Montag, 29. April 2024

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Marion Schreiber: Stille Rebellen. Der Überfall auf den 20. Deportationszug nach Auschwitz

Auch die nächste Rezension handelt von einem Buch, das eine scheinbar wahnwitzige Rettungsaktion dokumentiert, die zum Erfolg führte, weil auch in Belgien breite Bevölkerungsschichten sich dem mörderischen Antisemitismus widersetzten. Hören Sie den Beitrag von Sven Claude Bettinger über Marion Schreibers Band, "Stille Rebellen. Der Überfall auf den 20. Deportationszug nach Auschwitz."

Sven-Claude Bettinger | 06.11.2000
    "Das Land Belgien ist Deutschlands unbekannter Nachbar. Und das gilt in besonderem Maße für den Widerstand und den zivilen Ungehorsam in Belgien gegen das Naziregime. So wie ich überlebten mehr als 4000 Kinder unter falscher Identität in Familien, Internaten, Klöstern und Heimen des Holocaust. Sechzig Prozent der damals 60.000 in Belgien lebenden Juden wurden nicht deportiert, weil sie sich mit Hilfe von Nachbarn, Freunden und Unbekannten dem Zugriff durch die deutschen Rassenfanatiker entziehen konnten."

    Das schreibt Paul Spiegel, der Vorsitzende des "Zentralrats der Juden in Deutschland" im Vorwort zu Marion Schreibers Buch "Stille Rebellen". Es leuchtet diesen Aspekt der deutschen Besetzung Belgiens genauer aus. In Belgien sind die Fakten wohlbekannt. Unter anderem durch lange, spannende Fernsehserien in den achtziger Jahren. Aber die Belgier brüsten sich nicht mit ihrem menschlichen Verhalten, obwohl sie dazu allen Anlass hätten. In Frankreich oder den Niederlanden wurden wesentlich mehr Juden und andere Flüchtlinge von den Nazis deportiert, oft durch Zutun von Denunzianten und Verrätern. Im Mittelpunkt von "Stille Rebellen" steht eine "Heldentat wider alle Vernunft". Drei engagierte, junge Männer überfielen am 19. April 1943 den 20. Deportationszug vom Sammellager Mechelen nach Auschwitz. Die bewaffneten Partisanengruppen hatten zuvor diese Aktion als zu gewagt abgelehnt. Doch den drei alten Studienfreunden gelang das Husarenstück. Mit einer Sturmlaterne brachten sie den Konvoi zum Stehen, mit einer einzigen Pistole wurden die Begleiter der SS relativ gut in Schach gehalten, mit Zangen die Türen von zwei Viehwaggons geöffnet. 17 Juden "flitzten" - wie einer das in einem Gespräch mit der Autorin nannte - in die Freiheit. Das Beispiel ermutigte 214 weitere "Stille Rebellen", so Marion Schreiber, etwas später abzuspringen, weil der Zug regelmäßig im Schritttempo fuhr. Fast noch erstaunlicher ist, was folgte:

    Alle, die dem Todeszug nach Auschwitz entkamen, konnten auf die Hilfe der belgischen Bevölkerung rechnen. Niemand wurde verraten. L'honneur des Belges, die Ehre der Belgier."

    Umfassend schildert Marion Schreiber die Politik der Besatzer. Der Generalgouverneur der Militärverwaltung, General Alexander von Falkenhausen, trat äußerst gemäßigt auf. Er warnte die Berliner Dienststellen vor allzu hartem Auftreten gegenüber den Belgiern mit ihrem "starken Gefühl für persönliche Freiheit." Aber er wurde bald von SS und Gestapo zur Seite geschoben, die geflissentlich die Anweisungen aus Berlin ausführten. Im Frühjahr 1942 begann die Ausgrenzung der Juden. Sie bekamen Berufsverbot, mußten Firmenvermögen einer Treuhandgesellschaft übertragen, wurden schließlich mit "J"-Stempel im Personalausweis und gelben Judenstern gekennzeichnet. Ein "Judenrat", der sich aus Honoratioren zusammensetzte, musste Asdressenlisten erstellen. Inzwischen wurde der Keller des Gestapo-Hauptquartiers als Verhör- und Folterkammer eingerichtet, die Dossin-Kaserne in Mechelen als Sammellager ausgerüstet. Dann erhielten 10.000 Menschen - das war die zunächst einmal geforderte Quote - den Aufruf zu einem "Arbeitseinsatz" in Deutschland. Als nur ein Bruchteil der Ausgeschriebenen sich meldete, begannen Razzien in den Brüsseler und Antwerpener Stadtbezirken, in denen sehr viele Juden lebten. Einige Angehörige des "Judenrats" waren mißtrauisch. Einer notierte in seinem Tagebuch:

