimmt und alle, die gestimmt haben, haben dafür gestimmt. Als Volksbefragung ist bis jetzt aber eigentlich nur Spanien da gewesen und da gibt es doch einen gewaltigen Unterschied, ob es die Parlamente sind oder ob es eine Volksabstimmung ist. Hier wird ein guter Teil des Nein dadurch bestellt werden, dass viele Leute sagen, man wird es denen oben mal zeigen, indem man mit Nein stimmt. Aber das hat mit dem Vertrag dann nichts zu tun, sondern nur mit dem Unmut.

    Müller: Ein Unmut, der nicht sagt, wie Sie sagen, dass die Franzosen plötzlich europaskeptisch, -kritisch, -feindlich geworden sind?

    Grosser: Kritisch doch. Man fürchtet alles. Man vermischt vieles. Ein guter Teil der Bevölkerung lernt aber auch den Vertrag kennen. Es hat fünf oder sechs Bücher gegeben über den Vertrag. Jedes hat einen Verkauf von über 100.000 bis zu 200.000 Exemplaren gehabt. Das beweist, dass doch Hunderttausende, Millionen vielleicht sich eigentlich für den Vertrag interessieren, was in Deutschland nicht der Fall ist.

    Müller: Herr Grosser, warum tun sich dennoch die Franzosen so schwer mit dieser politischen Auseinandersetzung EU-Vertrag?

    Grosser: Weil man den Eindruck hat, der Ultraliberalismus siegt. Wenn man zum Beispiel die deutsche Presse liest, was die Reaktionen auf Müntefering gewesen sind, dann kann man nur die Skepsis teilen, was viele französische Wähler finden, dass dieser Ultraliberalismus, der in der FAZ und im Handelsblatt steht, nicht der europäische sein soll, und man glaubt, der Vertrag legt diesen Ultraliberalismus fest, was nicht stimmt.

    Müller: Was versteht man denn in Frankreich unter diesem Ultraliberalismus?

    Grosser: Ja, dass es zum Beispiel normal ist, wenn die deutsche Börse übernommen wird von Investment-Fonds, die nur an Gewinn denken und nicht an wirtschaftliche Entwicklung, und dass Herrn Ackermann so viel gezahlt wird, dass man Leute zu Tausenden entlässt, während die Großen oben viel Bezahlung bekommen. Das sind Finanzkapitalismus-Erscheinungen, die mit dem Wirtschaftskapitalismus eigentlich wenig zu tun haben.

    Müller: Das bedeutet: Franz Müntefering hätte derzeit gute Wahlchancen in Frankreich?

    Grosser: Wahlchancen nicht, aber unsere konservativen Minister sagen ungefähr dasselbe, was er sagt.

    Müller: Wie schlägt sich denn, Herr Grosser, die politische Klasse, die politische Elite in Frankreich im Werben für die Verfassung?

    Grosser: Jetzt endlich! Ich würde sagen: Jetzt endlich! Denn wie in Deutschland - in Deutschland ist es nicht unterschiedlich - haben die Medien, ich betone die Medien, die Parteien und die Regierung wenig getan, um den Wählern zu erklären, was Europa eigentlich schon ist. Das ist in Deutschland auch nicht geschehen. Man denkt nur an die böse Kommission in Brüssel, die viel Gutes tut. Was wäre zum Beispiel die technische Entwicklung der neuen Länder ohne das europäische Geld, das bestimmt wird in der Verteilung von der Kommission. Was wird aus der französischen Landwirtschaft ohne das europäische Geld und so weiter. Was haben wir schon an gemeinsamen Regeln und Gesetzen? Das ist enorm, aber wer hat das je erklärt. Das böse Brüssel muss dafür dastehen, dass die Regierungen sagen, das gute Berlin und das gute Paris.

    Müller: Wie groß ist denn die Sorge der Franzosen, tatsächlich immer mehr - und das ist bei jedem Vertrag ja so; jetzt geht es immerhin um eine Verfassung, um einen umfassenden Vertrag, wie er bisher noch nicht da gewesen ist - Souveränitätsrechte nach Brüssel zu verlieren?

    Grosser: Da geht es doppelt. Man weiß nicht genau, was zum Beispiel die Sozialisten, die für das Nein sind, eigentlich wollen. Einerseits sagen sie, Frankreich gibt sich auf, und andererseits, diese Verfassung ist nicht supernational genug. Beides zusammen ist natürlich ein Widerspruch, aber dem stehen sie.

    Müller: Reden wir über den Präsidenten. Macht Jacques Chirac in dieser Debatte eine gute Figur?

    Grosser: Ja. Er ist spät gekommen, hat in einem Interview, einem Gespräch mit Jugendlichen gezeigt, dass er eigentlich von der wirklichen Gesellschaft von Frankreich nichts weiß. Er entdeckte in diesem Gespräch, dass Jugendliche Zukunftssorgen haben, was wirklich spät ist nach zehn Jahren Präsidentschaft. Er ist ja in der Vergangenheit sehr widersprüchlich über Europa gewesen. Jetzt kämpft er und hat ein Hauptargument, das das Ja mitbestimmen könnte. Auch wenn es Nein ist, wird er nicht zurücktreten. Wenn er sagen würde, ich trete zurück, wenn Nein kommt, dann würde das Nein 60 oder 70 Prozent bekommen, denn so viele Leute möchten ihn weg haben.

    Müller: Das hört sich so an, Herr Grosser, als würden Sie, wenn Sie es denn könnten und müssten, den führenden Politikern in Frankreich mit Blick auf diese EU-Debatte ganz schlechte Noten verteilen?

    Grosser: Genau! Das tue ich auch auf beiden Seiten. Die, die für ein Ja sind, kämpfen jetzt spät. Sie kämpfen jetzt gut, aber sie kämpfen spät. Die Unterrichtung der Wähler, was eigentlich dieses Europa ist, das ist weder in Frankreich noch in Deutschland erfolgt.

    Müller: Wir müssen zum Schluss des Gesprächs noch einmal ganz kurz spekulieren. Sie sagen, sie kämpfen sehr spät. Ist es zu spät?

    Grosser: Das kann man nicht sagen. Wenn man den demoskopischen Untersuchungen vertrauen kann, dann steht es momentan fifty-fifty. Dann geht es um ein oder zwei Prozent. Das kann niemand sagen, wie das in den letzten Wochen ausgeht. Es können Ereignisse geschehen, von denen man nichts weiß. Jetzt gab es zum Beispiel im Parlament in Straßburg eine Debatte über die 40-Stunden-Woche und man entdeckte, dass die Kommission vorgeschlagen hatte, es sind nicht unbegrenzte Arbeitsstunden. Dann heißt es wieder, dann kommen die ausländischen Arbeiter und die arbeiten viel mehr als unsere, wenn sie dieselben Bedingungen erfüllen wie bei uns, wo sie doch anders arbeiten. Das fürchten wir und diese Ängste gibt es auch in Deutschland. Ich glaube sie sind unberechtigt, aber die gibt es.