Dienstag, 16. April 2024

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Margaret Atwood
"Wir riskieren den Kollaps"

Die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood hat in ihrem neuen Roman "Die Geschichte von Zeb" wieder eine futuristische Welt entworfen. Mit Sorgen blickt sie auf Entwicklungen wie genmanipulierte Wesen und die Zukunft der Menschheit.

Margaret Atwood im Gespräch mit Tanya Lieske | 19.06.2014
Margaret Atwood, Sie haben die Trilogie beendet, die mit "Oryx and Crake" 2003 begonnen hat, die weiteren Bände sind "Das Jahr der Flut" und "Die Geschichte von Zeb". Es handelt sich um ein futuristisches Panorama, um eine Dystopie. Wenn ich zusammenrechne heißt das, dass Sie sich für mehr als eine Dekade mit dem Ende der Zivilisation beschäftig haben. War das für Sie eine glückliche Zeit?
"Auf jeden Fall war es eine interessante Zeit. Und ich bin mit meinen Sorgen nicht alleine, gerade hat die NASA einen Bericht veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass die Menschheit sich selbst auszulöschen wird, wenn sie jetzt nicht ihr Verhalten ändert. Ich denke insbesondere an die Verteilung des Wohlstands. Wenn es weiter so läuft, dass einige Wenige Alles kontrollieren und der Rest der Welt in Armut versinkt, dann riskieren wir den Kollaps. Wir müssen die Güter verteilen oder die Geburtenrate kontrollieren. Das alles kommt nicht von mir, es kommt von der NASA, und die schreibt keine Romane!
Wir leben in einer aufregenden Zeit, und das gilt insbesondere für junge Leute, die diese Zukunft erleben müssen. Was mich und meine Generation betrifft, wir sind dann ja schon weg."
Radioaktivität hat wenigsten eine Halbwertzeit
Wie Sie selbst sagen, die NASA schreibt keine Romane, Sie aber! Und Sie haben sich die Freiheit genommen, eine solche Zukunft zu imaginieren und zu beschreiben. Sie entführen uns in eine postkapitalistische Gesellschaft, in der genmodifizierte Geschöpfe an der Tagesordnung sind, Wesen, die halb Mensch halb Tier sind. Sie zeigen uns auch eine allgegenwärtige Cyber-World. Ist all das Teil Ihrer Imagination?
"Nein, es ist ein Teil unserer Realität. Ich habe nichts erfunden. Alles, was ich beschreibe, ist schon getan oder wir arbeiten daran oder wir denken darüber nach. Wir dachten ja schon bei der Atomspaltung, dass das die Büchse der Pandora sei, was ja auch stimmt! Aber den Gencode zu knacken, das halte ich noch für gravierender. Die Radioaktivität hat wenigsten eine Halbwertzeit, aber wenn man eine genmodifizierte Kreatur in die Welt entlässt, wo sie halbwegs günstige Bedingungen antrifft, dann kann man sie nicht mehr zurücknehmen, sie wird sich vermehren. Man kann das nicht kontrollieren."
Mussten Sie recherchieren oder hat es genügt, die Zeitungen zu lesen und Fernsehen zu schauen?
"Ich habe natürlich nicht selbst experimentiert, sondern mich auf die Erkenntnisse anderer Leute verlassen. Es gibt heute ja mehr wissenschaftliche Aufsätze als jemals zuvor, dazu Fachmagazine wie 'Scientific American' und den 'New Scientist'. Außerdem gibt es heute jede Menge hervorragender Websites, die ihre Hilfe anbieten."
Mich haben Ihre Ideen zur Cyber-World besonders beeindruckt. In meinem Umfeld sind Menschen, die älter als 70 Jahre sind, eher zurückhaltend im Umgang mit dem Internet und mit Computern. Das dürfte bei Ihnen anders sein, sehe ich das richtig?
"Ja, ich kenne mich gut aus, arbeite schon lange mit Computern, ich weiß aber auch, welche Gefahren diese Technologie birgt. Es ist wie mit einem Auto, wenn man es fährt, muss man aufpassen, sonst gibt es einen Unfall."
Anfang und Ende in den Namen
Einer ihrer männlichen Protagonisten in dem dritten Teil ihrer Trilogie trägt den Namen Zeb, das steht für Zebulon, er ist eine biblische Figur, einer der Stammesväter Israels. Warum haben Sie diesen Namen gewählt und wofür steht er?
