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Margaret Mitchell neu übersetzt
Vom Wind verweht, von der Welt verkannt

Die tragische Liebesgeschichte zwischen Rhett Butler und Scarlett O'Hara ist weltbekannt, kursiert in Deutschland aber seit 1937 in fragwürdiger und unvollständiger Übersetzung. Andreas Nohl und Liat Himmelheber schreiben den Klassiker neu. Auch eine Diskussion inhärenter Rassismen ist überfällig.

Von Miriam Zeh | 01.01.2020
Die US-amerikanische Schriftstellerin Margaret Mitchell an ihrem Schreibtisch, aufgenommen im April 1936, einen Monat vor der Veröffentlichung ihres Romans "Vom Winde verweht", der ihr zu Weltruhm verhalf.
Bereits ein Jahr nach Veröffentlichung ihres Romandebüts wurde die Journalistin und Autorin Margaret Mitchell mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. (Foto: picture-alliance / dpa / dpa handout daimler benz)
In einem Atemzug mit Theodor Fontanes "Vor dem Sturm" und Lew Tolstois "Krieg und Frieden" wird dieser Roman genannt: Margaret Mitchells "Gone with the Wind", "Vom Winde verweht" wie der US-amerikanische Klassiker in der deutschen Übersetzung von 1937 heißt. Das Buch ist Weltliteratur, ein globaler Bestseller. Rund 30 Millionen Exemplare sollen bis heute weltweit verkauft worden sein.
1936 erschien "Gone with the Wind" erstmals in den USA. Rasch folgten Übersetzungen in diverse Sprachen, nur ein Jahr später etwa von Martin Beheim-Schwarzbach ins Deutsche. Ebenfalls 1937 erhielt die Autorin und Journalistin Margret Mitchell den Pulitzerpreis für ihr Romandebüt und doch bleibt der Südstaatenschmöker bis heute eines der verkanntesten Bücher der Weltliteratur, so zumindest die Meinung von Andreas Nohl und Liat Himmelheber.
Entscheidende Situation der US-amerikanischen Geschichte
Die Ehepartner haben Mitchells Klassiker deshalb neu übersetzt. "Vom Wind verweht" lautet ihr leicht veränderter Titel. Es ist nicht nur eine grundlegend neu übersetzte, sondern auch die erste vollständige Version in deutscher Sprache, die am 2. Januar im Verlag Antje Kunstmann erscheint. Nichts anderes hat dieses Buch verdient, schließlich sind die Auswirkungen des von Mitchell beschriebenen Sezessionskrieges bis heute spürbar, sagt der Übersetzer Andreas Nohl:
"Was das Buch transportiert, ist die entscheidende Situation der amerikanischen Geschichte. Das Buch handelt ja von 12 Jahren: vor dem Krieg, der Krieg und dann die Reconstruction, dieser bitteren Zeit, als die Nordstaaten die Macht in den Südstaaten übernommen und dort Geschäfte gemacht haben – und natürlich die Sklaven befreit, was auch mit unglaublichen Umbrüchen zu tun hatte. Diese unglaubliche Zeit der Niederlage, wobei sie selber an dieser ganzen Sache schuld waren, das kann man also auch politisch durchaus begründen, diese Aussage, hat in den Südstaaten ein unglaubliches Ressentiment geschaffen, das eben bis heute anhält."
Frauenfiguren stehen im Fokus
Mitchell erzählt die US-amerikanische Geschichte allerdings nicht aus den vorderen Kriegsreihen oder den inneren politischen Kreisen. Nicht das Kampfgeschehen zwischen der Konföderation im Süden und den in der Union verbliebenen Nordstaaten stellt sie in den Mittelpunkt. Die Autorin folgt einer Frau aus Nord-Georgia, schildert ihren Überlebenskampf mit allen Verfehlungen und Grausamkeiten, in die Not und Habgier sie drängen. Scarlett O’Hara ist im Sommer 1861, als die heillos unterlegenen Südstaaten euphorisch ihre Truppen einziehen, gerade einmal 16 Jahre alt. Mit der schmalsten Taille und dem kokettesten Mundwerk der Gegend ausgestattet, gilt Scarletts größte Sorge ihren Hochzeitsplänen. Denn jener Mann, den sie glaubt mehr als alles auf der Welt zu lieben, Ashley Wilkes, weist sie ab und heiratet stattdessen seine Cousine, die sanftmütig herzensgute Melanie.
