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Manfred Winkler: "Haschen nach Wind"
Sehnsucht über Länder und Zeiten hinweg

Dem nahezu unbekannten Dichter Manfred Winkler hat der Arco Verlag ein bleibendes Denkmal in Buchform errichtet. 800 Seiten deutsche Gedichte, überwiegend in Israel entstanden: ein blinder Fleck weniger in der bewegenden Geschichte deutscher Literatur im Ausland.

Von Brigitte van Kann  | 02.04.2018
    Buchcover: Manfred Winkler: "Haschen nach Wind"
    Eine eigene Farbe im Mosaik deutscher Dichtung im Ausland: Manfred Winkler (Buchcover: Arco Verlag, Hintergrundfoto: G. Bergs)
    "Eine Gegend, in der Menschen und Bücher lebten", hat der gebürtige Czernowitzer Paul Celan seine Heimat, die Bukowina, einmal genannt. Aus der Bukowina am südöstlichen Karpatenrand stammt auch Paul Celans nahezu unbekannter Dichterkollege Manfred Winkler, der dort 1922 in einem Landstädtchen als Kind einer assimilierten, wohlhabenden jüdischen Familie zur Welt kam. Nach eineinhalb Jahrhunderten unter Habsburger Herrschaft gehörte die Bukowina damals seit vier Jahren zu Rumänien. Wie fast alle bürgerlich-jüdischen Familien in diesem toten Winkel Europas pflegten Manfred Winklers Eltern weiterhin ihre Vorliebe für die deutsche Sprache und Kultur. 1936 schickten sie ihren Sohn in die vielsprachige, multikulturelle Provinzmetropole Czernowitz, wo er ein deutsches Gymnasium besuchte. Als die Sowjetunion 1940 infolge des Hitler-Stalin-Pakts die Nordbukowina annektierte, wurden Manfred Winklers Eltern und sein Bruder verschleppt.
    "Mein Vater der ein bekannter Rechtsanwalt war
    ist nicht alt geworden, er
    steht vor mir
    als wär er nicht mein Vater der ein bekannter Rechtsanwalt war"
    [...]
    Mein Vater, der in der kasachischen Hungersteppe 1942
    in der sowjetischen Verbannung
    Selbstmord begangen hat
    und ich der damals 20 Jahre alt war –
    fern in einer anderen."
    Sein Bruder überlebt den Gulag. Wie seine Mutter ums Leben gekommen ist, hat Manfred Winkler nie in Erfahrung bringen können. Auf das in Leben und Werk traumatisch nachwirkende "Russenjahr" folgt die deutsche Okkupation mit ihrem Plan der totalen Vernichtung. Manfred Winkler, der junge Jude mit dem urdeutschen Namen, überlebt eines der berüchtigten transnistrischen Lager. Die Erfahrung der Ausgrenzung und Entrechtung, das Bewusstsein von der Ermordung der europäischen Juden wird später ein beherrschendes Thema seiner Gedichte werden. Nach der Befreiung 1944 erlaubt die Sowjetmacht den "Restjuden", wie Winkler die Überlebenden in bitterer Ironie nannte, die Ausreise nach Rumänien.
    Auf das "Russenjahr" folgt die deutsche Okkupation
    Der 23-Jährige zieht nach Timişoara, in die Hauptstadt des Banats, wohl bekannter unter ihrem ungarischen Namen Temeswar. Im sozialistischen Rumänien wird Winkler als "rumäniendeutscher" Dichter geführt; er veröffentlicht einen Gedichtband und ein paar Kinderbücher; er beginnt zu zeichnen, erste Plastiken entstehen.
    1959 erhält Manfred Winkler die ersehnte Ausreise-Erlaubnis nach Israel. Seine Manuskripte, seine bildnerischen Arbeiten darf er nicht mitnehmen. Sie gelten als verschollen – ein Verlust, der möglicherweise mit dazu beitrug, dass der Dichter so lange unbekannt geblieben ist. Eine Rolle mag auch sein Alter gespielt haben: In den 1930er-Jahren, als sich der Ruhm der Czernowitzer Dichterplejade herausbildete, war er noch ein Schuljunge, während seine älteren deutschsprachigen Dichterkollegen Alfred Margul-Sperber, Alfred Kittner, Immanuel Weißglas und Rose Ausländer bereits publizierten.
    Die Ankunft in "Altneuland", wie Manfred Winkler Israel nennt, setzt ungeahnte Kräfte in ihm frei – er lernt Ivrit und beginnt in dieser Sprache zu dichten. Für seine vier hebräischen Gedichtbände wird er 1999 den renommierten Literaturpreis des Israelischen Ministerpräsidenten erhalten.
    Aber Winkler bleibt immer auch ein Dichter deutscher Sprache und Kultur. Sie sind das einzige Erbe aus Kindheit und Jugend, das er besitzt. Um es mit Paul Celan zu sagen: "Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache." Ein immaterieller Schatz, eine Zuflucht, vielleicht auch ein Trost für Celan wie für Winkler, die beiden Schicksalsverwandten: Auch Paul Celan überlebte das Lager und verlor seine Eltern.
    "im Gedanken an Paul Celan
    Wenn ich dunkel sehe
    und das Licht
    durch die Nebel bricht,
    erinnere ich mich an dich
    meiner Mutter Schwesterkind –
    der Zeit der Stege und Berge
    wo sich Horizonte über
    den schwarzwaldigen Gipfeln trafen.
    Ich hielt deine Hand
    doch niemand kam
    dem wirs sagen konnten
    und niemand in dessen Augen
    das vorgezeichnete Beisammensein
    verzeichnet geblieben ist,
    der unsrer gemeinsam entworteten
    Orte gedachte im karpatisch
    menschenvergessenen Land der Sagen,
    wo man nur an Begräbnissen
    das lange Huzulenhorn blies.

