Dirk Müller: Ein Rechtsruck in Ungarn, ein Rechtsruck in den Niederlanden und nun an diesem Wochenende auch ein Rechtsruck in Belgien. Ein Erdrutschsieg, ein historischer Sieg für die flämischen Separatisten unter der Führung des populären Bart De Wever. Eine Wahlkatastrophe dagegen für die regierenden Christdemokraten. Die siegreiche neue flämische Allianz von Bart De Wever, kurz N-VA, steht für die Trennung des Landes und für eine rechtskonservative Politik, so dass viele Beobachter vor allem auch in der Europäischen Union schon resigniert die Augen schließen. In der Französisch sprechenden Wallonie haben jedoch die Sozialisten die Nase vorn. So wird es mal wieder äußerst kompliziert in Belgien in den kommenden Wochen und Monaten, eine stabile Regierung zu finden, nachdem X Regierungsbündnisse in den vergangenen Jahren am Sprachenkonflikt bereits auseinandergebrochen waren. Rechtsruck in Belgien, darüber sprechen wollen wir nun mit Karl-Heinz Lambertz, Regierungschef der deutschsprachigen Minderheit in Belgien. Guten Morgen nach Eupen.
Karl-Heinz Lambertz: Guten Morgen!
Müller: Herr Lambertz, sind die Belgier gar keine Belgier?
Lambertz: Die Belgier sind Belgier, aber was heißt es, Belgier sein. Man ist entweder Flame, Wallone, Brüsseler, oder deutschsprachiger Belgier, und das alles zusammen macht dann die belgische Vielfalt aus.
Müller: Und die soll auch so bleiben?
Lambertz: Die soll auch so bleiben, die wird auch so bleiben, und man kann auch nicht von einem Rechtsruck eigentlich reden, wenn man sich die Zahlen etwas genauer anschaut. Es hat in Belgien in den beiden großen Sprachgemeinschaften klare Veränderungen gegeben. In Flandern sind die flämischen Nationalisten jetzt stärker geworden. Aber insgesamt hat das Mitte-Rechts-Spektrum in Flandern sich dadurch nicht verändert, denn der Wahlsieg von Herrn De Wever geht im Wesentlichen zu Lasten der Rechtsradikalen von Vlaams Belang sowie der Liberalen und der Christdemokraten, die auch im Wesentlichen im Mitte-Rechts-Spektrum in Flandern orientiert sind. Da hat es eine interne Verschiebung gegeben.
Müller: Herr Lambertz, Sie kennen sich da zweifellos besser aus. Das heißt, wir können festhalten, Belgien ist liberaler geworden?
Lambertz: Es hat sich in Belgien auf flämischer Seite diese Partei, die für eine größere, stärkere Autonomie Flanderns ist, stärker durchgesetzt, aber auch das ist eine Partei, die sich im Mitte-Rechts-Spektrum ansiedelt und eigentlich nicht das globale Verhältnis dort geändert hat.
Müller: Also zumindest ein Rechtsruck in Flandern?
Lambertz: Eine Verschiebung innerhalb der Mitte-Rechts-Parteien in Flandern. Insgesamt, wenn man schon nach diesem Spektrum Rechts-Links arbeitet, sind die Mitte-Rechts-Parteien in Flandern insgesamt nicht stärker geworden. Nur innerhalb der Mitte-Rechts-Parteien ist die NVA stärker geworden.
Müller: Wird das politische Konsequenzen haben?
Lambertz: Das wird natürlich politische Konsequenzen haben, weil ja das Problem, für das die NVA steht und wegen dem sie jetzt die Wahl auch gewonnen hat in Flandern, das der Föderalismusreform ist, und da geht es weniger um rechts und links übrigens, da geht es darum, welches Gleichgewicht in Belgien zwischen der Bundesebene und der Landesebene zustande kommt. Da ist Flandern insgesamt der Meinung, dass man die bisherige Situation weiter fortentwickeln muss im Hinblick auf mehr Verantwortung und Zuständigkeiten für die Gliedstaaten. Auf der französischsprachigen Seite war das bisher so, dass dort eher Zurückhaltung herrschte, man eigentlich mit dem jetzigen Stand des belgischen Föderalismus zufrieden war. Das hat sich aber im Laufe der letzten drei Jahre doch geändert. Da sind die Abwehrhaltungen, die auch 2007 das Wahlgeschehen bestimmt haben, nach und nach doch zu der Einsicht gewachsen, dass eine weitere Entwicklung notwendig ist, wenn man das Land aufrecht erhalten will, und das zumindest ist jetzt klar. Sowohl auf flämischer Seite als auch auf frankophoner Seite besteht die Bereitschaft, eine weitere Fortführung des belgischen Föderalismus anzupacken und dieses Land dann in die Richtung weiterzuentwickeln, wo es schon seit nun doch 30 Jahren hinfährt, nämlich zu einem Bundesstaat mit ziemlich zentrifugalen Konzepten, mit einer großen Verantwortung für die jeweiligen Gemeinschaften und Regionen. Ganz wichtig ist übrigens, dass das belgische Parteiensystem so aufgebaut ist, dass es keine Bundesparteien gibt. Also sitzen am Tisch regionale Landesparteien und die müssen sich jetzt zusammenraufen.
