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Margarete Stokowski: "Untenrum frei"
Der lange Weg zum "Ey, lass das!"

"Untenrum frei" ist ein politisch-feministischer Essay darüber, wie es sich anfühlt, als Mädchen im Nachwende-Deutschland aufzuwachsen. Wenn wir obenrum wirklich befreit wären, wäre das Bild der sexuell attraktiven Frau nicht auf eine junge, glatte und "unverbrauchte" Version beschränkt, argumentiert die Autorin.

Von Miriam Zeh | 05.10.2016
    Eine junge Frau guckt in den Spiegel. Auf den Spiegel hat sie Lippenstift geschmiert.
    In "Untenrum frei" geht es um den aktuellen Schönheitsbegriff und den Stand der sexuellen Revolution für die Nachwendegeneration. (imago/stock&people)
    Margarete Stokowski ist da und sie ist laut und sie ist wütend. "Untenrum frei" ist die Geschichte einer Selbstermächtigung, einer Aneignung. "Untenrum frei" ist Stokowskis eigene Geschichte, ihr Weg aus der Sprachlosigkeit. Er beginnt mit einem Mädchen von vier Jahren, das vom Fahrrad stürzt und sich verletzt. Sie verletzt sich auch "da unten", aber darüber schweigt sie. Denn sie schämt sich. Sie hat gar kein Wort für "da unten".
    Das Mädchen schweigt weiter, als ihr Bruder ein eigenes Zimmer bekommt und einen eigenen Computer, während sie sich ein Zimmer mit der Schwester teilen muss, ein Zimmer ohne Computer. Das Mädchen schweigt, als der Leiter ihrer Schach-AG sie eines Nachmittags im Auto vergewaltigt und als das Mädchen an der Universität ihre ersten Philosophieseminare besucht, schweigt sie auch hier.
    Stokowski zeigt dem Leser, was für ein langer und peinvoller Weg es ist, bis dieses Mädchen "Ey, lass das!" rufen kann. "Ey, lass das!" ruft sie zum ersten Mal laut und bestimmt, als ein Unbekannter sie nachts auf dem Heimweg bedrängt. Im Kindergarten sprach die kleine Margarete noch mit einer verstellt hohen Piepsstimme, um trotz Kurzhaarfrisur nicht länger für einen Jungen gehalten zu werden.
    Ein Studium der Philosophie und Sozialwissenschaften sowie zahlreiche Erfahrungen von gutem und schlechtem Sex später schreibt dasselbe Mädchen ein wütendes Buch über das Ende ihres Schweigens.
    "Dieses Buch ist so ähnlich entstanden: Erst warten die Dinge komisch. Unangenehm. Verletzend. Dann kam die Wut. Heftige Wut auf die Ungerechtigkeit. Und dann das Lachen: Es müsste doch alles nicht so sein. Der ganze alte Scheiß ist längst am Einstürzen."
    Stokowski setzt eigene Erfahrung in Zusammenhang
    "Untenrum frei" ist kein Manifest. Einfache Lösungen und einschlägige Forderungen sind der Autorin suspekt. "Untenrum frei" ist ein Coming-of-Age-Essay darüber, wie es sich anfühlt, als Mädchen im Nachwendedeutschland aufzuwachsen.
    Und obwohl Stokowski ihre Argumentation mittels schlaglichtartiger Bezüge auf ihre Biografie strukturiert, versäumt sie nicht, die eigenen Erfahrungen zu größeren Zusammenhängen und Diskursen in Beziehung zu setzten. Genau darin liegt die Stärke dieses Buches. Margarete Stokowski hat Immanuel Kant gelesen, Hannah Arendt, Simone de Beauvoir und Judith Butler. Aber noch wichtiger: Sie hat über die spezifische Bedeutung dieser Philosophinnen für ihr eigenes Leben nachgedacht.
    All diese Überlegungen verknüpft Stokowski in ihrem Buch zu der flapsig daherkommenden und doch bedeutungsschwere These: "Wir können untenrum nicht frei sein, wenn wir obenrum nicht frei sind. Und andersrum."
