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Mark Galeotti
"The Vory. Russia's Super Mafia."

Die russische Mafia - ihre Geschichte und Struktur zeichnet der Historiker Mark Galeotti in seinem Buch zur Organisierten Kriminalität in Russland nach. Dabei wird deutlich: Der Einfluss des Verbrechens spielt auch im heutigen Russland eine große Rolle.

Von Frederik Rother | 29.10.2018
    Der Kreml in Moskau
    Der Kreml: Die Verbindungen zwischen Politik und Organisierter Kriminalität sind fließend, meint Mark Galeotti (dpa/Jens Kalaene)
    Die Leiche des Mannes treibt schon einige Wochen im Wasser, als sie nahe Sankt Petersburg an Land gespült wird. Eine tiefe Stichwunde im Bauchbereich deutet auf die Todesursache hin, aber Fingerabdrücke gibt es nicht. Und DNA-Tests sind 1974 unbekannt. Dennoch kann der Mann schnell identifiziert werden. Dank der eindeutigen Tattoos auf seinem Körper:
    "Der springende Hirsch auf der Brust? Der stand für einen Aufenthalt in einem der nördlichen Arbeitslager. Das in Ketten eingewickelte Messer am rechten Unterarm? Der Mann hatte eine Gewalttat hinter Gittern durchgeführt, aber keinen Mord. Die drei Kreuze auf den Knöcheln? Symbolisierten drei verschiedene Haftstrafen."
    Am auffälligsten war der Anker auf dem Oberarm. Der später durch Stacheldraht ergänzt wurde. "Der Anker stand für einen Marineveteran, der während seines Militärdienstes ein Verbrechen begangen hatte und dafür hinter Gitter musste."
    Tattoos als Chiffren der Unterwelt
    Für die Polizei war schnell klar, dass es sich bei dem Toten um einen ehemaligen Marineoffizier handelte. Der hatte einen Wehrpflichtigen fast zu Tode geprügelt, kam ins Straflager, rutschte weiter ab und wurde schließlich zum Kriminellen. Die Tattoos waren sein Lebenslauf – und Chiffren der symbolträchtigen russischen Unterwelt.
    Diese Unterwelt hat Mark Galeotti in seinem Buch "The Vory", wörtlich: "Die Diebe", eindrucksvoll beschrieben und analysiert. Zum einen geht Mark Galeotti darin auf die Geschichte der "vorovskoj mir", der Welt der Diebe, ein, vom späten Zarenreich über die Sowjetunion bis zum Russland der 90er Jahre. Zum anderen analysiert er die Organisierte Kriminalität im heutigen Russland, legt Arbeitsweisen, Strukturen und Verbindungen dar. Zwei Teile, die für den Russlandexperten Mark Galeotti zusammenhängen:
    "Erstens: Kultur, Struktur und Aktivitäten von russischen Kriminellen waren lange einzigartig, nicht zuletzt in Bezug auf die Mehrheitsgesellschaft. Zweitens: Die Veränderungen der russischen Unterwelt sagen viel über die Geschichte und Kultur Russlands aus. Vor allem mit Blick auf die heutige Zeit, in der die Grenzen zwischen Kriminalität, Wirtschaft und Politik zu oft verschwimmen. Drittens: Russische Kriminelle wurden nicht nur von einem sich verändernden Land geprägt, sondern haben ihrerseits auch Russland geprägt."
    Im Zarenreich entstanden die ersten organisierten Gangs
    Die Ursprünge der Organisierten Kriminalität in Russland verortet Mark Galeotti in den Großstadt-Slums, die während der Industrialisierung des späten Zarenreichs entstanden. Hier lebten die Armen, Abgehängten und Heimatlosen. In diesen Slums bildeten sich die ersten organisierten Gangs, die sich auf Taschendiebstahl, Einbrüche, Erpressungen oder Entführungen spezialisierten. Diese Gruppen hielten sich an eigene Regeln, Traditionen und Hierarchien, nutzten eigene Wörter und Symbole.
    Für Mark Galeotti ist das der Grundstock der markanten und teilweise sehr gewalttätigen Welt der Diebe, die bis heute fortwirkt und sich immer wieder an die jeweiligen politischen Rahmenbedingungen angepasst hat. Gut zu beobachten in der Sowjetunion unter Stalin.
    "Die Kultur der 'vorovskoj mir' wurde verstärkt und weitergegeben, indem Kriminelle zusammen in Straflager gesperrt und in Zügen von einem Lager zum anderen gefahren wurden. Das Lagersystem festigte und übermittelte diese besondere kriminelle Subkultur."
    Mit negativen Folgen:
    "Die Kriminellen lehnten den Alltag ab, kompromisslos und dreist. Sie hatten ihre eigene Sprache und ihre eigenen Autoritäten, den sogenannten 'vor v zakone', der Dieb im Gesetz. Eigene Gesetze also, und nicht die der restlichen Gesellschaft."
