Martin Zagatta:
Reinhard Spiegelhauer mit der neuen Strategie
, der zufolge die NATO gegen Atomwaffen und für nukleare Abrüstung ist, aber sie will an Atomwaffen festhalten, solange sie es für nötig hält. Das Ganze geht einher mit der Übereinkunft, gemeinsam einen Raketenschutzschirm aufzubauen und Russland anzubieten, sich daran zu beteiligen. Und darüber wollen wir jetzt mit Volker Rühe sprechen, dem ehemaligen Verteidigungsminister. Guten Morgen, Herr Rühe!
Volker Rühe: Guten Morgen, Herr Zagatta!
Zagatta: Herr Rühe, der russische Präsident Medwedew kommt ja heute zur NATO nach Lissabon, aber für wie wahrscheinlich halten Sie es denn, dass Russland sich tatsächlich an diesem Projekt beteiligt?
Rühe: Es gibt gute Chancen dafür, aber man sollte auch die Neubestimmung der Beziehungen zu Russland nicht beschränken auf ein Projekt, was ja technisch sehr schwierig bleibt, sondern es geht darum, deutlich zu machen, dass wir ganz grundlegend unser Verhältnis zu Russland verändern. Das ist jetzt ein Partner, und der darf nicht mehr von oben herab behandelt werden. Und ich denke ganz gern zurück, wie man am Beginn der NATO die Aufgaben gesehen hat. Lord Ismay, der Generalsekretär, hat damals gesagt drei Dinge: die Sowjetunion raushalten, Amerika in Europa halten, Deutschland unten halten. Und ich würde sagen, im 21. Jahrhundert lauten die drei Aufgaben der NATO: Die neuen Gefahren für das Bündnisgebiet heraushalten, Amerika in Europa halten – das ist auch eine große Aufgabe – und Russland einbinden in die gemeinsame euro-atlantische Sicherheit. Und da muss man Schritt für Schritt vorgehen und Raketenabwehr, Zusammenarbeit, was Afghanistan angeht, Zusammenarbeit in der Terrorismusbekämpfung – das sind dann die konkreten Schritte. Aber die zentrale Botschaft muss sein: Russland ist unser Partner für gemeinsame Sicherheit.
Zagatta: Sind wir denn schon so weit, Russland und die NATO-Staaten, also passt das denn politisch zusammen? Denn die Russen haben ja nach wie vor sagen wir ein etwas anderes Demokratieverständnis.
Rühe: Ja sicher. Es geht ja nicht drum, Russland nächste Woche zum Mitglied zu machen, das wollen die auch gar nicht, sondern es geht eigentlich drum, deutlich zu machen, wir sind offen, und jetzt lasst uns konkrete Schritte tun, um zusammenzuwachsen. Aber wenn Sie die Gefahren des 21. Jahrhunderts analysieren – Terrorismus, nukleare Proliferation, vielleicht Cyber Attacs –, dann sind das alles Gefahren, die uns gemeinsam drohen, also der bisherigen NATO und auch Russland. Und deswegen spricht alles dafür, hier nicht im Wettbewerb um Sicherheit zu sorgen oder gegeneinander, sondern gemeinsam Sicherheit zu organisieren. Das kann nur in Schritten geschehen. Und natürlich, eine Annäherung an die NATO, die kann auch nur in dem Tempo vollzogen werden, wie die Dinge sich in Russland weiter verändern. Aber ich glaube, wenn wir ein Signal setzen, die Tür ist im Prinzip offen, dann hilft das auch, dass diese Veränderungen historisch sich ereignen. Und dann kann das im Nachhinein wirklich ein historischer Gipfel werden. Im Augenblick sind das Worte – was wir brauchen, sind Taten.
Zagatta: Ist oder wäre diese Annäherung, die Sie da einfordern, diese Annäherung zwischen der NATO und Russland, auch noch denkbar, wenn US-Präsident Obama das START-Abkommen, also die mit Moskau ja schon vereinbarte nukleare Abrüstung, gar nicht einhalten kann, wenn die aufgrund der neuen Mehrheitsverhältnisse in den USA blockiert wird, wie schädlich wäre das denn?