Der Krieg beendet Scarletts Naivität
Scarlett ist außer sich. Als Lieblingstochter eines wohlhabenden, weißen Plantagenbesitzers bekommt sie stets, was sie verlangt. Arbeit und Mangel sind ihr fremd, Sklaven erleichtern ihren unbekümmerten Alltag – bis der Krieg ihrer Naivität ein Ende setzt.
"Der Krieg, der so endlos erschienen war, dieser unerbetene und unerwünschte Krieg hatte ihr Leben mit einem so sauberen Schnitt entzweigeteilt, dass es schwerfiel sich an jene längst vergangenen, sorgenfreien Tage zu erinnern. Ohne jede Rührung konnte sie auf die hübsche Scarlett in ihren empfindlichen grünen Maroquin-Schühchen und ihren nach Lavendel duftenden Volants zurückblicken, aber sie zweifelte, ob sie je wieder das gleiche Mädchen sein konnte wie damals. Scarlett O’Hara, der das County zu Füßen lag, nach deren Pfeife einhundert Sklaven tanzten, hinter der wie eine Wand der Reichtum von Tara stand und freigiebige Eltern, die ihr jeden Herzenswunsch erfüllten."
Frauenhaushalt auf Tara
Auf Tara, der Baumwollplantage ihres Vaters, bringt Scarlett sich und ihre pflegebedürftigen Familienangehörigen durch die Kriegs- und Nachkriegszeit. Doch nicht als liebende, fürsorgliche Mutter, sondern als betrügerische und raffgierige Geschäftsfrau agiert sie. Scarlett spannt der eigenen Schwester den Verlobten aus, sie arbeitet sich die Nägel rissig, näht sich Kleider aus vergilbten Gardinen und bietet sich hochverschuldet dem opportunistischen und verhassten Rhett Butler zum Kauf an.
Das Schicksal der jungen Frauenfigur stieß vor allem, wenn auch nicht nur in Deutschland auf Resonanz. Innerhalb zweier Tage waren bereits 12.000 Exemplare der deutschen Übersetzung verkauft, bis 1941 sollten es 280.000 sein. Berücksichtigt man, dass die Bücher – ihres hohen Kaufpreises von 12,50 Reichsmark geschuldet – sicher unter Familien und Freunden zirkulierten und dass Exemplare von Bibliotheken verliehen wurden, kann man die Zahl der Leser*innen weit höher ansetzen, auf bis zu einer Million bis 1945.
Scarletts Schicksal trifft Nerv der Zeit
Diesen sensationellen Erfolg von Mitchells historischem Mammutwerk erklärt die Literaturwissenschaftlerin Emily Oliver mit dem Identifikationspotenzial, das die Protagonistin des Romans bereithält.
"Das Buch scheint in vielen Ländern, nicht nur in Deutschland, einen Nerv der Zeit getroffen zu haben. Obwohl es sich mit dem amerikanischen Bürgerkrieg beschäftigt, enthält es viele Themen, die in dieser Zeit, in den frühen 40ern sehr aktuell waren und dann vor allem in der deutschen Nachkriegszeit noch aktueller wurden. […] Ein ganz zentrales Thema in "Vom Winde verweht" ist Hunger. Das ist quasi der Wendepunkt für die Protagonistin Scarlett. Diese berühmte Szene, wo sie im Dreck liegt hinter der einst so tollen Plantage und schwört, dass sie nie wieder Hunger leiden wird und dass sie für die Ihren sorgen wird. Und ich glaube, da war großes Identifikationspotenzial da für diese Überlebensarbeit, die Scarlett und Melanie beide leisten."
"Ich werde nie wieder Hunger leiden!"
"Die O’Haras nahmen keine Almosen. Die O’Haras sorgten selbst für ihre Angehörigen. Sie trugen ihre eigene Last, und Lasten waren für Schultern da, die stark genug waren, sie zu tragen. Wie sie da von hoch oben hinunterschaute, erkannte sie, ohne überrascht zu sein, dass ihre Schultern jetzt stark genug waren, alles zu tragen, nachdem sie das Schlimmste getragen hatte, das ihr überhaupt widerfahren konnte. Sie konnte Tara nicht im Stich lassen; sie gehörte zu dieser roten Erde sehr viel mehr, als diese zu ihr gehörte. Ihre Wurzeln reichten tief in die blutfarbene Erde und sogen daraus Leben, genauso wie die Baumwolle. Sie würde in Tara bleiben und es irgendwie erhalten, sie würde ihren Vater und ihre Schwestern bei sich behalten, auch Melanie und Ashleys Kind und die Schwarzen. Morgen – oh, morgen! Morgen würde sie das Joch auf sich nehmen."