Müller: Herr Lambertz, Weiterentwicklung des föderalen Modells, sagen Sie. Heißt das dann in der Praxis und vor allen Dingen auch für die Bevölkerung, der Norden wird reicher und der Süden ärmer?
Lambertz: Nein, das ist völlig falsch und die Entwicklung ist momentan übrigens eher umgekehrt. In den letzten Jahren hat die Wallonie ganz mächtig aufgeholt auch. Das Problem zwischen Flamen und Wallonen ist, dass im Laufe der Geschichte das Kräfteverhältnis sich gewandelt hat. Zu Beginn des belgischen Staates waren die Frankophonen die stärkeren mit einer großen Stahl- und Kohleindustrie und das flämische Gebiet war ein armes ländliches. Mittlerweile sind die Flamen stärker und die Wallonen mehr in einer Strukturkrise. Aber im Wesentlichen geht es darum, dass jeder mehr für seine eigenen Dinge Verantwortung übernimmt, und es geht natürlich auch darum, wie man den Finanzausgleich gestaltet. Übrigens sind die Flamen insgesamt und die NVA im Besonderen nicht gegen Solidarität; sie wollen nur eine transparentere Formel der Solidarität und sie wollen die Finanzflüsse eingrenzen und verändern. Das ist ein typisches Thema in jedem Bundesstaat. Wenn es um den Finanzausgleich geht, hört meistens die Freundschaft auf, und das ist in Belgien nicht anders. Ich habe aber auch schon ähnliche Diskussionen in anderen Ländern gesehen. Wenn Bayern und Nordrhein-Westfalen über Finanzausgleich diskutieren, ist das auch nicht immer das große Freude- und Freundschaftstreffen.
Müller: Es ist ja auch so, dass die Nordrhein-Westfalen sich manchmal als die Wallonen Deutschlands fühlen, im Vergleich zu Bayern. Herr Lambertz, kommen wir darauf noch mal zurück. Sie relativieren aus Ihrer Beobachtung heraus die möglichen politischen Konsequenzen. Sie sagen, über den Finanzausgleich muss geredet werden. Wir haben eben von unserer Korrespondentin Doris Simon aus Brüssel gehört, die NVA, die neue siegreiche Partei, will ein Ende des Finanzausgleichs, und das würde doch ...
Lambertz: Das stimmt so nicht. Das kann ich bei allem Respekt vor Ihrer Mitarbeiterin so nicht stehen lassen. Die Flamen insgesamt und die N-VA im Besonderen wollen den Finanzausgleich verändern, sie wollen überhaupt den belgischen Föderalismus dahingehend erweitern, dass die Gliedstaaten mehr Verantwortung auch für ihre Einnahmen haben – das setzt die Veränderung des Finanzierungssystems voraus – und sie sagen, wenn Finanzausgleich, dann muss der transparenter sein und dann muss er vor allem auch zeitlich anders aufgebaut werden.
Müller: Und das würde in der Folge zu keiner größeren finanziellen Trennung der einzelnen Landesteile führen?
Lambertz: Es wird so sein, wenn die Vorstellungen der NVA und auch der anderen flämischen Parteien übrigens sich umsetzen, dass der belgische Föderalismus zwei Veränderungen kennt. Erstens: es wird mehr Zuständigkeiten für die Gliedstaaten geben. Und zweitens: man wird ihnen auch mehr Verantwortung für die eigenen Einnahmen übertragen. Das heißt, sie werden mehr Einfluss auf die Einnahmen der Steuern haben, indem sie sie erhöhen, oder auch verringern können. Man will also die Aufgaben im Bereich des Steueraufkommens neu verteilen. Und dann wird man auch festlegen, welche Art von Solidarität da ist. Aber wichtig ist, dass man in Belgien eh nichts ändern kann, auch nach dieser Wahl nicht, wenn es keinen Konsens gibt. Alle Änderungen müssen sowohl eine Mehrheit in der französischen und auch in der flämischen Sprachgruppe im Parlament finden. Also wird man sich da an den Tisch setzen müssen und verhandeln. Das wird jetzt bestimmt nicht einfacher, aber die Bereitschaft zu verhandeln und die Erkenntnis, dass es notwendig ist, eine zielorientierte Verhandlung zu führen, die ist am vorigen Sonntag in allen Landesteilen sehr viel größer geworden.