Rühe: Hier sehen Sie ja, dass die Probleme nicht nur von Russland kommen, und deswegen ist es auch ein bisschen blauäugig, was man in diesem NATO-Papier über die weitere Abrüstungsentwicklung sieht, nicht-nukleare Welt. Wenn dieses Startabkommen verzögert wird oder gar scheitern würde, wäre das ein schwerer Rückschlag. Und deswegen erwarte ich von den Europäern, dass sie auch auf diesem NATO-Gipfel Obama den Rücken stärken und auch klarmachen, dass das keine Sache ist, die von republikanischen Senatoren alleine entschieden werden kann, sondern das muss auch gemeinsam im Bündnis gesehen werden als ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der Beziehungen zu Russland. Wie überhaupt ich glaube, dass wir gut daran tun, als Europäer eben auch deutlich zu machen, wir wollen die Amerikaner in Europa halten, auch mit ihren Soldaten – das ist noch mal eine wichtige Aufgabe auch im 21. Jahrhundert, um gemeinsam in der Welt handeln zu können –, aber dazu muss Europa auch sein Eigengewicht stärken, indem es seine militärischen Strukturen europäisiert, arbeitsteilig organisiert.
Zagatta: Wollen Sie die Amerikaner auch mit ihren Atomwaffen hier in Europa halten? Der Wunsch der Bundesregierung war ja, zumindest die in der Eifel gelagerten amerikanischen Atomwaffen loszuwerden – das wird jetzt bei der NATO, bei diesem Gipfel, überhaupt nicht mehr erwähnt. Ist das eine Schlappe für Berlin oder muss man das einfach noch so in Kauf nehmen?
Rühe: Wir brauchen die amerikanischen Soldaten, auch damit sie ständig in der Zusammenarbeit mit den europäischen Soldaten tätig sind, und wir brauchen die Amerikaner im politischen Prozess.
Zagatta: Und die Atomwaffen?
Rühe: Die taktischen Atomwaffen haben eigentlich ihre Bedeutung verloren, wir können auf sie verzichten, aber richtig ist, dass man versucht – das ist ein zweites Thema –, in diesem Zusammenhang mit Russland zu Vereinbarungen zu kommen, dass die russischen taktischen Nuklearwaffen eben konzentriert werden an bestimmten Orten in Russland und das Ganze auch transparent gestaltet wird. Aber was die taktischen Nuklearwaffen angeht, stimme ich voll mit der Bundesregierung überein: Die haben ihre Funktion verloren nach dem Ende des Kalten Krieges.
Zagatta: Herr Rühe, was Afghanistan angeht, will sich die NATO ja jetzt bis 2014 spätestens zurückziehen, aus Provinzen, wo das möglich ist, auch schon im nächsten oder übernächsten Jahr – halten Sie das für eine realistische Strategie?
Rühe: Für eine notwendige Strategie. Wir können ja nicht das Gesetz des Handelns der afghanischen Regierung überlassen. Es ist schon sehr viel Zeit verloren worden, deswegen finde ich es richtig, feste Termine zu setzen. Man kann ja auch nicht sagen, wir bleiben bis zu einem Sieg. Was ist ein Sieg? Ich finde, das ist richtig, wir sollten uns auch daran beteiligen, an diesem Prozess, und im Übrigen sollten wir lernen, was in Afghanistan schiefgegangen ist. Im Ergebnis war das ein Fehler, dass wir heute sozusagen auf weltpolitischer Bühne einmal die NATO, das größte Militärbündnis haben, auf der anderen Seite die Taliban. Unser Gegner war Al Kaida, und Sie sehen ja, dass terroristische Anschlagsgefahren heute aus vielen Teilen der Welt kommen und dass man sie keineswegs dadurch bekämpfen kann, indem man jeweils ein 100.000-Mann-Heer dorthin stellt – also das richtige Signal für den Abzug. Und wir haben das Gesetz des Handelns, und deswegen stimmt die Formel schon lange nicht mehr, dass unsere Sicherheit am Hindukusch verteidigt wird. Richtig ist, dass die NATO sich geordnet zurückziehen muss und dass man in der Zukunft lernen muss, dass man nicht überall auf der Welt Nation-Building betreiben kann, politische Prozesse durch NATO-Soldaten vorantreiben kann.
