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Maria Stepanova: "Der Körper kehrt wieder"
Poesie als Werkzeug des Widerstands

Maria Stepanova gilt in ihrer Heimat als eine der innovativsten Autorinnen Russlands. Mit ihrem jüngsten Gedichtband "Der Körper kehrt wieder" gelingt ihr eine großartige Collage zu einem ernsten Thema: dem wachsenden Patriotismus und Vergangenheitskult in Russland.

Von Marie Luise Knott |
Zu sehen sind die Autorin Stepanova und das Buchcover
Maria Stepanovas Gedichte - ein Karussel aus Möglichkeiten und Unmöglichkeiten (Cover: Suhrkamp Verlag / Foto: Andrej Natozinskij)
In ihrer Jugend erlebte die 1972 in Moskau geborene Maria Stepanova die Hoffnungen von Glasnost, bevor unter Putin das Zerbröseln der Zukunft begann. Patriotismus und Vergangenheitskult waren begleitet von einer zunehmenden Aushöhlung der Sprache im öffentlichen Raum.
Es ist, schreibt Stepanova, als würde eine jahrzehntelang in den hintersten Winkeln des Bewusstseins vergrabene Vergangenheit plötzlich als Parade der toten Dinge durch die Straßen ziehen. Ein eklektisches Allerlei. Jeder modelliere sich etwas zusammen aus dem, was schon da ist, so die Dichterin.
Trauer um die Toten
Tatsächlich zieht solch eine "Parade der toten Dinge" auch durch ihre Gedichte, doch Stepanova unterminiert das patriotische Pathos mit Humor und Sarkasmus, mit lyrisch Liedhaftem und koboldhaftem Spiel. So gibt sie der Trauer um die tatsächlichen Toten Raum und feiert gleichzeitig, dass Poesie ein machtvolles Werkzeug des Widerstands ist.
"Die Dichtung, absurdes vieläugiges
Wesen mit vielen Mündern,
Das in vielen Körpern zugleich lebt,
Ging zuvor durch viele andere Körper,
Die jetzt zwecks Erhalt auf Station sind
Wie etwas demnächst zu Gebärendes."
Fremde Dichterstimmen – Anne Carson, Inger Christensen, Walt Whitman, aber auch Goethe, Brecht oder Celan – sie alle reden hinein; Abzählreime, Kinderverse, Volkslieder mischen sich darunter. Die Übersetzerin Olga Radetzkaja performiert diesen Reichtum an Stimmen, Bildern und Klängen mit derartiger Schönheit und Selbstverständlichkeit, dass es eine Kunst ist.
Maria Stepanova: Aus den lichten Höhen der Essayistik zur Erinnerung
100 Jahre russisch-jüdische Familien-Geschichte im 20. Jahrhundert: Die Dichterin und Essayistin Maria Stepanova hat sich auf die Suche nach den eigenen Wurzeln begeben. Entstanden ist ein komplexes Werk, das die Erinnerung mit philosophischen und kulturhistorischen Reflexionen verbindet.
Das erste titelgebende Langgedicht des Bandes entstand 2019 als Auftragsarbeit zur Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Hier wird die Dichtung selbst zur handelnden Gestalt. Sie schreitet über die Schlachtfelder des 20. Jahrhunderts, liest die verstreuten Teile der Menschheit auf und setzt sie wieder zusammen – in Erwartung des Jüngsten Gerichts und der Auferstehung: des Geistes wie des Fleisches. Die Poesie, eine Knochensammlerin. Traditionelle Metren und Reimstrukturen stoßen auf Ungebundenes. Aufgebaut ist dieses Langgedicht in ferner Anlehnung an Inger Christensens Zyklus "Alphabet". Doch wo Christensen die Erschaffung der Welt in der Sprache evoziert, beschwört Stepanova in einer Art Gegenbewegung die Reparatur der Welt. Mal wird gereimt, mal rezitiert, mal fast gesungen. Auch Kinderversrhythmen mischen sich hinein:
"Komm, sammeln wir diesen Körper gemeinsam ein
(am Kreml den Po, am Stadtrand draußen ein Bein)
Das Ewige Feuer brennt, es verschlingt die Toten,
Die Verschollenen, Vergessenen, Vermissten, die Weißen und Roten.
(...)
Wie setzen wir das bloß zusammen fürs Jüngste Gericht?
Dass Rettung bevorsteht, wussten die Knochen ja nicht."
Fragmente aus Kunst und Kultur
Die beiden anderen Langgedichte des Bandes mit den Titeln "Spolia" und "Krieg der Tiere und Untiere" entstanden vier beziehungsweise fünf Jahre zuvor. In "Spolia" versammelt Stepanova Fragmente vergangener Zeiten und fügt sie zu neuen poetischen Zwecken und Kontexten zusammen. Die Geschichte wird vorgeführt als ein Karussell aus Möglichkeiten und Unmöglichkeiten.
"mein heimatland ich liebe deine Weiten
wo täler tische wald vorübergleiten
und auch den grausen uizraor
und den letzten zaren
und kitesh, kitesh natürlich"
"Kitesh" ist ein mythischer Ort, das Atlantis der russischen Geschichte gewissermaßen, jene Stadt, die einst in einem See versank, weil sie sich gegen den Angriff der Tartaren nicht verteidigen konnte.
Überall ringen Kriegsbilder um Einflusszonen und erobern sogar Goethes Erlkönig:
"wer reitet so spät durch tümpel und bach"
Später heißt es im selben Gedicht:
"aber dort im dunkeln tief unter dem moor
quillt das erdwasser aus dem gestein hervor
kehrt zurück aus der strafkolonie
steht den stühlen schon bis ans knie"
Bilder aus dem Bürgerkrieg
Beim Lesen schmuggeln sich Unsinns-Verse hinein, etwa
"In der 10er-Straßenbahn, hat sich Puschkin wehgetan."
Wo Stepanova der Zerrissenheit bis in den Sound hinein Raum gibt, verteidigt sie die Möglichkeit, sich nicht von Ohnmacht, Scham, Verzweiflung oder Selbstekel das Herz ausschachten zu lassen. Ob ironisch oder nicht – die drohende Auflösung aller Grundlagen von Menschlichkeit wird durchsetzt von sanften Klängen, als gelte es, aus den Kollisionen und Implosionen neue Energie zu gewinnen.
Der dritte Zyklus entstand im Jahr 2015 - unmittelbar unter dem Eindruck des Kriegs in der ukrainischen Donbas-Region. Jede Linie in diesem dichtbevölkerten und hoch anspielungsreichen Langgedicht inszeniert die auftrumpfende, mythendurchtränkte Kriegs-Rhetorik aus Erzählungen, Balladen und Filmen. Volksdichtung und Psalmen mischen sich mit Bildern aus dem Bürgerkrieg wie aus dem Zweiten Weltkrieg. Hineingewoben hat Stepanova ein mittelalterliches Volksepos: das Igorlied, das den (verlorenen) Feldzug eines russischen Fürsten gegen die Polowzer behandelt.
Frage an die Übersetzerin Olga Radetzkaja: Wie eigentlich rekonstruiert man im Deutschen diese Kunst der Überfrachtung?