Müller: Bei uns im Deutschlandfunk heute Morgen Karl-Heinz Lambertz, sozialistischer Regierungschef der deutschsprachigen Minderheit in Belgien. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.
Lambertz: Auf Wiederhören!
Karl-Heinz Lambertz: Guten Morgen!
Müller: Herr Lambertz, sind die Belgier gar keine Belgier?
Lambertz: Die Belgier sind Belgier, aber was heißt es, Belgier sein. Man ist entweder Flame, Wallone, Brüsseler, oder deutschsprachiger Belgier, und das alles zusammen macht dann die belgische Vielfalt aus.
Müller: Und die soll auch so bleiben?
Lambertz: Die soll auch so bleiben, die wird auch so bleiben, und man kann auch nicht von einem Rechtsruck eigentlich reden, wenn man sich die Zahlen etwas genauer anschaut. Es hat in Belgien in den beiden großen Sprachgemeinschaften klare Veränderungen gegeben. In Flandern sind die flämischen Nationalisten jetzt stärker geworden. Aber insgesamt hat das Mitte-Rechts-Spektrum in Flandern sich dadurch nicht verändert, denn der Wahlsieg von Herrn De Wever geht im Wesentlichen zu Lasten der Rechtsradikalen von Vlaams Belang sowie der Liberalen und der Christdemokraten, die auch im Wesentlichen im Mitte-Rechts-Spektrum in Flandern orientiert sind. Da hat es eine interne Verschiebung gegeben.
Müller: Herr Lambertz, Sie kennen sich da zweifellos besser aus. Das heißt, wir können festhalten, Belgien ist liberaler geworden?
Lambertz: Es hat sich in Belgien auf flämischer Seite diese Partei, die für eine größere, stärkere Autonomie Flanderns ist, stärker durchgesetzt, aber auch das ist eine Partei, die sich im Mitte-Rechts-Spektrum ansiedelt und eigentlich nicht das globale Verhältnis dort geändert hat.
Müller: Also zumindest ein Rechtsruck in Flandern?
Lambertz: Eine Verschiebung innerhalb der Mitte-Rechts-Parteien in Flandern. Insgesamt, wenn man schon nach diesem Spektrum Rechts-Links arbeitet, sind die Mitte-Rechts-Parteien in Flandern insgesamt nicht stärker geworden. Nur innerhalb der Mitte-Rechts-Parteien ist die NVA stärker geworden.
Müller: Wird das politische Konsequenzen haben?
Lambertz: Das wird natürlich politische Konsequenzen haben, weil ja das Problem, für das die NVA steht und wegen dem sie jetzt die Wahl auch gewonnen hat in Flandern, das der Föderalismusreform ist, und da geht es weniger um rechts und links übrigens, da geht es darum, welches Gleichgewicht in Belgien zwischen der Bundesebene und der Landesebene zustande kommt. Da ist Flandern insgesamt der Meinung, dass man die bisherige Situation weiter fortentwickeln muss im Hinblick auf mehr Verantwortung und Zuständigkeiten für die Gliedstaaten. Auf der französischsprachigen Seite war das bisher so, dass dort eher Zurückhaltung herrschte, man eigentlich mit dem jetzigen Stand des belgischen Föderalismus zufrieden war. Das hat sich aber im Laufe der letzten drei Jahre doch geändert. Da sind die Abwehrhaltungen, die auch 2007 das Wahlgeschehen bestimmt haben, nach und nach doch zu der Einsicht gewachsen, dass eine weitere Entwicklung notwendig ist, wenn man das Land aufrecht erhalten will, und das zumindest ist jetzt klar. Sowohl auf flämischer Seite als auch auf frankophoner Seite besteht die Bereitschaft, eine weitere Fortführung des belgischen Föderalismus anzupacken und dieses Land dann in die Richtung weiterzuentwickeln, wo es schon seit nun doch 30 Jahren hinfährt, nämlich zu einem Bundesstaat mit ziemlich zentrifugalen Konzepten, mit einer großen Verantwortung für die jeweiligen Gemeinschaften und Regionen. Ganz wichtig ist übrigens, dass das belgische Parteiensystem so aufgebaut ist, dass es keine Bundesparteien gibt. Also sitzen am Tisch regionale Landesparteien und die müssen sich jetzt zusammenraufen.
