Samstag, 20. April 2024

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"Man kann durch Einwanderung keine Altersstrukturprobleme lösen."

Stefan Heinlein: Die deutsche Bevölkerung schrumpft. An dieser These zweifelt niemand. Der Bevölkerungsrückgang in den kommenden Jahrzehnten hat dramatische Konsequenzen für unsere Sozialsysteme. Zu wenig Kinder bedeutet auch zu wenig Beitragszahler. Nicht nur die Renten sind schon bald nicht mehr zu bezahlen. Ein Grund für die Politik, über ein neues Zuwanderungsgesetz nachzudenken. Seit Jahren wird verhandelt. Am Freitag endlich soll ein Kompromiss zwischen Regierung und Opposition gefunden werden. Die Chancen auf eine Einigung werden mittlerweile von allen Seiten als eher positiv beschrieben. Ein neues Zuwanderungsgesetz fordern unter anderem auch die Kirchen und die Wirtschaft, doch es gibt auch andere Meinungen. Der Bielefelder Bevölkerungswissenschaftler Professor Herwig Birk hält die Zuwanderung nicht für geeignet, um unsere demografischen Probleme zu lösen, und ihn begrüße ich jetzt am Telefon. Herr Professor Birk, Regierung und Opposition scheinen einer Einigung näher zu kommen. Glauben Sie, dass es einen Kompromiss geben wird?

Moderation: Stefan Heinlein | 10.03.2004
    Herwig Birk: Das hoffe ich nicht, denn die Linie, auf der verhandelt wird, könnte zwar zu einem Zuwanderungsgesetz führen, aber ob das mehr Probleme löst als es schafft, ist durchaus eine Frage.

    Heinlein: Was würden Sie sich denn wünschen von der Politik?

    Birk: Eine Klärung der Grundfrage, ob Deutschland wie in den letzten 30 Jahren auch in Zukunft die durch Tote ausscheidenden Generationen in diesem großen Umfang durch Einwanderungen ersetzen will, oder ob es nicht – was längst fällig wäre – zurückkehrt zu einer eigenen Stabilität, also zu mehr Geburten im Inland. Wir haben ja jetzt genauso viele Zuwanderer pro Jahr nach Deutschland wie Geburten pro Jahr im Inland. Das ist ein sehr bemerkenswerter Tatbestand seit Jahrzehnten, wie gesagt. Wenn er auf die Dauer erhalten bleibt, müssten wir immer mehr Einwanderer haben, immer mehr Zuwanderer pro Kopf einer Geburt sozusagen, und das Geburtendefizit würde sich dennoch immer weiter aufschaukeln, weil man durch Einwanderungen demografische Probleme, schon gar nicht Altersstrukturprobleme lösen kann. Die kann man nur vorübergehend kaschieren, aber eben nicht lösen.

    Heinlein: Aber schließt sich das denn aus, die von Ihnen geforderte neue Familienpolitik und eine Art Zuwanderungspolitik? Beides zusammen könnte doch die Lösung sein unserer demografischen Probleme.

    Birk: Richtig. Also ich bin ja nicht gegen Zuwanderungspolitik – ganz im Gegenteil. Ich bitte nur, die Realitäten nicht aus den Augen zu verlieren, also welche Ziele kann man mit Zuwanderungspolitik erreichen und welche nicht. Das sollte klar sein. Da ist zunächst zu sagen, wir haben schon ein Zuwanderungsgesetz, nämlich in der Form des Grundgesetzes. Das garantiert ja zum Beispiel für Menschen, die Asyl begehren, eine Zuwanderung, wenn sie wirklich politisch verfolgt sind, auch für Bürgerkriegsflüchtlinge. Dieser große Teil der jährlichen Zuwanderung ist schon im Grundgesetz geregelt. Das Zuwanderungsgesetzt suggeriert nun aber der Bevölkerung, als ob auch dieser Teil durch Steuerung kontingentiert, also nach oben begrenzt werden könnte, oder durch Auswahl so gestaltet werden könnte, dass nur jene kommen, die wir brauchen. Das ist nicht möglich, ich will auch sagen, Gott sei Dank nicht möglich, denn die humanitäre Zuwanderung muss erhalten bleiben. Das heißt aber mit anderen Worten: Die humanitäre Zuwanderung bringt aus sich heraus, nämlich durch den Nachwuchs, schon wieder ein Angebot an Arbeitskräften, das auch Arbeitsplätze finden muss. Wenn diese Arbeitsplätze nicht da sind, dann haben wir das, was unser Innenminister eine Einwanderung in die Sozialsysteme nennt und auch ablehnt. Aber die Worte des Innenministers und die Taten der Regierung decken sich leider nicht.

    Heinlein: Das, was Sie gerade behauptet haben, dass es nicht möglich sei, höchstqualifizierte Einwanderer zu bekommen, das wird ja gerade von der Politik probiert und die deutsche Wirtschaft fordert das auch. Warum halten Sie das für ausgeschlossen, gezielt hochqualifizierte Arbeitnehmer aus dem Ausland, aus dem europäischen Ausland hier nach Deutschland zu holen?