    Vom Gangster zum kriminellen Unternehmer
    Auf diesen Alltag im Gulag, der Geburtsstätte der "vory v zakone", geht Mark Galeotti detailliert ein. Er schreibt dabei auch über interessante Wechselwirkungen zwischen Unterwelt und Staat. Etwa wenn der sowjetische Machtapparat sich williger Krimineller bediente, um die politischen Gefangenen im Lager zu kontrollieren und zu drangsalieren. Denn die galten als die größere Gefahr.
    Nach dem Tod Stalins 1953 wurden viele Kriminelle amnestiert, die von Regeln und Traditionen beherrschte Unterwelt verschwand langsam. Aber das ist für Mark Galeotti gleichzeitig der Beginn einer Entwicklung, die bis heute anhält: Die Unterwelt definierte sich nicht mehr über die Abgrenzung zur Gesellschaft, sondern näherte sich ihr an – um Geld zu verdienen.
    Gut sichtbar in den Breschnew-Jahren, als Kriminelle – oft in Kooperation mit korrupten Offiziellen – leere Supermarktregale durch illegal importierte oder selbst hergestellte Waren auffüllten. Oder in den wilden 90ern, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als das Schutzgeld-Business aufblühte und Gangster immer mehr zu "avtoritety" wurden, zu kriminellen Unternehmern.
    Mark Galeotti gelingt es im ersten Teil des Buches schlüssig, kenntnisreich und oft auch unterhaltsam die Entwicklung der russischen Unterwelt im letzten Jahrhundert nachzuzeichnen.
    "Grenzen zwischen Kriminellen und Politik sind fließend"
    Auch der zweite Teil, in dem es um die Organisierte Kriminalität im heutigen Russland geht, ist lesenswert – wenn auch analytischer. Eine zentrale These, die der Russlandexperte hier verfolgt und in einem Video zum Buch erklärt:
    "Als Putin an die Macht kam, bot er der Organisierten Kriminalität quasi einen Vertrag an. Macht nichts, was die Autorität des Staates öffentlich in Frage stellt, keine Schießereien aus fahrenden Autos, keine Autobomben, mit denen in den 90er Jahren Streitigkeiten gelöst wurden. Aber wenn ihr den Staat als stärkste Kraft akzeptiert, könnt ihr eure Geschäfte weiterverfolgen. Das ist der Deal: Ihr macht eure kriminellen Sachen, akzeptiert die vom Kreml gesetzten Grenzen und tut dem Kreml ab und an einen Gefallen."
    Hier liefert Mark Galeotti Beispiele, etwa wenn kriminelle Gruppen und der russische Geheimdienst Zigaretten schmuggelten, um illegale Geheimdienst-Operationen zu finanzieren. Auch dass Kriminelle dem Kreml bei der Krim-Annexion geholfen hätten, ist ein spannendes Kapitel. Der Staat übernimmt den Ausführungen zufolge kriminelle Handlungsmuster, die Grenzen zwischen Politik und Organisierter Kriminalität sind demnach fließend.
    Ein akkurates Bild der Organisierten Kriminalität in Russland
    Mark Galeotti hat breit gearbeitet: Er schreibt über die Struktur krimineller Netzwerke, georgische Unterweltgrößen und die Besonderheiten tschetschenischer Gangs. Das führt zu teilweise deprimierenden Zustandsbeschreibungen des heutigen Russlands. Optimistisch bleibt er trotzdem: "Letztlich ist das russische Volk das erste und größte Opfer der Welt der Diebe. Und es wird die Aufgabe des Volkes sein, diese Entwicklungen zu stoppen. Ich bin zuversichtlich, dass das irgendwann passieren wird."
    Mark Galeotti greift auf viele Quellen zurück, er hat mit Polizisten, Sicherheitsbeamten und Gangstern gesprochen, drei Jahrzehnte recherchiert. Und er zeichnet ein mutmaßlich akkurates Bild der Organisierten Kriminalität in Russland – die heutzutage übrigens vor allem transnational aufgestellt ist und sich oft im Westen wohl fühlt.
    Er will aber manchmal auch zu viel: Es gibt einige Unterkapitel, die oft nur wenige Seiten lang sind und teilweise neue Fragen aufwerfen. Auch die wissenschaftliche Tiefe macht das Lesen manchmal schwerfällig.
    Aber das ändert nichts daran, dass Mark Galeotti mit "The Vory" ein beeindruckendes Buch geschrieben hat, das zum Standardwerk über die Organisierte Kriminalität in Russland werden könnte.
    Mark Galeotti – "The Vory. Russia’s Super Mafia",
    Yale University Press, 326 Seiten, 17,99 Euro. Bisher nicht auf Deutsch erhältlich.