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"Man muss jetzt am Anfang der Krise handeln"

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat betont, bei der Debatte um Konjunkturhilfen gehe es nicht allein um die Summe der Maßnahmen, wichtig sei vielmehr deren Treffsicherheit. Entscheidend sei die Sicherung von Arbeitsplätzen. Daher plädiere der CDU-Politiker für Investitionen in Innovationen, Bildung und Infrastruktur. Dabei müsse auch das Know-how der mittelständischen Unternehmen in Deutschland gesichert werden.

Jürgen Rüttgers im Gespräch mit Dirk Müller | 17.12.2008
    Müller: Der Druck wird größer von Tag zu Tag: auf die Kanzlerin, auf die Bundesregierung, auf die Landesregierungen, zu handeln, mehr zu tun gegen die Finanz- und Wirtschaftskrise. In der Europäischen Union gilt Berlin längst als Bremser. Auch in den USA wird kräftig mit dem Kopf geschüttelt. Nun will die Große Koalition vielleicht doch schon im Januar entscheiden, ob ein zweites Konjunkturprogramm notwendig ist. Morgen berät Angela Merkel mit den Ministerpräsidenten über Investitionen, die möglicherweise vorgezogen werden sollen. Dabei geht die Neuverschuldung offenbar immer mehr nach oben.
    Am Telefon ist jetzt der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU). Guten Morgen!

    Rüttgers: Guten Morgen, Herr Müller.

    Müller: Herr Rüttgers, haben wir tatsächlich so viel Zeit?

    Rüttgers: Ich glaube, dass ja seit gestern klar ist - und damit brauchen wir eigentlich die Debatte, ob was passiert und wann es passiert, nicht mehr zu führen -, dass die Bundesregierung Mitte Januar entscheiden wird. Wir müssen die Zeit bis dahin nutzen, jetzt ein schlüssiges Konzept zu entwickeln. Ich glaube, dass der Schwerpunkt dieser Anstrengungen im Bereich von Investitionen in Innovation, in Infrastruktur und in Bildung liegen sollte.

    Müller: Vorgestern, Herr Rüttgers, hieß es noch Februar, dann hieß es März; seit gestern heißt es Januar. Warum schläft die Bundesregierung?

    Rüttgers: Sie schläft ja nicht. Wir haben ja gerade in diesen Tagen eine erste Beschlussfassung im Bundesrat gehabt, so dass Maßnahmen in der Pipeline sind. Es ist eben halt sehr schwer; eine solche Krise hat es noch nicht gegeben. Dennoch bin ich der Auffassung, man muss jetzt am Anfang der Krise handeln, denn dann kommt man auch schneller aus der Krise heraus. Das ist der Grund, weshalb die nordrhein-westfälische Landesregierung gestern konjunkturfördernde Maßnahmen von 2,99 Milliarden Euro bekannt gegeben hat fürs kommende Jahr.

    Müller: Kann das denn tatsächlich aus Sicht der Verbraucher, aus Sicht der Betroffenen, insgesamt aus Sicht der Wirtschaft tatsächlich so stehen bleiben, wie Sie es gerade gesagt haben, am Anfang der Krise? Sind wir am Anfang der Krise?

    Rüttgers: Ja. Wir haben nach dem, was wir an Daten vorliegen haben, eine Situation, dass wir uns auf eine lang anhaltende Krise werden einstellen müssen. Fachleute rechnen damit, dass sie zwei Jahre und länger dauern kann. Es ist auch klar, dass das, was an Werteverlust in dieser Krise eintreten wird, eine Riesensumme beinhalten wird. Ich kenne internationale Schätzungen von fünf Billiarden US-Dollar. Das mag von den Zahlen vielleicht gegriffen sein; eines ist auf jeden Fall klar: Eine solche Weltwirtschaftskrise haben wir seit Menschengedenken nicht erlebt.

    Müller: Nicolas Sarkozy sagt, "Frankreich handelt, Deutschland denkt". Warum denken wir so viel?

    Rüttgers: Der Satz ist auch schon ein paar Tage alt und dadurch überholt, dass ja nicht nur das Treffen zwischen Wirtschaft und Bundesregierung am Sonntag stattgefunden hat, sondern die Bundesregierung jetzt angekündigt hat, Mitte Januar ein weiteres Paket vorzulegen.

    Müller: 13 Milliarden stehen jetzt zu Buche beim ersten Konjunkturpaket. Lassen wir den Rettungsschirm erst einmal bei Seite. Wie viel Geld müssen wir insgesamt jetzt in die Hand nehmen, um nach vorne zu kommen?

    Rüttgers: Auch da gibt es unterschiedliche Auffassungen, Herr Müller. Sie kennen das aus den Debatten der Wirtschaftsfachleute. Da wird von einem Prozent des Bruttoinlandsproduktes - das sind 25 Milliarden - geredet. Ich glaube, dass die Treffsicherheit wichtig ist. Die große Frage - und da hat die Bundeskanzlerin Recht - wird die Frage der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt sein. Wenn Sie etwa die Schätzungen des RWI in Essen nehmen, die im kommenden Jahr von einem Minus beim Bruttoinlandsprodukt von zwei Prozent ausgehen, dann bedeutet das ein Plus bei den Arbeitslosen von 600.000 zusätzlichen Arbeitslosen. Wenn man da was tun will, glaube ich, ist das schnellste was wirkt, dass man investiert. Dazu hatte ich gerade schon gesagt: in Innovation, in Bildung, in Infrastruktur. Aber es ist sicherlich mindestens genauso wichtig, dass wir eine Komponente bekommen, die dazu führt, dass die exzellenten mittelständischen Unternehmen, die wir in Deutschland haben, diese Krise überstehen können. Die haben es ja immer besonders schwer, weil da wird nicht so genau hingeschaut. Da sind aber die Hauptarbeitsplätze und da ist vor allen Dingen das internationale Knowhow, denn diese Firmen sind ja alle für die Globalisierung hervorragend in den letzten Jahren aufgestellt worden.

