Dienstag, 23. April 2024

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Margaret Atwood: "Survival"
Die Überlebens-Schreiberin

Überleben in der Wildnis: "Survival" ist ein frühes theoretisches Werk von Margaret Atwood aus dem Jahr 1972. Die damals noch junge Autorin untersuchte hierfür die besonderen Gegebenheiten der Kanadischen Literatur – und brachte sich für ihren künftigen Welterfolg in Stellung.

Von Tanya Lieske | 04.08.2021
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Margaret Atwoods Werk von 1972 - erstmals auf Deutsch (Cover Berlin Verlag / Autorenportrait (c) Luis Mora)
Die kanadische Autorin Margaret Atwood ist eine der bekanntesten und erfolgreichsten Autorinnen unserer Zeit. Mit Romanen wie "Alias Grace", "Der Report der Magd" oder der dystopischen Trilogie "Madd Addam" hat sie Werke geschrieben, die in der Weltliteratur einen kanonischen Platz beanspruchen. Das auch, weil ihre Symbole und Bilder den Bereich der Literatur verlassen haben und in der Realpolitik angekommen sind, etwa wenn Frauen in den USA gegen Abtreibungsgesetze demonstrieren und sich dabei kleiden wie die Mädge aus dem "Handmaids Tale".
Die kanadische Autorin Margaret Atwood 
Der größte Hype nach Harry Potter
Nach 34 Jahren erscheint mit "Die Zeuginnen" die Fortsetzung von Margaret Atwoods Welterfolg "Der Report der Magd". Drei Jahrzehnte lang hatte der Roman Leser und Zuschauer diverser Verfilmungen dazu angeregt, die Geschichte um die Magd June weiterzuspinnen.
Beeindruckend am Werk Atwoods ist neben der Reichweite auch ihre Vielfalt, sie hat sich erfolgreich in verschiedenen Genres bewährt, sie hat Kurgeschichten und Sachbücher geschrieben, Gedichte und Romane für Kinder. Begleitend zu all dem ist sie mit literaturwissenschaftlichen Texten präsent. So hat sie sich, noch bevor sie selbst als Autorin bekannt wurde, mit einem Werk empfohlen, in dem sie über die Stellung und Bedeutung der kanadischen Literatur nachdenkt. "Survival", also "Überleben" heißt dieses Buch, das nun zum ersten Mal ins Deutsche übertragen wurde.

Text einer jungen Autorin

Als "Survival" von Margaret Atwood 1972 erschien war sie selbst noch eine junge Autorin, die in dem kleinen Verlag Anansi Press einige Gedichtbände verlegt hatte. Ihr Verlag war in chronischer Geldnot aus der er, wie Atwood selbst bermerkt, sich normalerweise mit Ratgebern zu Rechtsfragen oder zu Geschlechtskrankheiten zu befreien pflegte. Warum man nun auf die Idee kam, diesem Themenkanon ein theoretisches Werk zur kanadischen Literatur hinzuzufügen, sei dahin gestellt.

Sofort ein Bestseller

Tatsache ist: Atwoods "Survival – ein Streifzug durch die kanadische Literatur" wurde tatsächlich auf Anhieb ein Bestseller, wozu verschiedene Kontroversen durchaus beitrugen. Atwood war es hier gelungen, einer Literaturnation, die sich selbst als rand – und als rückständig empfand, ein Angebot zur Identifikation zu machen:
"Das zentrale Symbol für Kanada – und diese Annahme gründet sich auf das häufige Vorkommen sowohl in der anglophonen als auch in der frankophonen Literatur Kanadas – ist fraglos das Überleben, Survival, la Survivance. Wie die Grenze oder die Insel ist es eine facettenreiche und wandlungsfähige Idee. Für frühe Entdecker und Siedler bedeutete Survival das nackte Überleben angesichts ,feindseliger´ Elemente und / oder Ureinwohner. Aber das Wort kann auch für das Überstehen einer Krise oder einer Katastrophe stehen, etwa Orkan oder Schiffbruch."
Hier geht es zum Literatursommer von Deutschlandfunk 

