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"Mangel und Bedrückung"

Nach Erfahrungen der Berliner Sozialarbeiterin Sabine Bresche hält Scham viele sozial schwache Familien von der Inanspruchnahme staatlicher Hilfe ab. Unter der angespannten Situation in ihren Elternhäusern litten besonders die Kinder. "Mangel und Bedrückung bestimmen ihr Lebensgefühl", sagte sie.

Moderation: Elke Durak |
    Elke Durak: Man kann es nicht anders formulieren als so: Es ist eine Schande! In Deutschland werden immer schneller immer mehr Kinder arm, und kaum einer in Europa macht uns da Konkurrenz. Über 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche leben über Jahre auf Sozialhilfeniveau, mit allen Folgen für die Gesundheit, die Bildung, die Ausbildung, die Arbeitsfähigkeit und -möglichkeit, die gesellschaftliche Akzeptanz und Bindung. Spitzenplatz: Berlin: Dort lebt jedes dritte Kind von staatlicher Unterstützung. Nun versuchen Kinderschutz- und andere Organisationen, versucht der Senat zu helfen. Es gibt zum Beispiel überregionale Beratungsstellen, Sozialarbeiter kümmern sich, Sabine Bresche ist eine von ihnen, ich erreiche sie jetzt in Berlin. Guten Morgen, Frau Bresche!

    Sabine Bresche: Guten Morgen, Frau Durak!

    Durak: Wir wollen etwas konkret über Ihre Arbeit erfahren, wie erfahren Sie von Kindern und Jugendlichen, denen Sie helfen müssten, wollen oder vielleicht auch können, kommen die Eltern zu Ihnen oder die Kinder?

    Bresche: Bei uns ist es so, dass sich die Eltern direkt bei uns melden, zum Teil melden sich auch Kinder oder auch Jugendliche selber, und der Kontakt kommt über das Telefon zustande. Und das macht es gerade für die Familien einfach, weil: Zum einen haben sie den Abstand, sie müssen sich nicht direkt jemandem persönlich präsentieren, und zum anderen, über das Telefon: Man muss den Namen nicht sagen, und das ist ein ganz, ganz großer Vorteil.

    Durak: Wie lange dauert es dann, bis die Familien auch Sozialarbeiter wie Sie direkt zu sich lassen in die Wohnungen?

    Bresche: Das dauert schon sehr lange. Die Familien, die bei uns anrufen, haben einen enormen Leidensdruck, und sie wissen dann schon halt nicht mehr, wo vorne und hinten ist und wie sie aus der Situation herauskommen. Was sie merken, ist, sie brauchen auf alle Fälle Hilfe, und oftmals haben sie dabei noch keine Vorstellung, wie diese Hilfe aussehen könnte.

    Durak: Das heißt, sie fragen nicht gleich immer nur nach Geld, sondern auch nach anderer Hilfe?

    Bresche: Ganz genau. Sie erzählen eigentlich, also es ist dann immer erst ein vorderes Ereignis, weswegen sie anrufen. Und wir versuchen dann am Telefon schon einmal zu schauen, können wir der Familie ein Angebot machen, und dann wird ein Termin bei uns ausgemacht oder zum Teil auch bei den Familien zu Hause, und dann schauen wir uns mit ihnen ihre Situation genauer an. Damit es aber überhaupt auf das Thema Geld kommen kann, braucht es wirklich auch erstmal etwas Zeit, weil: Die Familien schämen sich ganz einfach auch dafür. Also ich denke, es ist in der Gesellschaft schon eher so, dass man sagt, eigentlich muss man mit seinen Problemen alleine klarkommen und das alleine schaffen, das heißt, sie müssen erstmal Vertrauen zu uns aufbauen, dass wir ihnen helfen wollen und dass wir sozusagen nichts Böses im Sinn mit ihnen haben.

    Durak: Sie kennen ja sicherlich, Frau Bresche, den Vorwurf, Leute, die von Sozialhilfe abhängig sind, seien zu faul zum Arbeiten, aber immer als erste da, wenn es etwas umsonst gibt. Es gibt sicherlich auch solche Leute unter den Armen. Haben Sie mit solchen Kontakt?

