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"Man kann jetzt nicht von vorne anfangen"

Der Präsident des Europäischen Parlaments, Hans-Gert Pöttering, hat sich erfreut über die Ratifizierung des EU-Reformvertrags durch Großbritannien gezeigt. Nun müsse ein Weg gefunden werden, wie es auch nach dem Nein der Iren weitergehen könne, sagte Pöttering. Einen völligen Neuanfang halte er nicht für sinnvoll. Erst wenn keine Lösung mit Dublin gefunden werde, könne über Alternativen nachgedacht werden.

Moderation: Jürgen Liminski | 19.06.2008
    Jürgen Liminski: Die Europäer seien Kathedralenbauer, meinte de Gaulle und er hatte dabei nicht nur die kunstvollen Gebäude im Sinn, sondern auch die Konstrukte des Gemeinwesens, die Verfassungen, die Vertretungen, die Statik des demokratischen Gefüges. Ist das alles in Gefahr? Wie kann, wie soll die EU sich nun weiterentwickeln? Zu diesen und anderen Fragen begrüße ich den Präsidenten des Europaparlaments Hans-Gert Pöttering. Guten Morgen Herr Pöttering!

    Hans-Gert Pöttering: Guten Morgen Herr Liminski.

    Liminski: Herr Pöttering, ist der politische Schaden nach dem irischen Nein schon zu übersehen?

    Pöttering: Es gibt natürlich einen großen Schaden. Wir können ihn auch im großen und ganzen übersehen. Aber es gibt wie ganz allgemein in der Politik so auch in der Europapolitik immer auch Lösungen, die man aus einer schwierigen Situation erarbeiten kann. Aber dafür braucht es den guten Willen aller Beteiligten, aller Regierungen der Mitgliedsländer der Europäischen Union und der Institutionen der Europäischen Union. Das Europäische Parlament ist entschlossen und bereit, seinen Beitrag zu leisten.

    Liminski: Die Außenminister des Weimarer Dreiecks - also Polens, Deutschlands und Frankreichs - haben am Dienstag erklärt, im zweiten Halbjahr, also unter der Ratspräsidentschaft Frankreichs, müsse ein Weg aus dieser Krise gefunden werden. Heißt das, dass man bei dem heute beginnenden Gipfel nicht mit einem vorzeigbaren Ergebnis rechnen kann?

    Pöttering: Der Gipfel heute ist ein bedeutender Gipfel, weil er dazu führen kann, was die Außenminister gestern gesagt haben. Ich habe es vorgestern schon vor dem Europäischen Parlament in Straßburg gesagt, dass wir wollen, dass der Ratifizierungsprozess weitergeführt wird. Und es ist eine wunderbare Erfahrung, dass gestern die Parlamente Großbritanniens, also gestern formell das Oberhaus den Vertrag gebilligt hat, so dass jetzt in Großbritannien sowohl das Unterhaus wie das Oberhaus zugestimmt haben, so dass heute die Königin den Vertrag unterschreiben kann. Also wir sind auf einem Wege, der eine Verständigung möglich macht.

    Liminski: Dennoch bleibt das Nein der Iren. Ist das historische Großprojekt Europäische Union nicht doch ein bisschen festgefahren? Wer die Debatte gestern im Europaparlament oder auch die Bemerkungen in den diversen Hauptstädten verfolgt hat, konnte den Eindruck gewinnen, dass man immer noch nach technischen Lösungen sucht, also die Iren zu einer Wiederholung vielleicht drängen möchte, statt nach den Ursachen zu forschen oder sich die Frage zu stellen, warum die Völker anders als die Politiker zu Europa stehen.