"Zeb ist Teil einer Subkultur, einer Splittergruppe christlicher Fundamentalisten. Andere würden diese Gruppe wahrscheinlich als Ketzer sehen, denn sie beten das Öl an. Man kann hier ja ruhig Klartext reden, es gibt wirklich Menschen, die den Rohstoff Öl verehren! Also, bei mir bekommen diese Leute sogar eine Kirche. Es ist in ihren Kreisen üblich, seine Kinder nach der Bibel zu benennen, sofern sie sich einigermaßen ordentlich betragen haben. Es gibt ja nicht so viele Mädchen, die Jezebel heißen, aber es gibt viele Männer mit dem Namen Adam. Der Vater der beiden Jungen Adam und Zeb, es sind ja Halbbrüder, gab einem einen Namen, der mit A beginnt, und einen, der mit Z beginnt, und so hat er Anfang und Ende des Alphabets benannt. Zebulon bedeutet 'Haus der Ehre', aber für mich waren die Anfangsbuchstaben, das A und das Z ausschlaggebend."
Die Bibel ist auch eines Ihrer Lieblingsbücher und ein Buch, auf das Sie sich in Ihrem Gesamtwerk oft beziehen.
"Wenn man eine neue Legende für Nordamerika schafft, dann wird diese wahrscheinlich auf dem Christentum beruhen. Siedelt man eine solche Geschichte in Indien an, dann wäre es der Hinduismus. Im Nahen Osten wäre es der Islam, in Japan der Buddhismus oder Shintoismus. Man baut auf dem auf, was man kennt, und für Nordamerika trifft das Christentum zu und natürlich die Religion der Ureinwohner."
Die Metamorphose ist ein sehr altes literarisches Thema, sie geht zurück auf die Bibel und auf Ovid. Man könnte argumentieren, dass einige der Kreaturen, die Sie aus genmanipulierten Menschen und Tieren geschaffen haben, eine Metamorphose durchlaufen. Lese ich Ihr Buch in diesem Sinne richtig, erfahren diese Wesen eine Metamorphose?
"Das ist eine interessante Frage! So weit wir zurück denken können, haben wir menschliche Formen und den Tierkörper in Bildern zusammengeführt. Dem lagen schamanistische Praktiken zugrunde, der Schamane hat seinen Geist ausgesandt, um ihn mit dem Geist des Tieres zu verschmelzen oder seinen Geist zu besuchen, um die Erlaubnis zu erhalten, das Tier zu töten und zu essen. Man kennt auch Höhlenmalereien, die menschliche Figuren mit Vogelköpfen zeigen. Diese Figuren sind Teil der Mythologie. Eine natürliche Metamorphose gibt es auch bei den Insekten, sie haben ein eingebautes Programm, das es ihnen möglich macht, verschiedene Verkörperungen zu durchlaufen. Aber das, was wir jetzt versuchen, geht viel weiter! Die Hybridisierung von Tieren durch Genmanipulation ist Teil unserer realen Welt geworden, wir haben ja schon Organschweine, in denen Nieren für uns Menschen wachsen, wir haben die grün leuchtenden Kaninchen, wir entwickeln leuchtende Pflanzen, mischen und verändern die Formen. Ich bin mir nicht sicher, ob das noch eine Metamorphose ist oder schon ein Pastiche."
Im Überlebensmodus in der Wildnis
Ihr Roman spürt auch dem Thema der Schöpfung und der Schöpfungsmythologie nach. Es gibt darin eine humanoide Form, die Crakers, die von einem Menschen namens Crake erschaffen wurden, den sie wie einen Gott verehren. Das ist in Teilen sehr lustig, aber ich kann mir vorstellen, dass Sie sich auch Gedanken darüber gemacht haben, wie ein Schöpfungsmythos entsteht.