    "Untenrum frei zu sein, bedeutet Freiheit im sexuellen Sinne. Es bedeutet zu wissen, was uns gefällt und was wir uns wünschen und es bedeutet, uns das Begehren zu erlauben, das in uns ist – immer so weit, dass die Freiheit der anderen respektiert bleibt. Obenrum frei zu sein bedeutet Freiheit im politischen Sinne: frei von einengenden Rollenbildern, Normen und Mythen."
    Trotz sexueller Revolution vergeuden unzählige Teenagermädchen ihre Zeit damit, sich im Badezimmer zu schminken, nur um die Schminke dann vollständig wieder abzuwaschen. Trotz sexueller Revolution müssen Frauen nach der Geburt schleunigst versuchen ihren "After Baby Body" wieder hinzukriegen, weil sie ansonsten entwertet sind wie ein Kurzstreckenticket und fortan als "Mutti" gelten, als undisziplinierter Pudding.
    Ein diffuses Versprechen, das wenig mit realem Sex zu tun hat
    Wenn wir obenrum wirklich befreit wären, gäbe es eine vielfältigere Palette an Möglichkeiten und das Bild der sexuell attraktiven Frau wäre nicht auf eine junge, glatte und "unverbrauchte" Version beschränkt, kritisiert Stokowski. Wären wir untenrum wirklich befreit, umgäbe uns nicht diese aggressive Masse an Nacktheit, Brüsten und Spielzeug, die ein diffuses Versprechen bilden, das mit tatsächlichem Sex sehr wenig gemeinsam hat.
    "Zwischen all den ironisch, halb ironisch und ernst gemeinten Varianten von Sexismus ist es schwierig geworden zu sagen, was genau das Problem sein soll, wenn eine Fünfzehnjährige sich Playboy-Bettwäsche zu Weihnachten wünscht. Können wir Vermarktlichung annehmen und trotzdem die feinen Differenzen sehen zwischen dem, was es heißt, wenn eine Frau eine Handyhülle mit der Aufschrift 'Bitch' benutzt und wenn ihr Exfreund sie so nennt?"
    Stokowski scheut keine Stellungnahmen zu großen, belasteten Begriffen wie Autonomie, Gerechtigkeit oder Feminismus. Sie zeigt Haltung, bekennt Meinung und findet doch stets über eigene, persönliche Erfahrungen zu ihren Definitionen.
    Stokowski legt ihre eigenen Vorbehalte und Unsicherheiten offen, glaubt an keinen universellen Kanon und an keine allgemeingültige Theorie. Diese Art des politisch-feministischen Schreibens ist nicht neu. Sie erinnert in ihrem Vorgehen und Duktus an Laurie Pennys "Unsagbare Dinge". Dennoch ergänzt Stokowski einen wichtigen Schritt, indem sie dezidiert den deutschsprachigen Raum betrachtet.
    Junge Frauen zwischen 25 und 35 werden sich hier wiederfinden
    Junge Frauen zwischen 25 und 35, die ebenfalls in der ersten oder zweiten Generation studiert haben, werden sich in Stokowskis Analyse womöglich erschreckend genau wiederfinden: Dieselben Poster an der Wand, dieselben Zeitschriften, dieselben sexistischen Sprüche, während man zwei Stunden später wieder an einem Unireferat über hegemoniale Männlichkeit sitzt. Aber auch allen anderen Menschen wird dieses Buch eine anregende Lektüre sein.
    "Für mich bedeutet Feminismus, dass alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Sexualität und ihrem Körper dieselben Rechte und Freiheiten haben sollen. [...] Deswegen ist Feminismus kein Projekt, das man unabhängig von anderen Entwicklungen für sich genommen durchziehen kann: Rassismus, Klassenunterdrückung, alles gehört zusammen – und zusammen weg."
    Stokowski schreibt ein Buch über Macht und über Freiheit, ein Buch über die ganz großen Fragen des Menschen. Es sind Fragen, die alle betreffen. Dass Stokowskis Buch an den bedeutenden Stellen trotzdem ausschließlich von Frauen besprochen wird, macht "Untenrum frei" nur noch wichtiger. Es ist ein eindringliches und bezeichnend unangenehmes Buch. Margarete Stokowski ist da und sie ist laut und sie geht so schnell nicht wieder weg.
    Margarete Stokowski "Untenrum frei"
    Rowohlt; 256 Seiten; 19,95 Euro