    Birk: Ich halte das nicht für ausgeschlossen. Ich gebe nur zu bedenken, dass wir neben den hochqualifizierten Zuwanderern, die wir hoffentlich in Zukunft vermehrt anwerben können, auch nichtqualifizierte Zuwanderer haben, also insbesondere alte, kranke und gebrechliche Menschen im Rahmen der humanitären Zuwanderung, die ja auch von etwas leben müssen und nicht die hohen Gehälter haben, die wir von den hochqualifizierten Zuwanderern erwarten. Also das muss zusammenpassen. Man sollte also zwei Kontingente an Einwanderern jährlich festsetzen oder auch in größeren Abständen festsetzen: Ein klares humanitäres Kontingent und ein zweites Kontingent für die aus ökonomischen Gründen notwendigen möglichst hochqualifizierten Zuwanderer, und die beiden Zahlen dürften nicht gegeneinander aufgerechnet werden, sondern müssten getrennt voneinander beschlossen werden.

    Heinlein: Und Sie halten es nicht für möglich, dass die Politik, Regierung und Opposition, in den Verhandlungen ein solches von Ihnen skizziertes Gesetz zu Stande bringt?

    Birk: Nein, weil wir ja schon ein Grundgesetz haben. Wenn sie das Grundgesetz ändern, dann halte ich es für möglich, aber solange das jetzige Grundgesetzt gilt, also ohne Begrenzung der Zahl der humanitären Zuwanderer, ist eine Einigung mit zwei Zuwanderungskontingenten nicht möglich, ist ausgeschlossen.

    Heinlein: Wie viel Zuwanderung ist denn notwendig, um die demografische Entwicklung in Deutschland abzugleichen oder zumindest die absehbaren Folgen zu lindern?

    Birk: Also wenn man die Altersstruktur konstant halten wollte, also dafür sorgen wollte, dass nicht immer mehr Ältere auf einen Mitmenschen der mittleren Altersgruppe entfallen, müssten jährlich 3,5 Millionen netto nach Deutschland zuwandern, und zwar jüngere Menschen. Das summiert sich dann durch die Jahrzehnte auf 188 Millionen bis 2050, wenn man die Altersstruktur konstant halten will, und das ist ja genau das Ziel des Zuwanderungsgesetzes, hier demografisch die Altersstruktur zu verbessern. Man sieht an diesen Zahlen, dass das Ziel illusorisch ist, und deshalb sage ich ja auch, dass das Gesetz etwas propagiert, was es nicht halten kann. Wenn man ein anderes Ziel verfolgt, die Bevölkerungszahl konstant zu halten – was übrigens niemand anstrebt einschließlich mir selber -, dann genügen weniger. Dann würden im Moment ungefähr 100.000 Zuwanderer pro Jahr genügen. Wir haben aber über 200.000 pro Jahr. Es würden dann allerdings von Jahr zu Jahr mehr gebraucht werden, bis dann 750.000 um 2040 herum.

    Heinlein: In Sachen Arbeitsemigration – ein Punkt, den Sie auch genannt haben – scheinen sich Regierung und Opposition ja anzunähern. Es soll der Anwerbestopp für hochqualifizierte Zuwanderer aufgehoben werden. Halten Sie das für sinnvoll und für möglich? Können Sie diesen Punkt noch einmal erläutern?

    Birk: Ja, den Punkt halte ich für sinnvoll, für möglich und sogar für unbedingt notwendig. Es muss immer Ausnahmen geben von den generellen Regeln, die wir gerade besprechen. Für Hochqualifizierte muss es solche Ausnahmen geben, vielleicht auch für andere Engpassberufe, Pflegekräfte usw. Für solche Berufe, die nun mal im Inland nicht aufzutreiben sind, muss es selbstverständlich Ausnahmeregelungen geben. Aber wir reden ja jetzt erst mal über die Grundgedanken, und die Grundgedanken sind mit diesem Gesetz nicht richtig geregelt. Es geht in der Überschrift des Gesetzes um etwas anderes als in den eigentlichen einzelnen Paragraphen, und das passt nicht zusammen. Ich stelle nur fest, dass die Begründungen nicht stimmen. Also die Begründungen für mehr Zuwanderung stimmen nicht, denn wir hätten bis 2020 etwa aus der einheimischen Bevölkerungsentwicklung noch genügend Nachwuchs. Auch die Frauenerwerbsquote könnte noch angehoben werden, um alle Arbeitsmarktbedarfe, wenn die Konjunktur anspringen würde, zu decken. Erst danach, nach 15 bis 20 Jahren, wird es dann immer knapper, und bis dahin könnte eine erfolgreiche Familienpolitik auch das Problem mit entschärfen.

    Heinlein: Vielen Dank für das Gespräch.