Zagatta: Und wenn man da noch hinzunimmt, dass die NATO und auch deutsche Truppen einen Präsidenten gestützt haben, dem Wahlbetrug und Korruption vorgeworfen werden, sind da NATO-Soldaten und auch deutsche Soldaten nicht völlig umsonst gestorben?
Rühe: Also ich glaube, dass der militärische Einsatz am Anfang, direkt nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York berechtigt war, und es war falsch, dann die Aufmerksamkeit Richtung Irak zu richten. Aber das gilt schon lange nicht mehr. Die Taliban haben eine regionale Agenda, aber sie haben nicht die Fähigkeit, Hamburg und New York anzugreifen. Und was wir jetzt unseren Soldaten schulden, ist, ihnen klarzumachen, dass für unsere Sicherheit sicherlich wichtig ist, wie die NATO sich dort zurückzieht, aber es muss Schluss damit sein, zu sagen, die Sicherheit Deutschlands wird am Hindukusch verteidigt, und dort ist der entscheidende Kampf gegen den Terrorismus. Das ist er nicht. Und das ist auch nicht das, was die NATO im 21. Jahrhundert zusammenhalten wird, eine solche Mission wie in Afghanistan, deswegen war das ein Fehler, dieses sozusagen so hoch zu ziehen. Wir müssen in Zukunft sehr viel sorgfältiger abwägen, wann wir unsere Soldaten wo einsetzen. Ich kann mir im 21. Jahrhundert vorstellen, wenn es einen Friedensprozess im Nahen Osten gibt, auch einen palästinensischen Staat – das ist ja noch schwer genug zu erreichen –, dass dann ein solcher Frieden zum Beispiel auch von der NATO, europäischen und amerikanischen Soldaten mit garantiert wird. Nur das ist eine wirkliche weltpolitische Aufgabe, aber nicht der Kampf gegen die Taliban durch das Militärbündnis NATO.
Zagatta: Wenn Sie heute noch Verteidigungsminister wären, könnten Sie das Sterben oder den Tod, den Einsatz deutscher Soldaten und auch den Tod deutscher Soldaten in Afghanistan da noch mit verantworten?
Rühe: Ich würde mich schwertun, aber ich weiß auch, dass wir nicht uns einseitig zurückziehen können, sondern wir müssen uns gemeinsam zurückziehen, aber wir müssen Einfluss auf das Bündnis nehmen. Und was mich empört hat, war, dass bis zum letzten Jahr hin eben von deutscher Seite gesagt wurde, wir müssen da noch zehn Jahre bleiben – und auch die Begründung des Einsatzes. Ich glaube, noch einmal: Für unsere Sicherheit ist wichtig, dass sich die NATO geordnet zurückzieht, aber wir müssen auch analysieren, welche Fehler in Afghanistan gemacht worden sind. Und die Begründung, dass wenn die NATO sich dort zurückzieht, dass dann die Gefahren des Terrorismus eindeutig zunehmen, die halte ich nicht für tragend. Wir sehen ja, der Jemen, Somalia, andere Staaten, dort gibt es Gefahren des Terrorismus, und die müssen auf ganz andere Weise bekämpft werden. Und insofern würde ich mir auch Selbstkritik wünschen – ich glaube, das schulden wir auch unseren Soldaten –, und im Übrigen, dass wir das Risiko gemeinsam tragen und uns dann auch gemeinsam aus Afghanistan zurückziehen.