"Gott ist mein Zeuge, die Yankees werden mich nicht unterkriegen. Ich stehe das durch, und wenn es vorbei ist, werde ich nie wieder Hunger leiden. Nein, und auch sonst niemand aus meiner Familie. Und wenn ich dafür stehlen oder töten muss – Gott ist mein Zeuge, ich werde nie wieder Hunger leiden."
Privilegierte weiße Pflanzerfamilien
Emily Oliver: "Gleichzeitig sollte man dieses Identifikationspotenzial aber nicht verallgemeinern. Scarlett ist immerhin weiß und gehört der Oberschicht an. Also einerseits hat sie stark unter den Folgen des Kriegs zu leiden, andererseits denkt sie nie über die Ursachen des Krieges nach. Sie reflektiert nie, dass sie in einer Gesellschaft gelebt hat, die zutiefst ungerecht war. Sie erkennt das nicht, gerade weil sie so von diesem System profitiert hat. Auch wenn es sich bei dem Roman nicht um eine Ich-Perspektive handelt, werden die Ereignisse doch aus der Perspektive der weißen Oberklasse geschildert, die es eben vor dem Krieg sehr gutgehabt hatte. Scarlett denkt nie über ihre eigene Rolle in diesen Unrechtsverhältnissen nach."
Fragwürdige Übersetzung von 1937
Bisher waren deutsche Leserinnen auf die Übersetzung von 1937 angewiesen. Darin sind nicht nur zahlreiche Passagen, ganze Absätze des Originals unsystematisch getilgt oder verändert worden. Der Übertragung liegt, wie Andreas Nohl bemerkt, ein grundlegendes Unverständnis zwischen der US-amerikanischen Journalistin Margaret Mitchell und ihrem deutsch-britischen Übersetzer Martin Beheim-Schwarzbach zugrunde.
"Margaret Mitchell ist genau wie der Übersetzer 1900 geboren. Mitchell hat aber dann in den 20er-Jahren ihr junges Erwachsensein gelebt. Das waren die "Roaring Twenties" und da war in der Literatur ein sehr sachlicher, eher journalistischer Stil angesagt, erinnern wir uns an die Literatur von Hemingway, den Mitchell übrigens sehr bewundert hat. So kam sie rein stilistisch schon mal aus dieser amerikanischen Tradition der journalistischen Prosodie. Und demgegenüber ist Beheim-Schwarzbach, der ebenfalls 1900 geboren wurde, im spätwilhelimischen Staat groß geworden. Die Literatur, die er in der Schule kennengelernt hat, war eher geprägt von einem neo-romantischen Stil, erinnern wir uns an die frühen Gedichte von Hermann Hesse oder auch an die späteren von Rilke. Was die Prosa anbelangt, ist er, glaube ich, über den Realismus von Wilhelm Raabe nicht hinausgekommen.
Zeitbedingter Rassismus
Andreas Nohl und Liat Himmelheber haben Mitchells Stil von seinem deutschen Kitsch, von der aufgezwungenen Sentimentalität befreit, symbolträchtig im fehlenden e des neuen Titels "Vom Wind verweht". Elegant lesen sich – ohne ins Aktualistische abzudriften – die Neuübersetzung und darin vor allem die um Neutralität immerhin bemühte Erzählstimme. Trotzdem bleiben einige Passagen dieses mittlerweile historischen Dokuments aus den 30er-Jahren problematisch. So spricht Margaret Mitchell mit der rassistischen Selbstverständlichkeit ihrer Zeit etwa von "Nigros", ein diskriminierendes Vokabular, das die Übersetzer nicht an allen Stellen konservieren wollten.
