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Markus Gabriel: "Fiktionen“
Philosophie gegen Fake News

Als real gilt heute nur das, was als naturwissenschaftlich nachweisbar ist, gemessen und "getrackt" werden kann. Gleichzeitig aber scheinen Wirklichkeit und Fiktion vielen Menschen ununterscheidbar. Der Philosoph Markus Gabriel will deshalb unseren bedrohten Sinn für das Wirkliche rekalibrieren.

Von Thomas Palzer | 26.07.2020
Der Philosoph Markus Gabriel und sein Buch "Fiktionen"
Markus Gabriel rekalibriert die Fiktionen (Foto: imago images/Future Image/Christoph Hardt, Buchcover: Suhrkamp Verlag)
Wir leben in einer medial durchgetakteten Wirklichkeit, die im größten Informationspool aller Zeiten Tag für Tag den Faktencheck zelebriert. "Fakten, Fakten, Fakten" – so lautete der Wahlspruch eines zu Anfang der 1990er-Jahre gegründeten Nachrichtenmagazins. In dem Slogan kam die allgemeine Sehnsucht nach Wirklichkeit und Authentizität zum Ausdruck, die bis zum heutigen Tag ungebrochen ist.
Diese Sehnsucht scheint auf eine zunehmende "Entwirklichung" der Wirklichkeit zu antworten, die nicht nur von der Digitalität, sondern auch von den Natur- und Neurowissenschaften betrieben wird. Denn nach dem, was sie sagen, ist nichts so, wie es scheint. Schenken wir diesen Theorien Glauben, sind bestenfalls Quantenfluktuationen wirklich – die Wirklichkeit selbst aber ist es nicht. Die, so wird behauptet, sei eine Illusion, eine Illusion unseres Gehirns.
Schon Nietzsche wusste, dass in diesem Fall, wenn die wahre Welt abgeschafft wird, mithin auch die scheinbare abgeschafft ist. Dass es sich tatsächlich so verhält, erkennen wir daran, dass im Zuge der Überhöhung des Echten und Erlebten eine Abwertung des Fiktiven und der Fiktion statthat. Auf der einen Seite verortet man die "harten" Fakten – und auf der anderen das, was bloß "erfunden" ist und der Unterhaltung dient. Wenn aber die Fiktion, um es kurz zu sagen, als "Fake" missverstanden wird, ist ontologisch einiges durcheinandergeraten. Um dem abzuhelfen, hat der Bonner Philosoph und Erkenntnistheoretiker Markus Gabriel ein Buch zum Thema verfasst – sein Titel lautet folgerichtig: "Fiktionen".
"Wir entrinnen der Wirklichkeit nicht dadurch, dass wir uns täuschen oder getäuscht werden. Denn das Wirkliche ist dasjenige, zu dem wir nicht erfolgreich auf Abstand gehen können. Jeder Fluchtversuch scheitert hier daran, dass wir uns mitnehmen, dass also dasjenige, dem wir zu entkommen suchen – die Wirklichkeit – durch unsere Einbildung allenfalls verändert wird. Kein Gedanke und keine Tätigkeit bringen sie zum Verschwinden."
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Die Krise der Erkenntnis
Unter dem Druck eines Naturalismus, der Politik und Wissenschaft längst dominiert, gilt heute nur das als wirklich, was naturwissenschaftlich nachweisbar ist, also gemessen und "getrackt" werden kann. Darunter leidet das Subjekt, das seine "inneren" Erlebnisse nur teilen kann, wenn es sie erzählt – innere Zustände lassen sich nicht messen; bei dem Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, schlagen keine Zeiger aus; Zahlen geben bestenfalls die Zahl der Seiten an. Trotzdem behauptet das Subjekt hartnäckig, ständig irgendwelche Zustände zu haben und etwas wahrzunehmen – Farbeindrücke, Stimmungen, geistige Höhenflüge, moralische Bedenken. Da darf es sich nicht wundern, wenn es unter Verdacht gerät. Man verdächtigt es, in lauter Täuschungen verstrickt zu sein, denn Farben, so der szientifische Mainstream, gäbe es ebenso wenig wie Musik und ähnliche Stimmungsaufheller, sofern sie nicht pharmakologisch belegt sind – alles Illusionen, die das Gehirn bewerkstelligt, als Organ ein "Multispreader" der Fiktion. Was subjektiv ist, ist genau das – und das eben "nur". Es ist, wie die Neurowissenschaft annimmt, dicht an der Halluzination.
Es geht in Markus Gabriels Buch um die Frage, wie wir Erkenntnis erkennen – und darüber, was existiert und was nicht. Schon sein Bestseller aus dem Jahr 2013, "Warum es sie Welt nicht gibt", behauptete keck, dass es die Welt nicht gäbe – ein Gesamthorizont wie ihn der Begriff "Welt" nahelegte sei nur ein Kniff der Behälterlogik. Nun aber, in "Fiktionen", geht es dem Senkrechtstarter in der akademischen Philosophie um etwas Anderes – nämlich um einen "fiktionalen Realismus". Ein solcher würde den sogenannten Neuen Realismus ergänzen, für den neben anderen Philosophen auch Markus Gabriel eintritt und dessen Hauptanliegen darin besteht, die postmoderne Flucht vor den Tatsachen zu dekonstruieren. Nun also soll der Neue Realismus eine ontologische Provinz erschließen, die in einem umgangssprachlichen Sinn gerade nicht realistisch ist. Wie aber kann das gehen?