    Bresche: Mit solchen haben wir in der Regel nicht Kontakt. Die Familien, die wir bei uns in der Beratung haben, sind wirklich von ihrem Lebensgefühl von dem Mangel gekennzeichnet. Man muss sich vorstellen, bei diesen Sozialleistungen oder auch bei Familien mit niedrigen Einkommen ist wirklich bloß das Notwendigste eigentlich des Alltages zu bestehen, und das heißt, selbst bei einer guten Finanzführung dürfen keine besonderen Ausgaben mit dazu kommen, und besondere Ausgaben sind zum Beispiel, wenn ein Kind einen Wachstumsschub hat oder wenn früher als geplant neue Schuhe anstehen, das sind alles Sachen, die den Finanzplan vollkommen durcheinander würfeln. Oder wenn es zum Beispiel darum geht, dass Unternehmungen von der Kita gemacht werden oder von der Schule, das sind alles Extraausgaben, wo es den Eltern schwer fällt, weil sie ein schlechtes Gewissen haben. Einerseits möchten sie ihren Kindern das ermöglichen, und andererseits müssen sie immer wieder sagen, Kind, das können wir uns nicht leisten. Und das hat natürlich eine wechselseitige Beziehung, weil die Kinder erleben, dass ihre Eltern einfach nur sagen, das können wir uns nicht leisten, das können wir uns nicht leisten. Und sie merken und erleben es, dass ihre Eltern sich Sorgen machen, dass die Eltern ängstlich sind, dass die Eltern angespannt wirken und dass sie in der Hauptsache mit sich selber beschäftigt sind. Da ist wenig Platz für die Kinder dann.

    Durak: Und die Kinder sind dann wütend, traurig?

    Bresche: Die Kinder sind zum Teil wütend, die Kinder sind zum Teil traurig, und irgendwann sind die Kinder halt auch sehr isoliert, weil sie einfach merken, Papa und Mama haben gar keinen Platz mehr für mich, wenn ich mit einer Sache ankomme, weiß ich sowieso schon, das können wir uns nicht leisten, und Papa und Mama haben selbst mit sich zu tun.

    Durak: Und dann gehen die Kinder weg, ob direkt oder geistig?

    Bresche: Genau, genau. Es findet eigentlich in den Familien ganz oft etwas statt, dass man sagen muss, sie haben keinen Kontakt mehr miteinander, sie können gar nicht mehr aufeinander eingehen. Und wenn man sich versucht vielleicht einfach vorzustellen, wie das ist, dass man einen ganzen Monat eigentlich nur am Rumrechnen ist und am Rumschieben, schafft man es bis zum Ende des Monats?, dann kann man sich vielleicht gut vorstellen, dass irgendwann keine Lebensfreude mehr da ist, weil es immer nur danach geht, schaff ich es, schaff ich es, schaff ich es? Und da ist wenig positive Bestätigung.

    Durak: Wenn Kinder unter solchem Dauerdruck stehen, wie entwickeln sie sich, wie lernen Sie sie kennen, wenn sie dann schon so halbe Jugendliche sind?

    Bresche: Wir lernen sie unterschiedlich kennen. Und ich denke, das liegt natürlich auch an der menschlichen Persönlichkeit. Jeder hat für sich so seine Schutzmechanismen, wie er mit schwierigen Situationen umgeht. Entweder sind Kinder vollkommen in sich zurückgezogen oder sie verbringen die meiste Zeit irgendwie auf der Straße. Es kann auch sein, dass sie einfach aggressiv werden, dass sie viele Sachen zerstören, wo man eigentlich auf den ersten Blick gar nicht genau sieht, woran das liegen kann. Es fehlt ihnen etwas, und Mangel und Bedrückung bestimmen ihr Lebensgefühl. Und sie haben wenig Freude, sie sind wenig mit Freunden eingebunden, und es gibt kaum ein Miteinander.

    Durak: Frau Bresche, Sie tun dies ja schon einige Zeit lang, sich mit solchen Kindern und Schicksalen, Familien zu beschäftigen. Weshalb tun Sie das?

    Bresche: Ganz einfach, weil diese Familien, auch wenn es so auf den ersten Blick nicht scheint, ganz, ganz viele Stärken haben, Stärken, die einfach im Laufe der Zeit verbuddelt sind oder verloren gegangen sind, und es ist ein ganz, ganz spannender Prozess, mit den Familien daran zu arbeiten, diese Stärken wieder herauszuheben und zu schauen einerseits, wie kann man die finanzielle Situation der Familie strukturieren und wie kann man dort einen "sicheren Plan" erstellen?, und zum anderen mit Eltern und Kindern gemeinsam wieder zu gucken, dass sie zusammen Kontakt aufnehmen, dass man zusammen schaut, wo können sie Sachen zusammen machen, wo haben sie zusammen Spaß, wo haben sie zusammen Freude?, dass man sich einfach wieder Sachen nachfragt, wie geht es dir und wie geht es dir damit?, das ist ein ganz, ganz spannender Prozess, und es ist eine wunderschöne Arbeit.

    Durak: Dankeschön. Sabine Bresche war das, Sozialarbeiterin für den Kinderschutzbund und den Berliner Senat in Berlin also. Frau Bresche, einen schönen Tag wünsche ich Ihnen.

    Bresche: Ebenso Frau Durak, dankeschön.