Freitag, 19. April 2024

Archiv


"Manchmal kommen Kinder ohne Schuhe und halbnackt"

Allein in den Libanon sollen nach Angaben des UNO-Flüchtlingshilfswerks etwa eine halbe Million Syrer geflüchtet sein. Mehr als die Hälfte von ihnen sind offenbar Kinder. Manche von ihnen landen auf der Straße.

Von Björn Blaschke | 22.06.2013
    Hamra - die berühmteste Shopping- und Flanier-Meile in Libanons Hauptstadt Beirut. Wer hierher kommt, hat Geld - oder nichts. So wie die vielen Straßenkinder, die allabendlich in der Hamra Blumen oder Kaugummis zum Verkauf bieten, Schuhe putzen oder Windschutzscheiben. Alle haben sie Angst, Mikrofon-Interviews zu geben, denn keiner von ihnen möchte erkannt werden. Die meisten sind illegal in Libanon; vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflohen. So wie Khudr:

    "Aus Aleppo bin ich. Ich bin schon lange hier. Sechs Monate ungefähr. Gekommen bin ich wegen Arbeit. Ich bin jeden Tag aus Syrien gekommen. Mit anderen Kindern. Wir haben Blumen verkauft. Eine Zeit lang ging das so. Dann haben wir entschieden zu bleiben. Wegen des Krieges. Wir sind nach Beirut gegangen. Wir haben in einem leer stehenden Gebäude geschlafen. Im Viertel Nabaa."

    Khudr sagt, dass er vierzehn Jahre alt ist; seiner Größe und Stimme nach passt das, nur sein Gesicht: Es ist irgendwie noch jungenhaft; hat aber gleichzeitig schon die Züge eines Erwachsenen; eines Mannes, der schon viele Härten durchlebt hat.

    "Wir hatten aus Syrien Geld mitgebracht. Davon haben wir Blumen gekauft, um sie in Hamra zu verkaufen. Ich, ein Cousin und noch einer. Und zehn Tage nachdem wir gekommen waren, haben sie uns aufgegriffen. Nach zehn Tagen oder so."

    "Haus der Hoffnung" ist das einzige Jugend-Erziehungsheim im Libanon
    Aufgegriffen wurde er von der libanesischen Polizei. Ein Jugendrichter veranlasste, Khudr im Beit Raja unterzubringen; im "Haus der Hoffnung". Die Einrichtung, etwas nördlich von Beirut gelegen, ist das einzige Jugend-Erziehungsheim des Landes. Die Kinder, die hierher kommen, gehören zu den Ärmsten der Armen, sagt Maher Taberan, der Direktor:

    "Wenn sie hierher kommen, sind sie dreckig, hungrig. Manchmal kommen Kinder ohne Schuhe und halbnackt. Wir kümmern uns dann von A bis Z um sie. Sie werden untersucht, bekommen etwas zu essen und Kleidung. Alles, was ein Kind haben sollte."

    Dazu zählt auch Schulunterricht, wobei viele, die im "Haus der Hoffnung" unterkommen, überhaupt erst einmal das Alphabet lernen müssen. Und Gemeinschaftssinn: Manche Kinder haben extreme Gewalt erlebt - im Bürgerkrieg in Syrien, in der eigenen Familie, auf den Straßen Libanons. Kaum eines von ihnen, das nicht sexuell missbraucht wurde. Ehrenamtlich kümmern sich Psychiater und Psychotherapeuten um sie. Auch drei Lehrer sowie drei Heimväter und -mütter sind vorrangig damit beschäftigt, den Kindern Teamgeist und Sozialsinn beizubringen; mit einfachsten Maßnahmen: Die Kinder spielen Fußball oder singen zusammen.

    Für Kinder und Jugendliche wie den vierzehnjährigen Khudr aus Aleppo ist das alles Glück im Unglück: Immerhin haben sie einen Platz in dem Erziehungsheim bekommen.

    "Wir haben zwischen 50.000 und 80.000 Straßenkinder in Libanon. In der Mehrheit sind es Syrer. Sie sind geflohen."

