Freitag, 19. April 2024

Archiv


"Man war mit Hass erfüllt auf Eichmann"

Verkörperte Eichmann die "Banalität des Bösen"? War er Befehlsempfänger oder besessener Massenmörder? Moshe Zimmermann, Historiker an der Hebräischen Universität Jerusalem, sieht im "Schreibtischtäter" die übelste Form des Mörders - und fragt auch danach, warum Mossad und BND weiter ihre Archive verschlossen halten.

Moshe Zimmermann im Gespräch mit Dirk Müller | 11.04.2011
    Dirk Müller: "Ich war lediglich ein Werkzeug in der Hand stärkerer Kräfte und eines unerfindlichen Schicksals." Diese Aussage macht SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann im Juli 1961 vor dem Gericht in Jerusalem über seine Rolle im Holocaust. Eine persönliche Verantwortung für den millionenfachen Mord sieht er bis zuletzt nicht. Heute vor 50 Jahren, am 11. April 1961, beginnt der Prozess gegen Adolf Eichmann in Israel. Am Ende steht die vollstreckte Todesstrafe gegen einen der führenden Funktionäre des Nazi-Regimes, gegen denjenigen, der maßgeblich verantwortlich war für die Endlösung der Judenfrage. Zuvor hatte der israelische Geheimdienst den weltweit gesuchten SS-Mann in seinem Versteck in Argentinien ausfindig gemacht und nach Israel entführt.

    Am Telefon ist nun der israelische Historiker Professor Moshe Zimmermann. Er war heute vor 50 Jahren 17 Jahre alt. Guten Morgen nach Jerusalem.

    Moshe Zimmermann: Guten Morgen, Herr Müller.

    Müller: Herr Zimmermann, welche persönliche Erinnerung haben Sie an den Prozess?

    Zimmermann: Ich lief damals vom Zahnarzt zu einer Direktübertragung der ersten Sitzung. Der Saal war voll, für Leute gab es kaum Platz, aber es gab eine Direktübertragung in einen anderen Saal in der Nähe meiner Wohnung, in der Nähe des Gerichtssaals. Und daran kann ich mich sehr gut erinnern. Die Geschichte, das Ereignis war selbstverständlich für Kinder in meinem Alter damals sehr dramatisch.

    Müller: Was haben Sie gefühlt?

    Zimmermann: Etwas anderes, als ich heute fühle. Damals haben wir als Kinder, auch wenn wir schon 17 Jahre alt waren, nicht genau begriffen, was eigentlich der Nationalsozialismus bedeutete, wie alles funktionierte. Man war mit Hass erfüllt auf Eichmann und sah Eichmann als quasi Repräsentant der gesamten Shoa, des gesamten Holocaust. Und man erwartete selbstverständlich die Vergeltung oder die richtige Entscheidung der Richter, das was am Ende auch gekommen ist, die Hinrichtung von Adolf Eichmann.

    Müller: Sie haben gesagt, Herr Zimmermann, viele wussten damals auch in Israel nicht so viel. Zum ersten Mal kamen ja in dem Eichmann-Prozess öffentlich Zeugen zu Wort, eben auch in Israel zum ersten Mal. War das der eigentliche Beginn der Holocaust-Aufbereitung?

    Zimmermann: Das ist ein Mythos. Israel oder die Bevölkerung, die in Israel, früher in Palästina gelebt hat, hat sich seit 45, seit Ende des Krieges, mit dem Thema Holocaust sehr energisch, sehr intensiv befasst. Es gab einen großen Prozess auch in den 50er-Jahren um die Frage des Holocaust, der Kastner-Prozess. Das heißt, beschäftigt hat man sich schon vorher mit dem Thema. Selbstverständlich waren die Zeugen, die hier gehört wurden, zum Teil mit Geschichten aufgetreten, die neu waren für die Öffentlichkeit. Aber ganz so neu war die Sache nicht. Was neu war, war die internationale Dimension dieses Prozesses. Wie Herr Bach vorher gesagt hat, da zeigt sich der souveräne Staat Israel als Erbe, als alleiniger Erbe des jüdischen Volkes. Und als solches kann Israel den Erzmörder vor Gericht stellen. Das war neu und seitdem benutzt auch Israel den Holocaust auch als Argument, als Rechtfertigung sowohl für die Gründung des Staates als auch für ihre Politik.