Über Inseln und Grenzen

Atwood positioniert ihren zentralen Begriff des "Survival", des Überlebens neben dem der "Insel" und der "Grenze". Damit klärt sie Traditionen und Abhängigkeiten - zur Insel, also dem Mutterland Großbritannien, und zu dem Land mit der Grenze, der Frontier, also zu Amerika. Interessant an diesem Verfahren ist, dass der von Atwood gewählte Begriff bereits eine Verlagerung ins Allegorische mit sich bringt. Kann man die "Insel" noch als einen realen Ort sehen, so ist die "Grenze" eine Vereinbarung.
"Überleben" ist nichts von beidem - es ist am ehesten noch eine Tätigkeit. Kanadische Literatur, so lässt sich Atwoods Kernthese paraphrasieren, beschreibt keinen Ort und keinen Zustand, sondern eine Handlung. Zentral für diese Handlung des Überlebens ist ein weiterer Begriff, nämlich der des Opfers:

Kolonie und Imperium

"Nehmen wir einmal an, dass Kanada insgesamt ein Opfer ist oder eine ‚unterdrückte Minderheit‘ oder ‚ausgebeutet‘. Nehmen wir kurz gesagt an, dass Kanada eine Kolonie ist. Teil der Definition einer Kolonie ist, dass sie ein Ort ist, aus dem jemand Profit schlägt, allerdings sind es nicht die Menschen, die dort leben; der Profit aus einer Kolonie wird hauptsächlich im Machtzentrum des Imperiums gemacht."
Atwood differenziert diese Haltung nun weiter aus, sie findet vier Opferpositionen zwischen Resignation und Auflehnung. Dann macht sie sich mit bemerkenswerter Akribie daran, diesem Opferstatus nachzuspüren. Sie beschreibt zum Beispiel, wie kanadische Autorinnen und Autoren ihre Figuren besonders gerne den Tod durch Erfrieren und Ertrinken erleiden lassen, dass kanadische Familien ihren Sprösslingen kaum mehr als ewige Gefangenschaft zu bieten haben, dass kanadische Entdecker einfach weiterziehen, ohne den von ihnen entdeckten Berg überhaupt zu benennen. Atwood untersucht für ihr Vorhaben die zumeist weiße, angelsächsische oder frankokanadische Literatur seit dem 17. Jahrhundert.

Atwoods ganz eigener Kanon

Dass es sich hier um ihren eigenen Kanon, Status 1972 handelt, macht den Charme wie die Lückenhaftigkeit des Unternehmens aus. Immerhin war die Autorin schon damals so bedacht zu bemerken, dass indigene Autoren nicht vorkämen, da sie gerade erst begännen, ihre eigenen Geschichten zu schreiben. Ansonsten findet man hier schon die gesamte Atwood, sie ist scharfzüngig, pointiert, genau im Detail und originell in der Gesamtbilanz. Diese sieht so aus: Atwood entdeckt viel Melancholie auf Kanadas bedruckten Seiten:
"Gewiss ist der kanadische Trübsinn im Durchschnitt nachhaltiger als anderswo, und Tod und Scheitern treten unverhältnismäßig oft ein. Lässt man Kanadiern die Wahl zwischen den positiven und negativen Aspekten eines Symbols, so zeigen sie eine deutliche Vorliebe für das Negative."
Als hätte sie die Welle der Empörung geahnt, die vor allem aus der akademischen Welt danach über sie hereinbrach, stellt die Autorin stets klar, dass es sich hier um symbolhafte Beschreibungen, eben um Strukturen handele.

Eine sehr persönliche Poetik

"Beispielsweise untersuchen wir hier keine Entdeckertagebücher, sondern Entdeckerfiguren, die von nachgeborenen Autoren geschaffen wurden. Dennoch: Was man von einer solchen Struktur hält – mal abgesehen von ihrer ästhetischen Würdigung -, hängt zum Teil davon ab, wie man die ursprüngliche Erfahrung bewertet."
Es ist genau diese hermeneutische Flexibilität, vom Gegenstand zur Deutung und zurück, die dieses Buch so gelungen wie angreifbar macht. Es handelt sich bei "Survival" eben nicht um eine Literaturgeschichte, auch nicht um einen Leitfaden. "Survival" ist vielmehr eine sehr persönliche Poetik. Für alle Atwood Fans mit literaturtheoretischem Interesse ist es eine faszinierende Lektüre, denn die Autorin schreibt, worüber sie später, in ihren großen Erfolgsromanen, schreiben wird: Über das Überleben. In der nun vorliegenden deutschen Übersetzung von Yvonne Eglinger kann man nachvollziehen, wie diese bemerkenswerte Autorin ihre intellektuelle Position bezeichnet und wie sie ihren späteren Weltruhm vorbereitet.
Margaret Atwood: "Survival"
Aus dem Englischen von Yvonne Eglinger
Berlin Verlag, Berlin 2021, 336 Seiten, 22 Euro.