"Ich denke, dass man einen Schöpfungsmythos hat, sobald man über eine sprachliche Vergangenheitsform verfügt. Sobald man in der Vergangenheit spricht, kann man sich darüber unterhalten, was vor dem eigenen Leben lag. Und weiter und weiter zurück, bis man an einen Moment des Ursprungs kommt. Ob man ihn den Urknall nennt oder ob man ihn 'Am Anfang war' nennt, es ist immer ein Ursprung. Also, diese Menschen haben eine Sprache und sie haben auch die Vergangenheitsform, daher ist es unvermeidlich, dass sie sich fragen, wo kommen wir eigentlich her? Es ist auch unvermeidlich, dass man ihnen eine Erklärung gibt, die sie verstehen können. Ich habe zuhause eine kleine Bibliothek mit Schöpfungsmythen. In einem kommen wir aus einer Krebsschale. In einer anderen wurden wir gebacken wie Kekse. Und in einem dritten haben uns zwar die Götter erschaffen, aber sie hatten dabei große Bedenken! (Lacht) Da bin ich dabei, ich hätte mir auch Sorgen gemacht!"
Margaret Atwood, auch das Thema des Überlebens, Survival, ist ein altes Thema ihrer Arbeit. 1972 haben Sie ein Buch veröffentlicht, das heißt: "Survival – a thematic Guide to Canadian Literature". Darin schreiben Sie unter anderem über die Beziehung zwischen Opfer und Täter, der wiederum ein Mensch, ein Tier oder die Wildnis sein kann. Einige dieser Themen und Motive kehren nun wieder. Zeb, um ein Beispiel zu nennen, findet sich an einem bestimmten Punkt in ihrem Roman im Überlebensmodus in der Wildnis wieder. Haben Sie da ganz bewusst ein altes Thema bearbeitet oder ist es etwas, das so sehr in Ihnen lebendig ist, dass es sich einfach wieder eingestellt hat?
"Auch hier trifft Folgendes zu: Ich habe mir das nicht ausgedacht, es ist einfach Teil der kanadischen Landschaft. Sie ist so groß, dass Menschen darin wirklich verloren gehen können und nie wieder gefunden werden. Es ist einfach keine Umwelt, die zu Gedankenlosigkeit verführt! (lacht). Wenn Sie da durch wollen, dann sollten Sie besser ein paar Grundregeln kennen, sonst sterben Sie an Unterkühlung oder Sie verhungern, wie es so vielen passiert ist.
Zebulon überlebt aber, als er wieder auftaucht, stinkt er ganz schön und er hat sich ein Bärenfell umgehängt. Man hält ihn für Bigfoot, wer war das?
"Bigfoot ist eine legendäre Figur, auch Sasquatch genannt. Wenn Sie den Namen in Ihre Suchmaschine eingeben, sehen Sie viele Bilder von dieser Kreatur und von Leuten, die behaupten, sie gesehen zu haben. Sie ist größer als ein Mann, stark behaart, hat natürlich riesige Füße, und es gibt ganz schön viele Leute, die entschlossen sind, den Bigfoot zu finden. Er ist ein wenig wie der Schneemensch, den man im Himalaja gesehen haben will. Die Leute schwören, dass es ihn gibt, aber irgendwie gelingt es einfach nicht, ihn zu finden."
Das Buch war da, und wir haben es gelesen
Als Kind haben Sie viel Zeit mit Büchern, Märchen und in der Natur verbracht. Wie hat das Ihr Schreiben beeinflusst?
"Ich bin in den Wäldern von Quebec aufgewachsen, ziemlich weit weg von allem. Da gab es keine Filme, kein Fernsehen, kein Radio, keine Büchereien, keine Schulen. Noch nicht mal ein Dorf, wir haben einfach im Wald gewohnt. Aber obwohl es so viel nicht gab, eines hatten wir immer: Bücher. Also, ich habe früh gelesen und einfach so weiter gemacht, ich lese alles, was mir in die Finger kommt. Was die Märchen angeht, irgendwann haben meine Eltern Grimms Märchen per Post bestellt, und ich bin mir nicht so sicher, ob sie wussten, was ihnen da ins Haus kommen würde. Ich glaube, sie waren ziemlich alarmiert, denn das war nicht die Walt Disney Version der Märchen, nichts war bereinigt, da wurde man in einem Fass voller Nägel den Berg hinuntergerollt oder die Augen wurden ausgepickt, Tote fielen durch den Kamin. Es gab lauter Dinge, die meine Eltern nicht geeignet fanden für Kinder, aber es war zu spät. Das Buch war da, und wir haben es gelesen! Mein Bruder und ich, wir fanden es großartig, aber meine jüngere Schwester mochte es nicht, ihr gefiel nur ein Märchen: Die zertanzten Schuhe, denn das geht gut aus."