    Müller: Und die geben auch keine Jobgarantien?

    Rüttgers: Die können auch keine Jobgarantie geben. Aber gerade dennoch müssen wir helfen, vor allen Dingen weil, wenn man reinhört - und ich mache das sehr intensiv - in die Debatten in den Unternehmen, auch schon da die große Angst vorherrscht, dass im weiteren Verlauf der Krise Unternehmen, die eigenkapitalmäßig nicht besonders gut ausgestattet sind, dann von irgendwelchen ausländischen Fonds aufgekauft werden und damit natürlich auch das Knowhow aus Deutschland abziehen würde.

    Müller: Man könnte, Herr Rüttgers, ja auch ganz konkret helfen, also entlasten, bevor man zunächst mal wieder darüber redet, wo man investiert. Abschaffung Solidaritätszuschlag wird gefordert. Ist das richtig?

    Rüttgers: Sie wissen, dass es inzwischen eine ganze Hand, zwei Hände voll Vorschläge gibt, an welcher Stelle man steuerliche Veränderungen vornehmen will. Ich glaube, eines ist klar: eine grundsätzliche strukturelle Steuerreform geht nicht jetzt innerhalb von wenigen Wochen. Da wird man wahrscheinlich bis zur nächsten Legislaturperiode nach der Bundestagswahl warten müssen, weil das auch ein sehr konfliktreiches Feld für die Große Koalition gibt. Wenn sie kleinere Maßnahmen machen im Bereich der Steuer, dann haben sie nicht die steuerliche Wirkung. Ich habe persönlich einen Favoriten. Ich glaube, dass man wenn die Leistungsträger versuchen muss zu entlasten. Das wäre ein Einstieg im Bereich des Abbaus der kalten Progression. Aber da kommt es dann darauf an, dass man dazu auch eine politische Mehrheit in der Großen Koalition findet.

    Müller: Der Soli soll also bleiben. Wie ist das mit der Krankenversicherung?

    Rüttgers: Der Soli ist jedem Landeschef, jedem Ministerpräsidenten natürlich angenehm, weil der ausschließlich vom Bund bezahlt wird. Bei der Frage der Beiträge haben sie eine gute Entwicklung. Das schlägt durch für die Situation in den Unternehmen. Nur muss man ja darauf hinweisen, dass wir zum 1. Januar ein neues System bekommen.

    Müller: Was alles teuerer macht!

    Rüttgers: Ja, gut, aber das ist nun mal beschlossen und das kommt jetzt und damit haben sie das Problem, dass sie da nicht schon einfach direkt wieder anfangen können und sagen können, da kürzen wir einfach mal was in der Landschaft.

    Müller: Also ist das Populismus, Tabu?

    Rüttgers: Ich glaube, dass die Fülle dieser Vorschläge uns jetzt nicht weiterhilft. Deshalb in dieser nächsten Phase Konzentration auf Innovation, auf Infrastruktur und auf Bildung.

    Müller: Setzen wir hier, Herr Rüttgers, einen inhaltlichen Strich, eine Zäsur. - Es gibt Vorwürfe von politischer Kungelei bei der Verteilung von Bußgeldern an gemeinnützige Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen. Diese Vorwürfe stehen zumindest im Raum, aufgetaucht im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die umstrittene Staatsanwältin Margret Lichtinghagen. Sind Kabinettsmitglieder, sind Mitglieder der Landesregierung von dieser politischen Kungelei betroffen?

    Rüttgers: Nein. Ich kann das am eigenen Namen festmachen. In irgendwelchen Akten sind Listen aufgetaucht aus dem Bereich der Staatsanwaltschaft, wo mein Name draufsteht. Ich kenne die Staatsanwältin überhaupt nicht. Ich habe auch noch nie einen Ton mit der geredet.

    Müller: Und das gilt auch für die anderen Kabinettsmitglieder?

    Rüttgers: Der Kollege Pinkwart hat klar gesagt, dass er einmal mit Frau Lichtinghagen geredet hat. Da ist der Sachverhalt präsent. Da ist aber wohl nichts dagegen zu sagen, dass auf Befragen man einen Vorschlag macht und sagt, ihr müsst das entscheiden, aber da gibt es Leute, die was Gutes für andere Menschen tun. Der Kollege Laumann hat gestern klar erklärt, er kennt die Staatsanwältin nicht.

    Müller: Nun ist die Staatsanwältin ja nur die eine Seite der Medaille dieser Auseinandersetzung, dieser Vorwürfe. Es geht ja darum, inwieweit Gelder, Strafgelder, die der Staat einnimmt, also Bußgelder, dann hinterher weiter verwendet werden, an bestimmte Einrichtungen überwiesen werden. Gibt es dort eine politische Einflussnahme, die über das normale Reglement hinausgeht?

    Rüttgers: Ich glaube, das kann man klar mit Nein beantworten.

    Müller: Jürgen Rüttgers, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, bei uns im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch.