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"Manfred"-Sinfonie
Orchestermusik wie aus dem Starkstromaggregat

Peter Tschaikowskis technisch anspruchsvolle Programmsinfonie "Manfred" wird eher selten aufgeführt. 2013 hat der Lette Andris Nelsons das Werk beim City of Birmingham Symphony Orchestra dirigiert. Die Konzertaufnahme ist gemeinsam mit dem "Slawischen Marsch" bei Orfeo erschienen und offenbart glühende Intensität.

Von Marcus Stäbler | 19.07.2015
    Andris Nelsons, Musikalischer Direktor des Birmingham Symphony Orchestras, dirigiert bei einem Auftritt in Prag am 20. August 2010.
    Andris Nelsons, Musikalischer Direktor des Birmingham Symphony Orchestras, bei einem Auftritt in Prag am 20. August 2010 (dpa / picture alliance / Stanislav Zbynek)
    1885 schrieb Peter Tschaikowski an seine Vertraute Nadeshda von Meck:"Ich arbeite an einem komplizierten sinfonischen Werk, dessen Inhalt dermaßen tragisch ist, dass auch ich mich langsam in einen Manfred verwandle." Ein klares Bekenntnis. Durch seine Auseinandersetzung mit Lord Byrons dramatischem Gedicht "Manfred" fühlte sich der Komponist mehr und mehr als Geistesverwandter der Titelfigur: ein einsamer Grübler auf den Spuren von Goethes "Faust".
    Lord Byrons Manfred ist ein Ausgestoßener der Gesellschaft - gequält von den Erinnerungen an eine verbotene Liebe. Gerade dieser Aspekt der Selbstanklage, in dem sich Byrons Verhältnis zu seiner Halbschwester spiegelt, dürfte Tschaikowskis Nerv getroffen haben. Denn Schuldgefühle plagten auch ihn - weil die Gesellschaft den Menschen damals umbarmherzig einbläute, die Liebe unter Männern sei gegen die Natur. Kein Wunder also, dass sich der Komponist in Byrons Manfred wieder fand.
    Als er seinen heimlichen Geliebten, den todkranken Geiger Josif Kotek, zum letzten Mal besuchte, begann Peter Tschaikowski mit der Arbeit an seiner Manfred-Sinfonie. Ein rund einstündiges Stück für großes Orchester; technisch anspruchsvoll und üppig besetzt - und wohl auch deshalb eher selten aufgeführt. Andris Nelsons hat die Manfred-Sinfonie im September 2013 beim City of Birmingham Symphony Orchestra dirigiert und dafür hymnische Rezensionen geerntet. Die mitreißende Wucht seiner Interpretation ist auch in der Konzertaufnahme zu spüren, die kürzlich bei Orfeo auf CD erschienen ist.
    Ekstatisches Rauschen prallt auf düster gründelnde Melancholie
    Orchestermusik wie aus dem Starkstromaggregat - gespeist vom dirigentischen Kraftwerk Andris Nelsons. Der Lette, Jahrgang 1978, galt bis zur Wahl von Kirill Petrenko einer der Favoriten auf die Nachfolge von Simon Rattle bei den Berliner Philharmonikern. Auch er wäre wohl ein würdiger Chef gewesen. In der Aufnahme der Manfred-Sinfonie mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra demonstriert Nelsons jedenfalls seinen Ausnahmerang.
    Als Schüler des legendären Petersburger Dirigierprofessors Alexander Titow ist er bestens mit der russischen Tradition vertraut. Nelsons verbindet dieses Gespür für den slawischen Ton mit großer Leidenschaft und Hingabe. Er inszeniert die Bilder der Manfred-Sinfonie nicht aus der Distanz des Betrachters, sondern wühlt sich in die emotionalen Tiefenschichten hinein. Der lettische Dirigent durchlebt das Drama des einsamen Anti-Helden mit Leib und Seele. Im ersten Satz, "Lento lugubre", irrt Manfred durch die Bergwelt des Berner Oberlands. "Sein Leben ist zerschlagen ... Gedanken und Erinnerungen quälen ihn", schreibt Tschaikowski in seiner Inhaltsangabe zur Programmsinfonie - und malt die Szenerie mit dunklen Farben aus. Nelsons formt hier mit seinem Orchester aus Birmingham einen sämigen Klang und gibt ihm eine geradezu russische Schwere.
    Ekstatisches Rauschen prallt auf düster gründelnde Melancholie; Steigerungswellen münden in idyllische Ruhepunkte: Gerade im ersten Satz seiner Manfred-Sinfonie fesselt Peter Tschaikowskis den Hörer mit einer Fülle an Kontrasten und einer meisterlichen Dramaturgie. Andris Nelsons kostet den Reichtum an musikalischen Charakteren aus und lenkt den Wechsel der Energieströme souverän. Er gibt den weit ausgreifenden Melodiebögen Luft zum Atmen und nimmt sich Zeit für kleine agogische Nuancen, um im nächsten Moment das Tempo anzuziehen - etwa wenn er die Fuge im Finale mit viel Drive voran treibt.
    Nelsons stürzt sich kopfüber in die Musik hinein, er scheut kein Risiko und reißt seine Kollegen im Orchester mit - sie haben eigentlich gar keine andere Chance als auf der Stuhlkante zu sitzen. Von 2008 bis zum Ende dieser Saison war Andris Nelsons Chefdirigent in Birmingham; das Orchester hat ihn sehr geschätzt und ist ihm auch in den Konzerten im September 2013 bedingungslos gefolgt.
    Live-Aufnahme mit einem hohen Maß an Disziplin
    Neben der glühenden Intensität offenbart die Live-Aufnahme ein hohes Maß an Disziplin. Im zweiten Satz der Sinfonie etwa entwirft Tschaikowski die Vision einer Alpenfee, die Manfred unter einem Regenbogen an einem Wasserfall erscheint. Mit seinen wirbelnden Figuren erinnert dieser Satz, Vivace con spirito, an Mendelssohns Elfenscherzi. Das Orchester spielt sehr präzise, ohne dass es nach penibler Maßarbeit klingt und offenbart dadurch den luftigen Charme der Musik.
    Ein Beleg für den feinen Klangsinn von Andris Nelsons und das hohe technische Niveau seines City of Birmingham Symphony Orchestra: der Beginn des Vivace con spirito aus der Manfred-Sinfonie von Peter Tschaikowski.
    Nur ganz vereinzelt, etwa im Finale, kommen Nelsons und sein Klangkörper kurz mal ins Wackeln; da ist das Orchester für wenige Stellen nicht ganz zusammen. Aber das ist eigentlich kein echtes Manko, sondern ein weiteres Zeichen für die Musizierhaltung des Dirigenten. Ausdruck und geistige Frische stehen für ihn im Vordergrund; dadurch bekommt Tschaikowskys Klangsprache eine Aktualität und Dringlichkeit, wie man sie selten hört. Dieser lebensnahe Zugriff ist in der Konzertaufnahme deutlich zu spüren, mitsamt der natürlichen Atemgeräusche von Nelsons - auch im ersten Stück der CD, dem Slawischen Marsch von Tschaikowski, der Nostalgie und patriotischen Siegesjubel vereint.
    Das war der Slawische Marsch von Peter Tschaikowski - zu hören in einer Aufnahme mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra unter Leitung von Andris Nelsons. Die CD mit dem Marsch und der Manfred-Sinfonie ist bei dem Label Orfeo erschienen.
    "Tschaikowski. Manfred-Sinfonie. Slawischer Marsch", City of Birmingham Symphony Orchestra, Andris Nelsons, Orfeo C 895151 A