Müller: Herr Lambertz, Weiterentwicklung des föderalen Modells, sagen Sie. Heißt das dann in der Praxis und vor allen Dingen auch für die Bevölkerung, der Norden wird reicher und der Süden ärmer?
Lambertz: Nein, das ist völlig falsch und die Entwicklung ist momentan übrigens eher umgekehrt. In den letzten Jahren hat die Wallonie ganz mächtig aufgeholt auch. Das Problem zwischen Flamen und Wallonen ist, dass im Laufe der Geschichte das Kräfteverhältnis sich gewandelt hat. Zu Beginn des belgischen Staates waren die Frankophonen die stärkeren mit einer großen Stahl- und Kohleindustrie und das flämische Gebiet war ein armes ländliches. Mittlerweile sind die Flamen stärker und die Wallonen mehr in einer Strukturkrise. Aber im Wesentlichen geht es darum, dass jeder mehr für seine eigenen Dinge Verantwortung übernimmt, und es geht natürlich auch darum, wie man den Finanzausgleich gestaltet. Übrigens sind die Flamen insgesamt und die NVA im Besonderen nicht gegen Solidarität; sie wollen nur eine transparentere Formel der Solidarität und sie wollen die Finanzflüsse eingrenzen und verändern. Das ist ein typisches Thema in jedem Bundesstaat. Wenn es um den Finanzausgleich geht, hört meistens die Freundschaft auf, und das ist in Belgien nicht anders. Ich habe aber auch schon ähnliche Diskussionen in anderen Ländern gesehen. Wenn Bayern und Nordrhein-Westfalen über Finanzausgleich diskutieren, ist das auch nicht immer das große Freude- und Freundschaftstreffen.
Müller: Es ist ja auch so, dass die Nordrhein-Westfalen sich manchmal als die Wallonen Deutschlands fühlen, im Vergleich zu Bayern. Herr Lambertz, kommen wir darauf noch mal zurück. Sie relativieren aus Ihrer Beobachtung heraus die möglichen politischen Konsequenzen. Sie sagen, über den Finanzausgleich muss geredet werden. Wir haben eben von unserer Korrespondentin Doris Simon aus Brüssel gehört, die NVA, die neue siegreiche Partei, will ein Ende des Finanzausgleichs, und das würde doch ...
Lambertz: Das stimmt so nicht. Das kann ich bei allem Respekt vor Ihrer Mitarbeiterin so nicht stehen lassen. Die Flamen insgesamt und die N-VA im Besonderen wollen den Finanzausgleich verändern, sie wollen überhaupt den belgischen Föderalismus dahingehend erweitern, dass die Gliedstaaten mehr Verantwortung auch für ihre Einnahmen haben – das setzt die Veränderung des Finanzierungssystems voraus – und sie sagen, wenn Finanzausgleich, dann muss der transparenter sein und dann muss er vor allem auch zeitlich anders aufgebaut werden.
Müller: Und das würde in der Folge zu keiner größeren finanziellen Trennung der einzelnen Landesteile führen?
Lambertz: Es wird so sein, wenn die Vorstellungen der NVA und auch der anderen flämischen Parteien übrigens sich umsetzen, dass der belgische Föderalismus zwei Veränderungen kennt. Erstens: es wird mehr Zuständigkeiten für die Gliedstaaten geben. Und zweitens: man wird ihnen auch mehr Verantwortung für die eigenen Einnahmen übertragen. Das heißt, sie werden mehr Einfluss auf die Einnahmen der Steuern haben, indem sie sie erhöhen, oder auch verringern können. Man will also die Aufgaben im Bereich des Steueraufkommens neu verteilen. Und dann wird man auch festlegen, welche Art von Solidarität da ist. Aber wichtig ist, dass man in Belgien eh nichts ändern kann, auch nach dieser Wahl nicht, wenn es keinen Konsens gibt. Alle Änderungen müssen sowohl eine Mehrheit in der französischen und auch in der flämischen Sprachgruppe im Parlament finden. Also wird man sich da an den Tisch setzen müssen und verhandeln. Das wird jetzt bestimmt nicht einfacher, aber die Bereitschaft zu verhandeln und die Erkenntnis, dass es notwendig ist, eine zielorientierte Verhandlung zu führen, die ist am vorigen Sonntag in allen Landesteilen sehr viel größer geworden.
Müller: Bei uns im Deutschlandfunk heute Morgen Karl-Heinz Lambertz, sozialistischer Regierungschef der deutschsprachigen Minderheit in Belgien. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.
Lambertz: Auf Wiederhören!