    Pöttering: Herr Liminski, wir suchen nicht nach technischen Lösungen, sondern wir gehen den Ursachen schon sehr auf den Grund. Es hat viele Argumente gegeben in Irland, die mit dem Reformvertrag überhaupt nichts zu tun hatten. Es ist behauptet worden, der Reformvertrag ermögliche die Abtreibung, was ein besonders bösartiges Argument war, denn die Frage des Schutzes des ungeborenen Lebens, wofür ich nachdrücklich eintrete, ist nicht im Zusammenhang zu sehen mit dem Reformvertrag. Auch viele andere falsche Argumente wurden benutzt. Aber es gibt auch den Tatbestand - und das müssen wir sehr ernst nehmen -, dass es in einigen Völkern Europas ein Unbehagen gibt gegenüber dem, was man Brüssel nennt, und diese Situation ist sehr unterschiedlich in den Ländern der Europäischen Union. Oftmals sind diese Befürchtungen, diese Einschätzungen unbegründet, aber dieses Phänomen ist da und deswegen ist es meine Forderung, dass alle Politikerinnen und Politiker von allen politischen Ebenen, die kommunale Ebene, die Landesebene, die Bundesebene und die europäische Ebene, gemeinsam sich für Europa einsetzen und wir müssen stärker sein in unserem Engagement - und da müssen wir noch zulegen - als die Gegner der europäischen Einigungspolitik.

    Liminski: Der außenpolitische Sprecher der CSU im Parlament Bernd Posselt hat eine Art Neugründung Europas vorgeschlagen, ein Kerneuropa auf der Basis eines kurzen und starken Verfassungsvertrages und dann drum herum die privilegierten Freunde. So weiterwursteln wie bisher sei nur die viertbeste Lösung. Ist das der Moment für das Europa verschiedener Geschwindigkeiten, so wie die deutschen Politiker Schäuble und Lamers das vor mehr als zehn Jahren schon vorgeschlagen hatten?

    Pöttering: Der Kollege Bernd Posselt ist von mir sehr geschätzt. Wenn er jetzt Vorschläge macht, die in eine andere Richtung gehen als den Vertrag jetzt zu ratifizieren, dann würde ich mich dem so nicht anschließen wollen. Es geht jetzt darum, dass das, was auf dem Tisch liegt, was in Irland zunächst einmal bedauerlicherweise keine Zustimmung gefunden hat, dass wir nach einem Weg suchen, die Zustimmung auch Irlands zu finden. Und man kann jetzt nicht von vorne anfangen. Die Vorschläge meines CSU-Kollegen unterstellen ja - so muss ich es verstehen -, als wenn es uns nicht gelingen würde, jetzt zu einer Lösung zu kommen. Ich möchte, dass das Europäische Parlament jetzt zu einer Lösung beiträgt und deswegen gehen wir aus von dem vorliegenden Reformvertrag, für den wir eine Zustimmung in allen 27 Ländern der Europäischen Union finden sollten.

    Liminski: Ja. Aber die Iren haben ja Nein gesagt. Und de facto haben wir ja schon verschiedene Integrationsstufen: die Euro-Zone, den Schengen-Raum, die militärische Integration. Warum sagt man nicht offen "das ist Kerneuropa und wer mit will, muss die und die Bedingung erfüllen. Wer nicht, der ist halt nur ein privilegierter Freund"?

    Pöttering: So einfach sind die Dinge natürlich nicht. Wir haben ja heute schon die Möglichkeit auch mit dem bestehenden Vertrag, mit dem Vertrag von Nizza, unterschiedliche Tempos zu haben in der Europäischen Union. Und, Herr Liminski, die Beispiele, die Sie genannt haben, liegen ja auf der Hand. Bei dem Euro haben wir ja Länder dabei; andere sind nicht dabei. Also diese Möglichkeiten gibt es heute schon. Aber wir sollten nun zunächst einmal heute den irischen Ministerpräsidenten Cowen hören. Ich treffe heute Nachmittag vor dem Gipfel auch mit ihm noch mal zu einem Gespräch zusammen. Ich werde ihm sagen, dass wir helfen wollen als Europäisches Parlament, mit Irland eine Lösung zu finden und nicht gegen Irland. Und hoffen wir, dass es eine Lösung gibt mit Irland. Sollte das nicht möglich sein, dann müssten wir natürlich weitergehende Überlegungen anstellen, aber dazu ist jetzt heute nicht der Tag.