"Das ist das N-Wort, wie wir mittlerweile wissen, und das kann man heute nicht mehr benutzen, ohne diskriminatorisch sich zu äußern anderen Menschengruppen gegenüber. Und so haben wir also schlicht und einfach den Begriff der 'Neger' durch den der Schwarzen oder der Sklaven ersetzt. Wir sind aber noch weiter gegangen. Wobei aber auch, wenn die Rassisten reden, dann reden die von Niggern. Das haben wir natürlich dann so stehen lassen. Das hat ja einen dokumentarischen Wert und es hat etwas mit der Wahrheit dieses Romans zu tun. Aber wir sind dann weiter gegangen. Wir haben rassistisch anmutende Beschreibungsstereotypen vermieden. Das heißt, Sie finden keine "Wulstlippen", keine "rollenden Augen". Das sind bei uns dann eher volle Lippen, so wie die weißen sie auch haben und weit aufgerissene Augen oder so. Diese rassistischen Stereotype sind bei uns raus."
Durchbrochene rassistische Narrative
An vielen Stellen mögen heute Leserinnen nach wie vor und zu Recht Anstoß nehmen. Trotzdem lohnt sich eine zeithistorische Einordnung, auch weil eine Diskussion der romaninhärenten Rassismen bei Ersterscheinen der deutschen Übersetzung im Dritten Reich und Nachkriegsdeutschland ausblieb. Margaret Mitchell wählt in ihrem Roman einen Blickwinkel, bei dem Rassismus an der Tagesordnung steht. Für die wohlhabende Pflanzerfamilie O’Hara ist Sklaverei in den 1860er-Jahren eine gottgegebene Selbstverständlichkeit, die Mitchell nicht explizit thematisiert. Gleichwohl sieht Übersetzer Andreas Nohl in der Figur des Rhett Butler das politische Sprachrohr der Autorin. Er unterhält vor seiner Ehe mit Scarlett keine Sklaven, behandelt sie auffallend respektvoll und kritisiert nicht nur die moralische Überheblichkeit der Südstaaten, sondern auch den ortsansässigen Ku-Klux-Klan. Einige Romanszenen, hebt Andreas Nohl hervor, weichen bei Mitchell außerdem von den damals gängigen Rassen-Narrativen ab, etwa wenn Scarlett im vierten Teil des Romans, Opfer eines sexualisierten Raubüberfalls wird.
"Es gehört zu dem Mythos des rassistischen Südens, dass nach der Befreiung männliche Sklaven weiße Frauen vergewaltigt hätten. Das ist eine Spiegelprojektion der allfälligen Vergewaltigungen, die weiße Sklavinnenbesitzer getätigt hatten. In der Südstaatenliteratur, die Margaret Mitchell gut kannte, die sie als junges Mädchen auch gelesen hatte, spielt dieser Mythos eine ganz große Rolle. Und dort kommen eben oft diese Szenen vor, wo dann der Täter, der Schwarze, der Delinquent dann gelyncht wird. Bei Mitchell liest sich das vollkommen anders. Scarlett wird in der Tat von einem Schwarzen angegriffen, aber es ist ein Weißer dabei! Und sie wird von einem Schwarzen gerettet."
"Instinktiv vermied sie, auf den Weißen zu zielen"
"Was dann geschah, war ein Albtraum für Scarlett, dabei ging alles rasend schnell. Sie zog rasch die Pistole hervor, aber instinktiv vermied sie, auf den Weißen zu zielen, um nicht aus Versehen das Pferd zu treffen. Als der Schwarze auf den Wagen zulief, ein lüsternes Grinsen auf dem Gesicht, schoss sie auf ihn. Ob sie ihn überhaupt getroffen hatte, fand sie nie heraus, aber im nächsten Moment wurde ihr die Pistole mit einem Griff entwunden, der ihr fast das Handgelenk brach. […] ‚Bring sie zum Schweigen! Zieh sie raus!‘ brüllte der Weiße, und die schwarze Hand tastete sich über Scarletts Gesicht bis zu ihrem Mund. Sie biss zu, so fest sie konnte, und schrie von neuem, und während sie noch schrie, hörte sie den Weißen fluchen und begriff, dass ein dritter Mann auf der dunklen Straße war. Die schwarze Hand fiel von ihrem Mund ab. Und der Mann sprang zurück, als Big Sam auf ihn stürzte. ‚Schnell weg, Miss Scarlett!‘, rief Sam."