    "Ich fürchte, dass es sich um eine Massendeportation nach Polen handelt. Ich hoffe, dass ich mich irre, aber ich fürchte das Schlimmste."

    Obwohl mehrere Augenzeugen, denen die Flucht aus Auschwitz gelungen war oder die in die Nähe des Konzentrationslagers gekommen waren, über die wahren Begebenheiten aufklärten, kam der "Judenrat" den brutalen, sadistischen und korrupten Schergen immer wieder entgegen, weil er dachte, dadurch Schlimmeres zu verhüten. Auch viele Betroffene erkannten zunächst keine Gefahr. Sie waren davon überzeugt, dass die hochkultivierten Deutschen nicht so handelten und taten sogar die Augenzeugenberichte als kommunistische Greuelpropaganda ab. Die Belgier, die die Deutschen aus der Besatzungszeit von 1914 bis 1918 kannten, ließen sich nicht täuschen:

    "Immer wieder fremden Herrschern unterworfen, praktizierten sie die in Jahrhunderten eingeübte Strategie des hinhaltenden Widerstandes. Die belgische Administration befand sich, sobald es irgendwelche Anliegen der Militärverwaltung auszuführen galt, sozusagen im Bummelstreik. Und die Polizei des Landes, so hatte die Militärverwaltung erkennen müssen, war für die Belange der Besatzungsmacht nicht einsetzbar."

    Den Belgiern waren Antisemitismus und Rassenhass unbekannt. Die Nazi-Propaganda prallte an ihnen ab. In großem Stil wurden Personalausweise, Einwohnermeldungen, Lebensmittelkarten gefälscht. Postboten öffneten verdächtige Briefe und warnten Denunzierte. Die höchsten Kreise protestierten, die beliebte Königsmutter Elisabeth bei Hitler, Kardinal-Erzbischof Van Roey in einem Hirtenbrief. Der bewaffnete Widerstand organisierte sich immer besser, um strategisch wichtige Infrastruktur, führende Kollaborateure und ausgewählte Nazis auszuschalten. Marion Schreiber geht in diesem Zusammenhang ausführlich auf den verblüffenden Angriff eines jungen Piloten im Dienst der "Royal Air Force" ein. Er flog von England nach Brüssel, beschoss das Gestapo-Hauptquartier und flog ungehindert wieder zurück. Mehrere Schergen kamen dabei ums Leben. Vor allem aber regten sich ganz gewöhnliche Leute, um den Verfolgten - übrigens längst nicht nur Juden - tatkräftig zu helfen. "Stille Rebellen" ist fesselnd geschrieben, im Reportage-Stil mit dem die Autorin als langjährige "Spiegel"-Korrespondentin vertraut ist. Immer wieder spürt man ihre Bewunderung und Betroffenheit, insbesondere wenn Überlebende zu Wort kommen. Umso störender wirkt, wenn aus dem Violinvirtuosen Arthur Grumiaux ein "Pianist" wird, Ilya Prigogine ein Nobelpreis für "Physik" zuerkannt wird, wo es einer für Chemie war, oder die Architektur des Hotels "Métropole" als "reines Art-déco" umschrieben wird, obwohl es sich um einen Neo-Napoleon III.-Stil handelt. Doch eine ganze Reihe solcher Schönheitsfehler sollten beileibe nicht vom Kauf und von der Lektüre dieses Buches abhalten. Es füllt auf dem deutschen Markt eine wichtige Wissenslücke.

    Sven Claude Bettinger über Marion Schreiber "Stille Rebellen. Der Überfall auf den 20. Deportationszug nach Auschwitz." Der im Berliner Aufbau-Verlag erschiene Band umfasst 352 Seiten und kostet 39,80 DM.