    Liminski: Wie kann denn diese Lösung mit Irland aussehen? Eine Wiederholung des Referendums?

    Pöttering: Darauf möchte ich mich jetzt nicht festlegen und ich bitte sehr um Verständnis, dass ich das nicht tue, sondern zunächst einmal müssen wir die Iren selber hören. Der Ministerpräsident Irlands kann die Situation in Irland am besten beurteilen. Er wird Vorschläge unterbreiten. Wir werden heute noch nicht die Lösung finden. Es wird dann sicher einen erneuten Gipfel geben. Davon haben ja auch die eben von Ihnen genannten Außenminister gesprochen. Dann wird man vielleicht nach der Sommerpause schon konkreter sehen. Ich bitte jetzt um Geduld, aber gleichzeitig um die Entschlossenheit, dass wir die Dinge bewältigen wollen, damit Europa eine Zukunft hat.

    Liminski: Brauchen wir eigentlich eine neue Verfassung, Herr Pöttering? Wir haben ja als politisch-philosophische Grundlage die Konvention zur Bewahrung der Menschenrechte, sogar mit einem eigenen Gerichtshof in Straßburg. Die EU-Staaten haben diese Konvention alle ratifiziert. Das wäre doch eine akzeptable Grundlage und wenn man das als Grundlage akzeptierte, ginge es eigentlich nur noch um technische Details.

    Pöttering: Nein. Ich glaube nicht, dass es um technische Details geht. Ein Scheitern des Reformvertrages wäre ein Scheitern eines großen europäischen Projektes und wir brauchen die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union. Wir brauchen die Mehrheitsentscheidung im Ministerrat. Wir brauchen ein starkes Europäisches Parlament, das mit dem Reformvertrag in nahezu 100 Prozent europäischer Gesetzgebung gleichberechtigt wird mit dem Ministerrat. Das sind keine technischen Entscheidungen, sondern das bedeutet, dass das Europäische Parlament entscheidend an der Gestaltung unseres Kontinents mitwirkt. Als das Parlament 1979 gewählt wurde - und ich habe das Privileg, mit vier weiteren Kollegen ununterbrochen dem Parlament seit seiner ersten Wahl anzugehören -, hatte das Parlament null Gesetzgebungsbefugnisse. Heute sind wir fast am Ziel. Das bedeutet europäische Demokratie. Das sind keine Verfahrensregeln oder technische Regelungen, sondern das sind Werte, die in dieser Demokratie zum Ausdruck kommen, weil das Europäische Parlament die Völker Europas vertritt. Das müssen wir jetzt mit aller Entschiedenheit, aber auch mit Geduld verteidigen.

    Liminski: Nun gibt es viele Probleme, die die Bürger vielleicht mehr interessieren: steigende Spritpreise, Energiekrise, Afrika. Wird man darüber auf dem Gipfel auch reden?

    Pöttering: Ja selbstverständlich! Ich werde in meinem Redebeitrag auch diese Probleme erwähnen. Wir brauchen beides! Wir brauchen den Vertrag und wir brauchen konkrete Lösungen für politische Sachfragen. Wenn Europa, diese Europäische Union nicht gemeinsam handelt, dann werden andere Mächte in der Welt, die nicht so diesen Werten zugetan sind, wie wir sie vertreten, sich durchsetzen und deswegen müssen wir auch in den politischen Sachfragen - ob es die Finanzmärkte sind, ob es der Hunger in der Welt ist oder jetzt die Entwicklung auf den Ölmärkten, die Nahrungsmittelpreise - gemeinsame Entscheidungen finden, gemeinsame Wege finden. Das ist jetzt unsere Aufgabe. Wir müssen beides tun und nicht einseitig vorgehen.

    Liminski: Wege aus der Krise Europas. Das war vor dem EU-Gipfel hier im Deutschlandfunk der Präsident des Europaparlaments Hans-Gert Pöttering. Besten Dank für das Gespräch, Herr Pöttering!