Individualisierte und humane Redeweisen
"Das Entscheidende bei unserer Neuübersetzung ist – abgesehen davon, dass wir den Figuren sehr viel differenziertere Sprecharten zuweisen, sie viel individualisierter, teilweise auch gebildeter sprechen lassen als bei Beheim-Schwarzbach – dass wir vor allem bei den Schwarzen darauf geachtet haben, dass die nicht in diesen holprigen Pseudosprech verfallen, als ob diese Menschen gerade frisch aus dem Urwald gekommen wären und der menschlichen Sprache nicht mächtig. So ein grammatikalisches Tohuwabohu, bei dem die Sätze gar nicht zusammenstimmen und meistens Infinitivformen verwendet werden – das fanden wir besonders abstoßend. Es war früher auch bei den Übersetzungen von Mark Twain so, dass der "Nigger" Jim absolut barbarisch redet. Das ist im Original bei Mitchell nicht so. Und es ist auch bei Twain nicht so gewesen. Es ist nur eine phonetische Abschleifung, die dort slangartig vorgenommen wird. Und so haben wir auch die Sprechweise der Schwarzen in unserem Roman phonetisch abgeschliffen. Man wird also sofort erkennen können, dass hier eine Slavin oder ein Slave spricht, aber es ist eine vollkommen verständliche und sinnvolle, eine humane Redeweise.
"‚Geben Sie die Zügel her‘, sagte Sam und nahm ihr die Zügel ab. ‚Pferd, mach zu!‘ Die Peitsche knallte, und das erschrockene Pferd raste in so wildem Galopp los, dass der Wagen in den Graben zu kippen drohte. ‚Hoffentlich hab ich den Gorilla umgebracht. Ich hab nicht so lang gewartet, dass ich’s rauskriegen konnt‘, keuchte er. ‚Aber wenn er Sie verletzt hat, Miss Scarlett, dann geh ich zurück und bring das in Ordnung.‘"
Neuübersetzung als Neuinszenierung
Ließen die amerikanischen Besatzer "Vom Winde verweht" scheinbar ohne größere Bedenken im Nachkriegsdeutschland erscheinen, regten sich bei David O. Selznicks Verfilmung Zweifel. Die kostenintensive, fast vierstündige Leinwandadaption wäre, 1939 in den USA mit überbordendem Erfolg angelaufen, sicher auch in Deutschland zum Publikumshit geworden. Doch die amerikanischen Besatzer fürchteten um ihr Image, praktizierten sie die Rassentrennung doch immer noch innerhalb ihres eigenes Militärs und verhinderten eine Ausstrahlung des zehnfach Oscar-prämierten Films 14 Jahre lang. 1953 wurde der kommerziell erfolgreichste Film aller Zeiten in der Bundesrepublik erstaufgeführt und lief am 25.12.1984 zum ersten Mal im westdeutschen Fernsehen. Seitdem verabschiedete sich der himmelschreiend rassistische Schinken nur widerwillig aus dem weihnachtlichen TV-Programm. Andreas Nohl schlägt auch hier – wie bei der veraltete Romanübersetzung – einen Austausch vor.
"Ich mach das ja schon seit etwa 10 Jahren, diese Art von Klassikereditionen – eine Neuübersetzung ist eigentlich immer eine Neuinszenierung. Man kann wie im Theater aus einem schlechten Stück ein gutes Stück durch die Inszenierung machen. Man kann aber auch ein sehr gutes Stück durch die Inszenierung zu einem sehr schlechten Stück machen. So ist es bei der Übersetzung auch, es ist genau das gleiche Verhältnis. Es kommt also darauf an, welche Kriterien und Maßstäbe man ansetzt. Und so wie der Film von Selznick durchaus mit der deutschen Übersetzung Entsprechungen hat, würde ich mir wünschen, dass parallel zu unserer Übersetzung eine Neuverfilmung stattfände, etwa von Quentin Tarantino. Dann hätte dieser Roman ein ganz anderes Standing in der Welt, als er es heute hat."
Verkannte "Unterhaltungsliteratur" von Frauen
Emily Oliver: "Literatur, die hauptsächlich von Frauen gelesen wird, wird oft als Unterhaltungsliteratur abgestempelt und das ist natürlich eine sehr praktische Strategie, um diese Romane aus dem literarischen Diskurs auszuschließen. "Vom Winde verweht" ist ein gutes Beispiel dafür. Man kann den Roman genauso einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung unterziehen wie jedes andere Buch auch, wie Kafka. Ich glaube, für die historische Forschung vor allem ist es nützlich, sich mit kulturellen Produkten auseinanderzusetzen, die massenweise rezipiert werden, gerade mit Scarlett als Identifikationsfigur, die etwas Zeitloses an sich hat. Gerade weil sie so widersprüchlich ist, weil man ihr als Leser dazu zusehen muss, wie sie Fehler macht. Aber man auch gleichzeitig ihren Mut und ihren Durchhaltewillen bewundern muss. Und sie nimmt sowohl als auch die Täterrolle ein und lässt sich daher nicht so einfach einordnen."