Zagatta: Volker Rühe, der ehemalige Verteidigungsminister, heute Morgen im Deutschlandfunk. Herr Rühe, herzlichen Dank für das Gespräch!
Rühe: Wiederhören, Herr Zagatta!
Volker Rühe: Guten Morgen, Herr Zagatta!
Zagatta: Herr Rühe, der russische Präsident Medwedew kommt ja heute zur NATO nach Lissabon, aber für wie wahrscheinlich halten Sie es denn, dass Russland sich tatsächlich an diesem Projekt beteiligt?
Rühe: Es gibt gute Chancen dafür, aber man sollte auch die Neubestimmung der Beziehungen zu Russland nicht beschränken auf ein Projekt, was ja technisch sehr schwierig bleibt, sondern es geht darum, deutlich zu machen, dass wir ganz grundlegend unser Verhältnis zu Russland verändern. Das ist jetzt ein Partner, und der darf nicht mehr von oben herab behandelt werden. Und ich denke ganz gern zurück, wie man am Beginn der NATO die Aufgaben gesehen hat. Lord Ismay, der Generalsekretär, hat damals gesagt drei Dinge: die Sowjetunion raushalten, Amerika in Europa halten, Deutschland unten halten. Und ich würde sagen, im 21. Jahrhundert lauten die drei Aufgaben der NATO: Die neuen Gefahren für das Bündnisgebiet heraushalten, Amerika in Europa halten – das ist auch eine große Aufgabe – und Russland einbinden in die gemeinsame euro-atlantische Sicherheit. Und da muss man Schritt für Schritt vorgehen und Raketenabwehr, Zusammenarbeit, was Afghanistan angeht, Zusammenarbeit in der Terrorismusbekämpfung – das sind dann die konkreten Schritte. Aber die zentrale Botschaft muss sein: Russland ist unser Partner für gemeinsame Sicherheit.
Zagatta: Sind wir denn schon so weit, Russland und die NATO-Staaten, also passt das denn politisch zusammen? Denn die Russen haben ja nach wie vor sagen wir ein etwas anderes Demokratieverständnis.
Rühe: Ja sicher. Es geht ja nicht drum, Russland nächste Woche zum Mitglied zu machen, das wollen die auch gar nicht, sondern es geht eigentlich drum, deutlich zu machen, wir sind offen, und jetzt lasst uns konkrete Schritte tun, um zusammenzuwachsen. Aber wenn Sie die Gefahren des 21. Jahrhunderts analysieren – Terrorismus, nukleare Proliferation, vielleicht Cyber Attacs –, dann sind das alles Gefahren, die uns gemeinsam drohen, also der bisherigen NATO und auch Russland. Und deswegen spricht alles dafür, hier nicht im Wettbewerb um Sicherheit zu sorgen oder gegeneinander, sondern gemeinsam Sicherheit zu organisieren. Das kann nur in Schritten geschehen. Und natürlich, eine Annäherung an die NATO, die kann auch nur in dem Tempo vollzogen werden, wie die Dinge sich in Russland weiter verändern. Aber ich glaube, wenn wir ein Signal setzen, die Tür ist im Prinzip offen, dann hilft das auch, dass diese Veränderungen historisch sich ereignen. Und dann kann das im Nachhinein wirklich ein historischer Gipfel werden. Im Augenblick sind das Worte – was wir brauchen, sind Taten.
Zagatta: Ist oder wäre diese Annäherung, die Sie da einfordern, diese Annäherung zwischen der NATO und Russland, auch noch denkbar, wenn US-Präsident Obama das START-Abkommen, also die mit Moskau ja schon vereinbarte nukleare Abrüstung, gar nicht einhalten kann, wenn die aufgrund der neuen Mehrheitsverhältnisse in den USA blockiert wird, wie schädlich wäre das denn?
