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Marion Poschmann: „Nimbus“
Gedichte als Schutzraum gegen den Klimawandel

Reimlose Verse, Oden und Sonette – in ihrem neuen Gedichtband „Nimbus“ erweisen sich die Gedichte von Marion Poschmann als ein Kälteraum für jene Pflanzen und Tiere, die auf Minusgrade angewiesen sind, um überleben zu können.

Von Michael Opitz | 19.03.2020
Die Schriftstellerin Marion Poschmann ist mit ihrem Roman "Die Kieferninseln", (Suhrkamp Verlag) zu Gast bei der Sendung Lesart auf der Frankfurter Buchmesse 2017
Die Schriftstellerin Marion Poschmann stellt immer wieder Naturbetrachtungen in den Mittelpunkt ihrer Werke (Deutschlandradio / Jelina Berzkalns)
Von Landschaften als Leihgaben spricht Marion Poschmann im Titelgedicht ihres 2016 erschienenen Gedichtbandes "Geliehene Landschaften". Während das lyrische Ich in dem vor vier Jahren veröffentlichten Gedichtband Gegenden wesentlich unbeschwerter erkunden konnte, hat sich die Ausgangssituation für das Ich in ihrem neuem Gedichtband "Nimbus" grundlegend verändert. Inzwischen hat das Ich erfahren, dass es für den Klimawandel und das Artensterben mitverantwortlich ist, so dass die Entdeckungsreisen in abgelegene Landschaftsgebiete nun unter gänzlich anderen Voraussetzungen stattfinden. Beinahe hilflos wird die veränderte Ausgangssituation in dem Eröffnungsgedicht mit dem Titel "Und hegte Schnee in meinen warmen Händen" thematisiert.
Neues Verhältnis zur Natur
Der Versuch, mit den Händen Schnee hegen zu wollen, mutet angesichts der Erderwärmung naiv an, auf jeden Fall aber ist er vergeblich. Poschmanns Ich vermag den Widerspruch, in dem es sich befindet, nicht zu lösen, trägt es doch mit jeder Annäherung an die Natur, mit jedem Wunsch, Naturphänomene aus nächster Nähe betrachten zu wollen, zur Verschärfung der Klimakatastrophe bei. Angesichts dieses Dilemmas sieht sich das Ich gezwungen, das Verhältnis zur Natur neu zu bedenken und kritisch zu hinterfragen:
"Noch gestern betete ich Berge an.
Ich kaufte Ansichtskarten, schickte sie
an mich, nach Hause, zur Erinnerung
an das Zerstörungswerk, das ich hier tat,
ich taute Grönland auf mit meinem Blick,
ich schmolz die Gletscher, während ich sie voll
der Andacht überflog."
Alles, was das lyrische Ich tut, geschieht zwar voller Ehrfurcht vor der Natur, aber zugleich auch im Wissen darum, dass bereits zum Verschwinden von einzigartigen Naturphänomenen beiträgt, wer sie nur in Augenschein nehmen will. Allerdings resultieren daraus keine den Gedichten eingeschriebenen Dringlichkeitsappelle. Nie wird es in Poschmanns Versen fordernd laut – im Gegenteil. Es wird sehr viel geflüstert, manchmal auch nur gehaucht.
Worte wie Schneekristalle
Poschmanns Sprache hat etwas Leichtes. Wie Schneekristalle schweben die Worte in die Zeilen, aus denen ihre Gedichte bestehen. Weiß und unberührt aber sind die sprachlichen Gebilde dennoch nicht, können es nicht sein, weil in den Gedichten naturzerstörende Katastrophen zur Sprache kommen. Für die sich vor unseren Augen abspielende Tragödie des Klimawandels findet Marion Poschmann eindringliche Worte, wenn sie immer wieder von der Notlage spricht, in der sich die Natur befindet. Erfasst von einer großen Müdigkeit und erschöpft wie die Natur, fragt sich die Autorin in ihren Gedichten, was noch zu sagen bliebe, wovon das Gedicht noch sprechen müsste, damit aufgehalten wird, was gestoppt werden muss. Besonders fokussiert sie sich in den Gedichten auf jene im ewigen Eis liegenden Permafrostgebiete in Sibirien, die sich durch den Klimawandel immer mehr erwärmen. Tauen sie auf, wird das zu einer enormen CO2 Belastung führen. In diesem Boden liegen aber auch längst ausgestorbene Pflanzen und Tiere, die – und dieser Faszination vermag sich das lyrische Ich nicht zu entziehen – unerwartet zum Vorschein kommen.