Von der Literaturkritik und Literaturwissenschaft weitgehend als Unterhaltungsroman ignoriert, hat Emily Oliver "Vom Wind verweht" durch ihre sozio-historische Einordnung anschlussfähig gemacht für die Forschung. Doch auch abgesehen von jedem kulturwissenschaftlichen Interessen, muss die heutige Leserin anerkennen, dass Margret Mitchell einen spannenden und hervorragend erzählten Roman geschrieben hat. Das liegt auch, wie Oliver hervorhebt, an der Protagonistin Scarlett O’Hara, dieser misogynen, machtbesessenen und mutigen Intrigantin, der ihre Autorin ganz am Ende doch noch eine Katharsis vergönnt.
Schließlich: Solidarität unter Frauen
Emily Oliver: "Sie erkennt erst ganz, ganz spät auf den letzten paar Seiten des Romans, wie viel ihr Melanie tatsächlich bedeutet hat. Und das ist diese sehr berührende Szene tatsächlich, wo Melanie an den Folgen einer Fehlgeburt stirbt, und Scarlett erkennt plötzlich, dass sie sich während dieser gesamten Zeit auf eine Frau verlassen hat. Aber da wird nochmal diese Solidarität unter Frauen unterstrichen. Margaret Mitchell formuliert es als die schreckliche Stärke der Schwachen."
"Scarlett ging in Gedanken die Jahre zurück bis zu jenem stillen heißen Mittag in Tara, als grauer Pulverdampf sich über dem blau uniformierten Leichnam kräuselte und Melanie mit Charles‘ Säbel oben an der Treppe stand. Scarlett erinnerte sich, dass sie damals gedacht hatte: Wie albern! Melly könnte den Säbel nicht mal hochheben! Doch jetzt wusste sie, dass Melanie im Notfall die Treppe heruntergestürmt wäre, um den Yankee zu töten – oder selbst getötet zu werden. Ja, an jenem Tag war Melanie da gewesen, mit dem Säbel in der kleinen Hand, bereit, für sie zu kämpfen. Und jetzt, da Scarlett traurig zurückblickte, erkannte sie, dass Melanie ihr immer mit einem Säbel zur Seite gestanden hatte, unauffällig wie ein Schatten – dass sie sie geliebt und mit blinder leidenschaftlicher Treue verteidigt hatte gegen die Yankees, gegen Feuer, Hunger und Armut, gegen die öffentliche Meinung und sogar gegen ihre eigenen Blutsverwandten. […] Verzweifelt musste sie feststellen, dass sie dem Leben ohne die ungeheure Kraft der Schwachen, der Leisen und Sanftmütigen nicht gewachsen war."
Kein Happy End, aber Kampfgeist
Die zeitlebens verkannte Freundschaft von Melanie bleibt nicht die einzige unglücklich endende Beziehung für Scarlett. Als sie sich endlich ihrer Liebe für den bisher so verhassten und ihr doch loyal ergebenen Rhett Butler bewusst wird, mit dem sie längst in einer Zweckehe lebt, ist es für ihn zu spät. Er weist die Einsichtige ab. Doch Scarlett wäre eben nicht Scarlett, wenn sie sich in den letzten Zeilen des Romans noch unterkriegen lassen würde.
"Mit der Beherztheit ihrer Vorfahren, die keine Niederlage gelten ließen, selbst wenn sie ihr ins Auge sahen, reckte sie das Kinn. Sie konnte Rhett zurückgewinnen. Das wusste sie. Es hatte noch nie einen Mann gegeben, den sie nicht bekommen konnte, wenn sie es sich in den Kopf gesetzt hatte. Ich will morgen darüber nachdenken, in Tara. Dann kann ich es aushalten. Morgen lasse ich mir etwas einfallen, damit ich ihn zurückbekomme. Schließlich: Morgen ist ein neuer Tag."
Margret Mitchell: "Vom Wind verweht"
aus dem amerikanischen Englisch von Liat Himmelheber und Andreas Nohl, Verlag Antje Kunstmann, München, 1328 Seiten, 38 Euro