Rühe: Hier sehen Sie ja, dass die Probleme nicht nur von Russland kommen, und deswegen ist es auch ein bisschen blauäugig, was man in diesem NATO-Papier über die weitere Abrüstungsentwicklung sieht, nicht-nukleare Welt. Wenn dieses Startabkommen verzögert wird oder gar scheitern würde, wäre das ein schwerer Rückschlag. Und deswegen erwarte ich von den Europäern, dass sie auch auf diesem NATO-Gipfel Obama den Rücken stärken und auch klarmachen, dass das keine Sache ist, die von republikanischen Senatoren alleine entschieden werden kann, sondern das muss auch gemeinsam im Bündnis gesehen werden als ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der Beziehungen zu Russland. Wie überhaupt ich glaube, dass wir gut daran tun, als Europäer eben auch deutlich zu machen, wir wollen die Amerikaner in Europa halten, auch mit ihren Soldaten – das ist noch mal eine wichtige Aufgabe auch im 21. Jahrhundert, um gemeinsam in der Welt handeln zu können –, aber dazu muss Europa auch sein Eigengewicht stärken, indem es seine militärischen Strukturen europäisiert, arbeitsteilig organisiert.
Zagatta: Wollen Sie die Amerikaner auch mit ihren Atomwaffen hier in Europa halten? Der Wunsch der Bundesregierung war ja, zumindest die in der Eifel gelagerten amerikanischen Atomwaffen loszuwerden – das wird jetzt bei der NATO, bei diesem Gipfel, überhaupt nicht mehr erwähnt. Ist das eine Schlappe für Berlin oder muss man das einfach noch so in Kauf nehmen?
Rühe: Wir brauchen die amerikanischen Soldaten, auch damit sie ständig in der Zusammenarbeit mit den europäischen Soldaten tätig sind, und wir brauchen die Amerikaner im politischen Prozess.
Zagatta: Und die Atomwaffen?
Rühe: Die taktischen Atomwaffen haben eigentlich ihre Bedeutung verloren, wir können auf sie verzichten, aber richtig ist, dass man versucht – das ist ein zweites Thema –, in diesem Zusammenhang mit Russland zu Vereinbarungen zu kommen, dass die russischen taktischen Nuklearwaffen eben konzentriert werden an bestimmten Orten in Russland und das Ganze auch transparent gestaltet wird. Aber was die taktischen Nuklearwaffen angeht, stimme ich voll mit der Bundesregierung überein: Die haben ihre Funktion verloren nach dem Ende des Kalten Krieges.
Zagatta: Herr Rühe, was Afghanistan angeht, will sich die NATO ja jetzt bis 2014 spätestens zurückziehen, aus Provinzen, wo das möglich ist, auch schon im nächsten oder übernächsten Jahr – halten Sie das für eine realistische Strategie?
Rühe: Für eine notwendige Strategie. Wir können ja nicht das Gesetz des Handelns der afghanischen Regierung überlassen. Es ist schon sehr viel Zeit verloren worden, deswegen finde ich es richtig, feste Termine zu setzen. Man kann ja auch nicht sagen, wir bleiben bis zu einem Sieg. Was ist ein Sieg? Ich finde, das ist richtig, wir sollten uns auch daran beteiligen, an diesem Prozess, und im Übrigen sollten wir lernen, was in Afghanistan schiefgegangen ist. Im Ergebnis war das ein Fehler, dass wir heute sozusagen auf weltpolitischer Bühne einmal die NATO, das größte Militärbündnis haben, auf der anderen Seite die Taliban. Unser Gegner war Al Kaida, und Sie sehen ja, dass terroristische Anschlagsgefahren heute aus vielen Teilen der Welt kommen und dass man sie keineswegs dadurch bekämpfen kann, indem man jeweils ein 100.000-Mann-Heer dorthin stellt – also das richtige Signal für den Abzug. Und wir haben das Gesetz des Handelns, und deswegen stimmt die Formel schon lange nicht mehr, dass unsere Sicherheit am Hindukusch verteidigt wird. Richtig ist, dass die NATO sich geordnet zurückziehen muss und dass man in der Zukunft lernen muss, dass man nicht überall auf der Welt Nation-Building betreiben kann, politische Prozesse durch NATO-Soldaten vorantreiben kann.