    Heim ist auf Spenden angewiesen
    Direktor Taberan spricht dabei sowohl von Kindern, die mit ihren Eltern geflohen sind und von denen auf die Straße geschickt werden, als auch von Kindern wie Khudr, die allein nach Libanon gekommen sind. So oder so: Viele Tausende sind es im ganzen Land. Da bräuchte Maher Taberan ein ganze Stadt, wenn er sie aufnehmen wollte. Und viel, viel Geld. Das libanesische Sozial-Ministerium zahlt dem "Haus der Hoffnung" lediglich eine Beihilfe für 70 Kinder; die jüngsten sind anderthalb Jahre alt; die ältesten achtzehn. Da die wenigsten von Taberans Kinder Papiere haben, sind sie auch zum Beispiel nicht beim Flüchtlingshilfswerk der UNO registriert. Sie fallen durch alle Raster. Direktor Taberan ist deshalb überwiegend damit beschäftigt, Spenden zu sammeln, was in dem komplizierten Gesellschaftsgeflecht Libanons nicht einfach ist. Das "Haus der Hoffnung" hat einen christlichen Träger. Die verwahrlosten Kinder, die es aufnimmt, sind aber fast alle Muslime.

    "Es ist nicht einfach hier. Wenn man nicht einer Partei zugehört oder einer Religionsgruppe, ist es nicht einfach Spenden zu bekommen. Und das ist auch das Hauptproblem, mit dem wir hier konfrontiert sind."

    Gerade lässt Direktor Taberan einen Mädchen-Schlafsaal neu streichen; danach ist eine Jungen-Unterkunft an der Reihe. Die anderen Räume hätten auch frische Farbe nötig, die alte bröselt von den Decken und Wänden. Aber Taberan fehlt das Geld. Nachbarn, bei denen das "Haus der Hoffnung" unbeliebt ist, haben seine Renovierungspläne vorerst durchkreuzt: Taberan musste gerade für tausend Euro einen Zaun um den Pausenhof ziehen lassen; Anwohner hatten Angst, dass ein verschossener Fußball parkende Autos treffen könnte.

    Gefängnisstrafen schrecken verzweifelte Eltern nicht nicht
    Neben den finanziellen Problemen bereitet Maher Taberan vor allem eines Sorgen: Straßenkinder, die bei ihm per Gerichtsbeschluss untergebracht werden, können durch einen zweiten Richterspruch wieder zu ihren Eltern zurück, wenn die einen entsprechenden Antrag stellen. Zwar riskieren diese Eltern eine Haftstrafe dafür, dass sie ihre Kinder auf die Straße schicken, weil das libanesische Gesetz Kinderarbeit verbietet. Aber: Manche gehen lieber ins Gefängnis, als auf ihren Nachwuchs zu verzichten, oft wohl weniger aus Liebe, als aus purer Not. Sie missbrauchen ihre Kinder, damit Geld in die Haushaltskasse kommt.

    "Letzten Monat war ich auf der Hamra-Straße, gegen 9:00 Uhr abends. Und vier Kinder stürmten auf mich zu. Hallo, Maher, riefen sie. Und die waren vorher hier. Nachdem ihre Eltern sie hier heraus geholt hatten, waren sie gleich wieder auf der Straße. Weil sie müssen."

    Der 14-jährige Khudr, der der turkmenischen Minderheit in Syrien angehört, wird wohl nicht so schnell abgeholt. Er ist ohne Eltern aus Syrien geflohen. Sein Vater ist vor ein paar Jahren verstorben; seine Mutter wohnt mit einem kleineren Sohn im syrischen Aleppo. Khudr ist froh, dass er im "Haus der Hoffnung" untergekommen ist - und trotzdem überkommt ihn manchmal Sehnsucht.

    "Ich bin traurig. Ich kann nicht mit meiner Mutter am Telefon sprechen. Das Telefon funktioniert nicht mehr in Syrien.
    - Bist Du sehr traurig?
    Nicht sehr.
    - Aber manchmal fragst Du Dich schon, wo ist meine Mutter?
    Ja."


    Mehr zum Thema:

    "Wir haben die nackte Not gesehen" - UN-Nothilfekoordinatorin berichtet über verheerende Zustände in syrischen Flüchtlingslagern
    Wie der Syrien-Konflikt auf den Libanon übergreift - Der Dramaturg Matthias Lilienthal berichtet von der Lage vor Ort
    Hilfe für syrische Flüchtlinge - EU-Innenminister beraten über Asylpolitik und Gefahr durch Bürgerkriegskämpfer
    Leute, habt ein Herz! - Eine dänische Autorin gerät zwischen die Fronten eines Streits um Kriegsflüchtlinge
    Das Ringen um den Minimalkonsens - G8-Länder suchen gemeinsame Haltung im Syrien-Konflikt