Wenn ich richtig gerechnet habe, werden Sie im November 75 Jahre alt. Sie haben bislang ein umfangreiches Werk geschaffen, 14 Romane, 14 Gedichtbände, literaturkritische Arbeiten, Romane für Kinder, Kurzgeschichten. Unterdessen ist Ihr Ruhm unaufhörlich gewachsen, Sie waren oft auf Reisen. Wie haben Sie es geschafft, Ihren Alltag zwischen diesen äußeren und inneren Pflichten zu organisieren?
"Ich habe ein gut organisiertes Büro und bin von kompetenten Menschen umgeben, die in den verschiedenen Verlagen arbeiten. Ich mache also bei weitem nicht alles alleine! Der Rest ist Gewohnheit, ich mache das alles schon so lange, dass ich weiß, wie es geht. Es stimmt auch, dass ich mich gerne übernehme, aber auch das ist nichts Neues."
Einige namhafte Schriftsteller wurden eingeladen, je eine Adaption von einem Shakespeare Stück zu schreiben. Sie haben sich für "Der Sturm" entschieden, mutmaßlich Shakespeares letztes Stück, in dem der Zauberer Prospero sich von seinen magischen Kräften verabschiedet. Warum haben Sie dieses Stück gewählt?
"Ich mich dafür entschieden, weil ich es immer schon gerne gehabt habe! Außerdem, wenn man über eine Sache schreibt, dann muss man sie befragen können. Und im Falle von Der Sturm gab es immer schon eine Reihe unbeantworteter Fragen. Welche das sind, verrate ich jetzt nicht, denn wenn ich drüber rede, verbrauche ich meine Energie."
Können Sie mir sagen, was Sie an Prospero interessiert?
Prospero ist der Magier
Also, na gut. Ich habe ein Buch das heißt: 'Mit den Toten verhandeln'. Es geht darin ums Schreiben. Nicht darum, wie man schreibt, sondern was es bedeutet, zu Schreiben. Wie sieht sich der Schriftstelle selbst? Prospero ist natürlich einer dieser Magier, er ist eine Autorenfigur, und Schriftsteller haben sich immer schon für ihn interessiert. Er ist der Regisseur, der dirigiert das Stück im Stück, und am Ende tritt er nach draußen und gibt seine Identität preis, der ist die zentrale Figur, der Regisseur und der Autor des Stücks."
Es ist ziemlich modern.
"Alles, was wir als modern betrachten, ist in Wahrheit schon ziemlich alt. Man verlässt den Rahmen des sozialen Realismus, geht in der Zeit zurück zu älteren Erzähltechniken und wundert sich, wie modern das alles war!"
Sie haben fast alles erreicht, was man sich als Schriftstellerin nur wünschen kann. Gibt es noch etwas, was Sie unbedingt tun wollen?
"Es ist nicht so, dass man eine Liste hat und dann die Punkte abhakt. Es geht eher darum, den Prozess zu genießen. Dann experimentiert man und versucht neue Wege zu gehen, neue Geschichten und Methoden zu entdecken."
Von hier, wo ich jetzt sitze, stelle ich mir vor, dass die Schriftstellerszene in Kanada klein und gut vernetzt ist, obwohl das Land groß ist. Stimmt das so?
"Leider nein. Die Writing Community ist viel größer als sie war, und jetzt umfasst sie auch mehrere Generationen. Als ich angefangen habe, gab es noch keine älteren Schriftsteller, von denen ich hätte lernen können, und es gab auch nicht viele Weggefährten. Aber seit dem hat sich alles explosionsartig verändert, es gibt jetzt viele Generationen, die schreiben, und es kommen ständig neue Autoren dazu. Alles ist jetzt sehr groß geworden, man kann es kaum noch überblicken."
Wie hat der Nobelpreis für Alice Munroe die kanadische Literaturszene beeinflusst?
"Ich glaube, alle haben sich sehr gefreut. Einmal, weil der Preis nach Kanada gegangen ist, zum anderen weil er an eine Autorin von Kurzgeschichten gegangen ist, das ist ein sehr beliebtes Genre, mit dem viele schon gearbeitet haben, und drittens ist Alice eine Frau! Ich glaube, in ihrem Leben war das ein guter Zeitpunkt, sie hatte ein paar schwere Jahre hinter sich, und der Preis hat ihr Glück gebracht."
Margaret Atwood: "Die Geschichte von Zeb"
Berlin Verlag, 480 Seiten, 22,99 Euro