Zagatta: Und wenn man da noch hinzunimmt, dass die NATO und auch deutsche Truppen einen Präsidenten gestützt haben, dem Wahlbetrug und Korruption vorgeworfen werden, sind da NATO-Soldaten und auch deutsche Soldaten nicht völlig umsonst gestorben?
Rühe: Also ich glaube, dass der militärische Einsatz am Anfang, direkt nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York berechtigt war, und es war falsch, dann die Aufmerksamkeit Richtung Irak zu richten. Aber das gilt schon lange nicht mehr. Die Taliban haben eine regionale Agenda, aber sie haben nicht die Fähigkeit, Hamburg und New York anzugreifen. Und was wir jetzt unseren Soldaten schulden, ist, ihnen klarzumachen, dass für unsere Sicherheit sicherlich wichtig ist, wie die NATO sich dort zurückzieht, aber es muss Schluss damit sein, zu sagen, die Sicherheit Deutschlands wird am Hindukusch verteidigt, und dort ist der entscheidende Kampf gegen den Terrorismus. Das ist er nicht. Und das ist auch nicht das, was die NATO im 21. Jahrhundert zusammenhalten wird, eine solche Mission wie in Afghanistan, deswegen war das ein Fehler, dieses sozusagen so hoch zu ziehen. Wir müssen in Zukunft sehr viel sorgfältiger abwägen, wann wir unsere Soldaten wo einsetzen. Ich kann mir im 21. Jahrhundert vorstellen, wenn es einen Friedensprozess im Nahen Osten gibt, auch einen palästinensischen Staat – das ist ja noch schwer genug zu erreichen –, dass dann ein solcher Frieden zum Beispiel auch von der NATO, europäischen und amerikanischen Soldaten mit garantiert wird. Nur das ist eine wirkliche weltpolitische Aufgabe, aber nicht der Kampf gegen die Taliban durch das Militärbündnis NATO.
Zagatta: Wenn Sie heute noch Verteidigungsminister wären, könnten Sie das Sterben oder den Tod, den Einsatz deutscher Soldaten und auch den Tod deutscher Soldaten in Afghanistan da noch mit verantworten?
Rühe: Ich würde mich schwertun, aber ich weiß auch, dass wir nicht uns einseitig zurückziehen können, sondern wir müssen uns gemeinsam zurückziehen, aber wir müssen Einfluss auf das Bündnis nehmen. Und was mich empört hat, war, dass bis zum letzten Jahr hin eben von deutscher Seite gesagt wurde, wir müssen da noch zehn Jahre bleiben – und auch die Begründung des Einsatzes. Ich glaube, noch einmal: Für unsere Sicherheit ist wichtig, dass sich die NATO geordnet zurückzieht, aber wir müssen auch analysieren, welche Fehler in Afghanistan gemacht worden sind. Und die Begründung, dass wenn die NATO sich dort zurückzieht, dass dann die Gefahren des Terrorismus eindeutig zunehmen, die halte ich nicht für tragend. Wir sehen ja, der Jemen, Somalia, andere Staaten, dort gibt es Gefahren des Terrorismus, und die müssen auf ganz andere Weise bekämpft werden. Und insofern würde ich mir auch Selbstkritik wünschen – ich glaube, das schulden wir auch unseren Soldaten –, und im Übrigen, dass wir das Risiko gemeinsam tragen und uns dann auch gemeinsam aus Afghanistan zurückziehen.
Zagatta: Volker Rühe, der ehemalige Verteidigungsminister, heute Morgen im Deutschlandfunk. Herr Rühe, herzlichen Dank für das Gespräch!
Rühe: Wiederhören, Herr Zagatta!