    Es war die Stundenzeit der Noch-Nicht-Toten
    vor dem Ganz-Großen-Krieg."
    Celan und Winkler, zwei Schicksalsverwandte
    Manfred Winkler übersetzte Paul Celans Gedichte ins Hebräische, er begleitete seinen Bukowiner Landsmann auf dessen Israelreise 1969 und trug schwer an der Nachricht von Celans vermutlichem Freitod ein Jahr später in Paris. Winklers poetische Zwiesprache mit dem ungleich berühmteren Kollegen zieht sich durch sein Werk und lässt vermuten: Celans überlegener Rang war dem Dichter in Israel bewusst. Als Leser sollte man beider Gedichte nicht miteinander vergleichen – obwohl naheliegend, wäre es Winkler gegenüber zutiefst ungerecht: Auch wenn er Celans Weltgeltung nicht beanspruchen kann, so ist er doch eine eigene Farbe im Mosaik deutscher Dichtung im Ausland. Es lohnt sich, sie zu kennenzulernen. Nicht nur, weil sie die tragische Geschichte des 20. Jahrhunderts und den nicht minder tragischen Lebensweg des Dichters spiegelt – sondern auch um der ein oder anderen Einsicht aus den Altersgedichten willen, zum Beispiel der, dass man auch als Mensch von 80 oder 90 Jahren noch ein Bündel voller Sehnsucht sein kann.
    "Gib mir die Hand
    Und lass uns gehen
    Gleich wohin – nur,
    Um den Weg zu sehen
    Und unsre Schritte auf der Erde
    Zu hören und zu spüren.
    Komm in die Wüste, die
    So schön wie endlos ist,
    Und lass uns schwimmen
    In dem Meer, das blau
    Und unergründlich ist."
    Manfred Winkler sprach mit seiner Frau und seinen Freunden Deutsch, er stand einem Kreis deutschsprachiger Dichter in Israel vor – dennoch war er abgeschnitten von der lebendigen, sich verändernden Muttersprache. Ein Manko, das die ewig junge Sprache deutscher Dichtung und Prosa kompensieren half: Mit Goethe und Rilke, Heine und Kafka, Brecht und Else Lasker-Schüler, die in Jerusalem am Ölberg begraben liegt, verbindet sich Manfred Winkler in seinem sprachlichen Exil über die Länder und Zeiten hinweg. So ist es schön und sinnfällig, dass der Arco Verlag Manfred Winklers Gedichte in der Reihe "Europa in Israel" herausgebracht hat.
    "Warum wenn ich erwache
    ist immer Mitternacht in mir
    und ein Lied beginnt
    wie bei Sonnenuntergang
    verliert sich hinter dem Horizont
    und versinkt ins Meer
    um wieder in Amerika aufzugehen
    Dann denk ich immer an die Lorelei
    eines anderen Dichters
    mit ihrem goldnen Haar das sie kämmt
    und an meine mit ihrem dunklen"
    Über Länder und Zeiten hinweg
    Das Amalgamieren ist die Spezialität dieses Dichters: Er kreuzt Heines ironisches Liebesgedicht "Das Fräulein stand am Meere" mit Celans "Todesfuge", die Aale aus Günter Grass’ "Blechtrommel" winden sich in den Erinnerungen an seine "versunkenen Jugendjahre in der Ukraine". Bei weniger offensichtlichen Bezügen ist der Leser dankbar für den ausführlichen Kommentar.
    Natürlich fehlt auch die Bibel nicht: Hiobs Leiden, die Geschichte von Kain und Abel als Parabel für den israelisch-palästinensischen Bruderkrieg, vor allem aber die abgeklärte Weisheit des Predigers Salomo: Ihr verdankt der Gedichtband seinen Titel "Haschen nach Wind".
    Manfred Winklers Dichten folgte Stimmungen und Eingebungen, nicht strengen Vorsätzen oder Schemata. In seinem in Rumänien veröffentlichten Gedichtband finden sich noch Reime, später verzichtete er ganz darauf. Rhythmus und Klang binden die Sprache, bisweilen führen sie geradezu ein Eigenleben und verrätseln das dichterische Wort.
    Entschieden mehr ein kreativer als ein ordnungsbeflissener Geist
    Monica Tempian, neben Hans-Jürgen Schrader Herausgeberin des Buchs, gewann bei der Sichtung von Manfred Winklers Nachlass Einblick in dessen Werkstatt: Offenbar schrieb er seine Gedichte in einem Zug, um dann oft monatelang an ihnen herumzufeilen. Die Texte "im Wust seiner Schubladen" verrieten ihr, dass Winkler, wie sie in ihrer editorischen Notiz schreibt, "entschieden mehr ein kreativer als ein ordnungsbeflissener Geist" gewesen ist. Eine Ordnung haben nun die beiden Herausgeber nach allen Regeln der germanistischen Kunst hergestellt: Ihr Band "Haschen nach Wind" bündelt alle Ausgaben, die Manfred Winkler selbst zu Zyklen zusammenstellte, sowie einzeln erschienene Gedichte und einen großen Schwung "Unpubliziertes aus dem Nachlass". Mit stolzen 880 Seiten zwar kein Bändchen für die Jackentasche, aber doch ein portables Archiv dieses nun nicht mehr ganz unbekannten deutschen Dichters aus Israel.
    Manfred Winkler: "Haschen nach Wind. Die Gedichte"
    Hrsg. von Monica Tempian und Hans-Jürgen Schrader. Arco Verlag, Wien/Wuppertal. 880 Seiten. 39 Euro.