    Müller: Der Prozess war ja in vielen Kreisen auch umstritten. Der Staat soll offenbar Druck gemacht haben, dass es zu einer Verurteilung kommt, dass es auch zu einer Todesstrafe kommt. War das ein Prozess, Rache und Vergeltung?

    Zimmermann: Das Problem war nicht so sehr die Art der Bestrafung. Was der Staat wollte – und der Staat sprach eigentlich aus dem Mund von David Ben-Gurion, dem ersten Ministerpräsidenten -, was der Staat wollte, war zu zeigen, welche Dimension der Holocaust hatte. Und zweitens, welche Rolle dann Israel spielt in der Nachkriegszeit. Das heißt, Israel ist eben die eigentliche Lösung der Judenfrage, die einzige Alternative zur Endlösung, wie die Nazis sie verübt haben. Das war die Hauptsache. Selbstverständlich gab es dort auch andere Interventionen. Sowohl der Staatsanwalt als auch der Regierungschef versuchten, eine bestimmte Linie zu schaffen. Aber im Grunde kann man nicht sagen, dass dieser Prozess eine Art von Schauprozess war.

    Müller: Ich frage dennoch noch mal nach, Herr Zimmermann. Rache und Vergeltung, das konnte man überall lesen, damals wie heute auch noch. War das eine Motivation?

    Zimmermann: Da war sehr schwer zu unterscheiden zwischen Rache und Gerechtigkeit. Da man sich so intensiv mit der Person Eichmann befasst hat, weil man ihn stellvertretend für die Shoa vor Gericht gestellt hat, waren die Emotionen eher in Richtung Rache schon vorprogrammiert. Aber es ist eine klare Sache: So ein Mensch wie Adolf Eichmann hatte nicht sehr viel mehr verdient als ein hartes Urteil. Wenn man heute die Leute fragt, bereut man vielleicht die Tatsache, dass man ihn damals hingerichtet hat, weil er als Informationsquelle noch später eine gute Quelle hätte sein können. Aber man muss summa summarum sagen, diese Kombination von Vergeltung und Gerechtigkeit, die ist eine sehr delikate Kombination oder war damals eine sehr delikate Kombination.

    Müller: Wie schwer, Herr Zimmermann, war das damals für die betroffenen Richter, neutral zu bleiben, rechtsstaatlich zu bleiben?

    Zimmermann: Man kann ja nicht neutral sein. Ein Richter ist auch nicht neutral, wenn ein Mord oder Vergewaltigung das Thema sind. Neutral konnten die Richter selbstverständlich nicht sein und Gott behüte, Neutralität könnte man auch von anderen Richtern nicht erwarten. Aber die Prozedur, die Beweisführung, all das ging nach den Regeln der üblichen Justiz im Westen oder in der aufgeklärten Welt, das gilt auch für Israel. Der große Vorteil in diesem Fall war, die drei Richter waren alle sogenannte Jeckes, das heißt Leute, die in Deutschland aufgewachsen sind. Die konnten die Mentalität von Eichmann sehr gut verstehen. Die unterhielten sich mit Eichmann während des Prozesses auf Deutsch. Deswegen hat hier die Frage der Neutralität sich ein bisschen relativiert, aber dadurch konnte man eigentlich zu einer viel besseren Entscheidung kommen. Die haben genau verstanden, worum es damals ging. Es ging um einen Schreibtischtäter, der ein Riesenmörder war.

    Müller: Nur einen Schreibtischtäter?

    Zimmermann: Was ist "nur"? Ich erlaube mir diese Frage. Schreibtischtäter ist der schlimmste Täter. Der ist jemand, der seine eigenen Hände nicht dreckig macht. Er ist derjenige, der die anderen in die Untat des Mordes schickt, aber er ist derjenige, der eigentlich die Sachen plant und dafür sorgt, dass die Sache, so wie es immer gesagt wurde, klappt. Also das ist schon eigentlich für die Geschichte des 20. Jahrhunderts von einer großen Bedeutung. Man muss nicht unbedingt der Scherge sein, der im KZ arbeitet, oder selbst jemand mit einem Genickschuss tötet. Jemand, der aus ideologischer Überzeugung und als guter Bürokrat so einen Massenmord organisiert!