"Ich kann im deutschen Leser das Igorlied nicht implantieren und keinen Puschkin wachrufen, aber ich kann ein Puschkin-Gefühl erzeugen. Ich habe sehr stark mit dem eigenen Material gearbeitet, genutzt, was sich im eigenen Sprachgedächtnis angesammelt hat. Anfangs hatte ich so meine Fragen, wie das Übersetzen gehen soll, aber irgendwann war ich so im Material drin, im Spielen und Kneten, im Drehen und Wenden ... Es war so etwas wie ein Freiheitserlebnis. "
Solche Freiheit wünscht man sich bei jeder Übersetzung. Gegen die Gefahr des Triumphalismus setzt Maria Stepanova immer wieder auf das Stilmittel der Komik. Eine Subversionsstrategie. Denn im Ironiebad löst sich bekanntlich alles auf.
Die Übersetzerin Olga Radetzkaja sagt zu diesem komischen Element:
"Komik entsteht ja meist aus einem Kontrast, von Erhabenem und Profanem
zum Beispiel, von Zwang und Freiheit, beides zündet auch in diesen Gedichten offensichtlich. Dazu kommt so eine jüdische Färbung, nach meinem Gefühl ist das überhaupt typisch für Komik in der russischen Literatur und Kultur, neben dem Absurden – diese Odessaer Linie: der Witz am Rand des Abgrunds, als letzte Freiheit des Einzelnen – die Situation und sich selber nicht ernst zu nehmen, und gleichzeitig ist sie tiefernst."
Die Kollisionen aus Tragik und Komik in diesem Band spiegeln die gewaltigen Brüche der russischen Gesellschaft. -- Natürlich entgehen uns hiesigen Lesern einige der Anspielungen, doch das mindert kein bisschen das Lesevergnügen. Denn die Art und Weise, wie Maria Stepanova in ihrer Dichtung aus kollektivem Erinnern und eigenem Fragen Funken schlägt, ist tief, erhellend und amüsant zugleich.
Maria Stepanova: "Der Körper kehrt wieder". Gedichte.
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja
Suhrkamp Verlag, Berlin
138 Seiten, 22 Euro