Es hat etwas Vergebliches, wenn Poschmann gegen die Erderwärmung anschreibt, wenn ihre Gedichte, als wären es Gefrierkammern, den Pflanzen und Tieren, die auf Minusgrade angewiesen sind, einen Schutzraum bieten wollen. Das ist nicht viel, und sie weiß natürlich, dass die Literatur gegen den Klimawandel nur wenig auszurichten vermag. Sie ist skeptisch, erhebt aber dennoch, wie im Gedicht "Hypnopomp", dichtend Einspruch:
"Rettung des Weltklimas aus
dem Geist der deutschen Ode –
haben wir uns da nicht etwas
viel vorgenommen?"
Hoch aktueller Gedichtband
Neben Oden, wie der "Ode an die Bordsteinflechte", in der das lyrische Ich eine Flechte "abzupausen" versucht, um sie so zu "erhalten", greift die Dichterin auch auf das Sonett zurück. Als ein Höhepunkt des einfühlsam geschriebenen und thematisch hoch aktuellen Gedichtbandes ist der aus fünfzehn "Dioramen" bestehende Sonettenkranz "Die Große Nordische Expedition" anzusehen. Erinnert wird darin an die durch Sibirien führende Entdeckungsreise des Naturforschers Johann Georg Gmelin, der als Teilnehmer einer Expedition zehn Jahre lang, von 1733 bis 1743, eine damals gänzlich unbekannte Region erkundete. Allerdings ging wichtiges, während der Expedition gesammeltes Material durch ein Feuer verloren. Die erste Strophe des "Meisterstücks", wobei es sich um jenes abschließende Sonett handelt, das alle Anfangsverse der vorangehenden 14 Sonette noch einmal aufnimmt, beginnt mit den Worten:
"Die Welt stand still, und Gmelin: abgebrannt.
Es fielen schwarze Flocken aus den Höhen,
er sah sein Wissen mit dem Schnee verwehen,
so leicht wie Pflanzenschatten an der Wand."
Verkohlte Papiere, die sich nicht mehr entziffern lassen – vom Schnee verwehtes Wissen. Vergangenes und Gegenwärtiges weisen Ähnlichkeiten auf, allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied. Anders als das Feuer, das Gmelins Aufzeichnungen vernichtete, ist die gegenwärtige Klimaerwärmung alles andere als ein Unfall.
Visualisierung des Klimawandels
In Poschmanns klug komponierten, sich in neun Kapitel gliedernden Gedichtband wird vom Eingangskapitel, in dem mit dem Schnee zugleich Weiß als Farbe dominiert, ein Bogen bis zum Schlusskapitel "Daimon" geschlagen, in dem das Weiß in Grau und schließlich in Schwarz übergeht. Deutlich zeigt sich das an Gedichttiteln wie "Eisengrau", "Schwarzpigment" oder "Nimbus" – wie eine dunkle Wolke genannt wird. Durch diesen Farbwechsel erfährt das dem Band eingeschriebene Thema des Klimawandels eine überzeugende Visualisierung. Es wird, wenn die Gletscher verschwinden und die Regionen ewigen Schnees auftauen – im doppelten Wortsinn – immer dunkler werden. Von daher ist es konsequent, wenn das letzte Kapitel in Marion Poschmanns Lyrikband mit "Daimon" überschrieben ist. Zum einen erinnert sie so an den deutschen Erfinder, der Trockenbatterien und Taschenlampen unter dem Markennamen "Daimon" vertrieb, zugleich aber verweist sie auch – und dies gehört zu den Besonderheiten von Poschmanns Dichtung – auf eine weitere, dem Wort eingeschriebene Bedeutung. Der Daimon erscheint bei Platon als ein Wesen, das die Menschen hinter die Schwelle des Todes führt. Die Menschheit steht, dies macht Marion Poschmann auf eindringliche Weise deutlich, an einem Scheideweg. Gelingt es ihr nicht, die Klimakatastrophe durch den Einsatz von erneuerbarer Energie abzuwenden, dann scheint eine in schwärzestem Schwarz gehaltene Zukunft, wie sie in dem Gedicht "Neopren" beschrieben wird, unausweichlich zu sein:
"auflösen würden sich: Cumulostratus
die weite Wasserflächen bedecken
die Meere beschirmen und keine
Besitzansprüche erheben
aufquellen werden: die staatenbildenden
Wolken, vom Donner emporgehoben
Gewalten, die sich durch Reibung entzünden
wenn sie zu dicht aneinander vorbeiziehen
bleiben wird: nächtelang
das Schlagen von Kofferraumdeckeln
ein Wind, der die Dinge verdunkelt
ihnen Konturen nimmt"
Marion Poschmann: "Nimbus". Gedichte
Suhrkamp Verlag, Berlin. 115 Seiten, 22 Euro.