    Müller: Ich habe, Herr Zimmermann, deshalb gefragt "nur Schreibtischtäter", weil ja die Thesen von Hannah Arendt auch sehr umstritten sind. Sie hat vom Schreibtischtäter Eichmann gesprochen und sie hat den Richtern damals vorgeworfen, sie hätten an Eichmann zu viel persönlich festgemacht. Ihre Argumentation war, das Böse ist banal. Also für Sie hat sie recht gehabt?

    Zimmermann: Also, man darf hier nicht übertreiben. Die Banalität des Bösen war ein Untertitel ihres Buches und das war auch kaum ihre Schuld, dass man das als Untertitel benutzt hat. Das war nicht die Grundthese. Was sie betont hat war die Relativierung der Rolle von Eichmann. Eichmann – und da hat sie recht – war ja nicht alleine, der war nicht der einzige, der dafür gesorgt hat, dass die Juden ermordet werden. Es gab seine Vorgesetzten, es gab seine Partner, seine ebenbürtigen SS-Leute, Leute aus der Verwaltung, die mitgewirkt haben. Was sie betont hat war eben, dass diese Arbeit nicht unbedingt immer ideologisch motiviert war. Und da muss man sie kritisieren. Er tat so, als ob er nur aus bürokratischen Überlegungen so effizient war. Aber die Ideologie, der Hass auf die Juden, das war bei ihm selbstverständlich die Grundlage. Er ging so weit, als er in Israel war und im Gefängnis saß, schrieb er seine Memoiren. Und da konnte er sogar eine Erklärung finden, nämlich, Schuld an der ganzen Sache waren die Zionisten. Die Zionisten, nämlich die Juden, haben die Deutschen provoziert, die Deutschen hatten keine andere Möglichkeit in ihrem Kampf gegen Juden. Und deswegen gingen sie über zur Endlösung. Und diese Endlösung, so nach seiner Erklärung, führte dazu, dass am Ende die Welt bereit war, die Gründung des Staates Israel zu legitimieren. Das ist seine Vorstellung, seine Erklärung, aber die zeigt genau, wie stark ideologisch er motiviert war, wie stark antisemitisch seine Haltung war.

    Müller: Herr Zimmermann, wir sollten auch noch einmal aktuell auf den Fall Eichmann schauen. Später ist ja herausgekommen, der BND und auch der CIA haben vom Aufenthaltsort Eichmanns gewusst und das Kanzleramt soll jetzt immer noch die Akteneinsicht verweigern. Können Sie das nachvollziehen?

    Zimmermann: Das ist hier das Problem mit Archiven. Die Archive versuchen immer, die Frist zu verlängern, wo man Archivalien nicht herausgibt. Das gilt sowohl für die Archive des BND als auch für die Archive des Mossads. Klar, kann man das heute nicht nachvollziehen. Wir müssten aufgeklärt werden über die Überlegungen damals in den 40er- und 50er-Jahren. Da sieht man, dass der BND auch die Hilfe von ehemaligen Nazis benutzt hat. Dass man schon sehr früh wusste, wo Eichmann ist, oder wo andere Leute sind, vor allem da in Argentinien. Aber da wird man auch erfahren, dass die israelischen Geheimdienste auch nicht besonders effizient waren oder nicht besonders bestrebt waren, hier solche Leute vor Gericht zu ziehen. Ohne Fritz Bauer, auch Hess aus Hessen, hätte man in Israel wahrscheinlich sich nicht so um Eichmann bemüht. Und die Tatsache, dass man den Eichmann erst im Jahre 1960 geschnappt hat, beweist, dass man wahrscheinlich vorher nicht genügend motiviert war, obwohl man eigentlich hätte informiert werden können, ihn festzunehmen und vor Gericht zu stellen. Und es geht nicht nur um Eichmann, sondern es geht um viele Kriminelle aus der Nazi-Zeit, die mit der sogenannten Judenfrage zu tun hatten, die noch sehr lange frei laufen konnten und bis in die 70er-, 80er- oder 90er-Jahre leben konnten, unbehelligt.

    Müller: 50 Jahre Eichmann-Prozess. Wir haben darüber gesprochen mit dem israelischen Historiker Moshe Zimmermann. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Zimmermann: Ich bedanke mich.