Denn: Im Zeitalter universeller Spontaneität ist der Reiz groß, der von Reich-Ranickis Grundsatz aus geht: der Kritiker reagiere auf ein Buch "von Fall zu Fall", ohne verbindliche Normen, ohne Theorie. Daß man auch bei Lessing schon entsprechende Stellen finden konnte, gibt dem Theoriefeind die höchst seriös anmutende Legitimation, eher den Literaturbeilagen am Wochenende zu trauen als den unendlichen Listen mit Sekundärlitertatur zum Semesterbeginn. Dem aufgeweckten Germanistikstudenten wird allerdings nicht die Methode entgangen sein, wie sich M.R.-R. in die literaturkritische Tradition einreiht. Sie ist ebenso simpel wie genial.
Ganz gleich, ob er sich Lessing, Fontane, Benjamin, Tucholsky oder Friedrich Sieburg vornahm - indem er über sie schrieb, schrieb er immer auch über sich selbst. Von Lessing holte er sich die Legitimation des kritischen Urteils, so vernichtend es auch für den Verfasser des Kunstwerks ausfallen möge; von Fontane übernahm er Schlüsselbegriffe wie "unmittelbare Empfindung", "gesunder Menschenverstand" und damit die Ablehnung eines verhaßten "Paragraphen-Codex" für die Kritik; Walter Benjamin zitierte er inbrünstig: "Wer nicht Partei ergreifen kann, der hat zu schweigen. Nur wer vernichten kann, kann kritisieren"; mit Tucholsky verbindet M.R.-R. das reservierte Verhältnis zu Literaturwissenschaft und Theorie; an Sieburg schulte er die Klarheit der Diktion und sein ausgeprägtes Gespür für Macht. Um also seine eigenen Auffassungen von Literaturkritik zu untermauern, bringt es Reich-Ranicki fertig, denkbar ungleiche Geister zu einer Art Ahnengalerie zu verbinden.
Die einen lieben es, den anderen geht es auf den Wecker - ja, er spricht ex cathedra, und aus seinem erzieherischen Auftrag macht er auch keinen Hehl: "Kritik ist immer pädagogisch." Der Adressat seiner "Belehrungen" ist allerdings nicht der Schriftsteller, sondern einzig und allein der Leser. "Schriftsteller sind nicht lenkbare, nicht erziehbare Wesen." Mit seiner explizit am Leser orientierten pädagogischen Auffassung von Literaturkritik grenzt sich Marcel Reich-Ranicki von einer Traditionslienie ab, die ihre Wurzeln in der romantischen Auffassung von Kritik findet. Romantische Kritik will, so schrieb Friedrich Schlegel 1804, "nicht bloß aufklärend und erhaltend" sein, sondern produzierend durch "Lenkung, Anordnung, Erregung" - mit dem geradezu sensationellen Ergebnis überdies, daß der Kritiker am Ende das Kunstwerk besser versteht als sein Verfasser.
In dieser Tradition standen sie alle, die Vorgänger Reich-Ranickis. Sowohl Egon Holthusen als auch Curt Hohoff, Ernst Rober Curtius als auch Max Rychner, Friedrich Sieburg als auch Günter Blöcker leiteten ihr kritisches Mandat weniger vom Leser als aus den Tiefen des literarischen Kunstwerks ab. Ja mehr noch: Die Leser waren für diese Kritiker eher ein lästiges Übel. Wenn Friedrich Sieburg eine Sammlung mit Kritiken "Nur für Leser" nannte, so steckt in dem ostentativen Titel reichlich Arroganz. Sieburg sah den Sinn seiner Arbeit zuallererst darin, dem Tun und Lassen der Literaten auf die Spur zu kommen, besser noch: zu ihnen zu gehören. "Kritik ist die Form der Literartur, deren Gegenstand die Literatur ist", lautet Ernst Robert Curtius' immer wieder zitiertes Credo, und Alfred Kerr, Vorbild für Hohoff, Blöcker et. all fügte hinzu: "Dichtung zerfällt in Epik, Lyrik, Dramatik und Kritik."
Nein, gute Väter waren die Kritiker der Adenauer-Ära nicht und wollten sie auch nicht sein. Der Grund liegt in der deutschen Geschichte. Das Schielen auf das Publikum, seine leicht einkalkulierbare Erziehbarkeit, wurde ihnen von den nationalsozialistischen "Kunstbetrachtern" zur Genüge vorexerziert. Jetzt war der didaktische Zeigefinger vepönt. Daß dies allerdings zu einer währenden, mitunter rabiaten Mißachtung der unmittelbaren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur führte, paßte nicht in das Konzept Marcel Reich-Ranickis, als er- kaum daß er in Deutschland ankam, bei einem Mann vorstellig wurde, der sich durch eine geradezu atemberaubende Ignoranz gegenüber wesentlichen Neuerscheinungen auszeichnete, wenn man einmal von dessen Leidenschaft für Arno Schmidt und seiner Entdeckung Hans-Magnus Enzensberger absieht: Friedrich Sieburg, Vorgänger Reich-Ranickis bei der FAZ. Sieburg fühlte sich zu den - ganz anders als Reich-Ranicki - Germanisten, allen voran Emil Staiger, hingezogen. Emil Staiger war es, der in seiner berühmten Dankesrede zur Verleihung des Zürcher Literaturpreises nicht zuletzt deshalb einen bis heute signifikanten Literaturstreit auslöste, weil sie einen radikalen Zweifel an der Beschäftigung mit Gegenwartsliteratur zum Ausdruck brachte.
An diesem Zweifel rüttelte M.R.R. gehörig. Sein größter Verdienst besteht darin, daß er die Literaturkritik aus dem akademischen Milieu befreit hat. Zu den großen Genugtuungen des heute Achtzigjährigen dürfte gehören, daß er heute nicht unbedingt von Schriftstellern, nicht unbedingt von seinen jüngeren Kirtikerkollegen, sondern vor allem von den Lesern seiner Literaturkritikern verehrt wird. Und via Fernsehen von Menschen, die vor Reich-Ranickis TV-Karriere keine Ahnung hatten, was Literaturkritik eigentlich ist. Wenn es das "Quartett" einmal nicht mehr gibt - macht nichts, braucht man sich nicht mehr angucken. Dann lesen wir eben seine gesammelten Kritiken aus der Zeitung, immer noch das beständigere Medium.