Der Geist als Wahrnehmungsorgan
"Nehmen wir den Begriff der Wahrnehmung einmal wörtlich und fragen: Was nehmen wir eigentlich (für) wahr, wenn wir wahrnehmen? Der Szientismus behauptet, Wahrnehmungen seien im buchstäblichen Sinn ‚Sinnestäuschungen‘, denn was uns unsere Sinne mitteilten, würde erst in unserem Gehirn verarbeitet und zu etwas zusammengebaut, was als Repräsentation eines im Grunde unerkennbaren Außen operiere, um uns dienlich zu sein. Dem ganzen voraus liegt die Frage, ob es ‚überhaupt‘ Bereiche gibt, auf den sich Wissensansprüche und Erkenntnisakte beziehen können – denn das lässt sich unter philosophischen Prämissen nicht umstandslos voraussetzen."
Gabriel folgt bei seiner Auffassung von dem, was wir mit "Wahrnehmung" meinen, nicht dem neuzeitlichen Modell, das davon ausgeht, dass Wahrheit erstens: objektiv sein muss, und zweitens: nur dann von "Objektivität" gesprochen werden kann, wenn das Subjekt und damit der Beobachter ausgeschlossen wird, um durch Apparate ersetzt zu werden. Doch einmal abgesehen davon, dass wir bei diesem Modell natürlich hartnäckig noch vorhanden sind, weil wir in die Architektur der Apparate verstrickt sind, stellt sich die Frage, was "Objektivität" überhaupt bedeuten soll in einer Welt, in der Subjekte, nämlich wir selbst, nicht mehr vorkommen. Ohne Subjekt gibt es doch kein Objekt! Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel spricht diesbezüglich treffend von einem "Blick von nirgendwo".
Fakt oder Fake? (Symbolbild)
Debatte über Fake und Fiktion - „Robert Menasse hat einen Vertrauenspakt gebrochen“
Wo verläuft die Grenze zwischen Fiktion und Fake? Die Fälle Robert Menasse, Takis Würger und Claas Relotius haben eine Debatte darüber ausgelöst. Die Unterscheidung zwischen einem fiktionalen und einem faktionalen Text sei gar nicht so einfach, sagte der Literaturwissenschaftler Thomas Strässle im Dlf.
Gabriels Position im Hinblick auf Wahrnehmungen ist eher eine aristotelische, insofern die Weltrichtigkeit von Wahrnehmungen von ihm nicht bezweifelt wird, im Gegenteil. In jeder Wahrnehmung verschmilzt, wenn wir Aristoteles respektive Gabriel folgen, derjenige, der wahrnimmt, mit dem, was von ihm wahrgenommen wird. Was wir wahrnehmen, sind Tatsachen, denn wir sind in die Wirklichkeit und deren Strukturen tief eingebettet. Wahrnehmungen sind folglich weder rein subjektiv, noch gaukeln sie uns im Verbund mit dem Gehirn eine Realität vor, die nirgends existiert. Wenn wir uns täuschen, täuschen wir uns, weil wir unsere Wahrnehmungen falsch einschätzen. Täuschungen sind vermittelt, während Wahrnehmungen keine Repräsentation benötigen, weil sie selbst es sind, die vermitteln - mithin zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenen.
Auch der Geist ist eine Art Wahrnehmungsorgan, denn kraft seiner verschmilzt der Mensch mit sich selbst. Laut Markus Gabriel ist Geist nichts anderes als die Fähigkeit, ein Bild von sich selbst zu erstellen.
Man ist so – will aber anders, nämlich so sein.
Gabriel variiert dabei eine Theorie, die den Geist wie Niere oder Leben als einen Filter betrachtet. Aus dem großen geistigen Strom des Universums werden jene Denkmuster herausgefiltert, die wir zu erkennen vermögen – so, wie das Auge die elektromagnetische Strahlung filtert.
Wenn die Gegenwart und speziell deren Wissenschaft davon ausgehen zu können glauben, dass die Gegenstände von sich her so sind, wie sie sind, muss Gabriel dem vehement widersprechen:
"Die Gegenstände, die wir wahrnehmen, sind faktisch nicht kausal von unserem Geist unabhängig. Indem wir in denselben kausalen Feldern auftauchen, modifizieren wir durch unsere Anwesenheit im Universum das Universum selbst. Wie tiefgreifend dieser kausale anthropische Beitrag ist, ist bisher nicht ganz geklärt. Dass er vorliegt und dringend in Rechnung gestellt werden muss, ist aber eine bekannte Konsequenz der modernen Physik seit ihren monumentalen Errungenschaften der Relativitäts- und Quantentheorie."
Der Bonner Erkenntnistheoretiker verknüpft hier Naturwissenschaft mit seiner sogenannten Sinnfeldontologie, kurz SFO, die ihrerseits inspiriert ist von der physikalischen Feldtheorie. In nuce gesprochen besagt die Sinnfeldtheorie, dass Dinge, die hier nicht vorfindlich sind, deshalb nicht nicht existieren, vielmehr sind sie lediglich woanders, in einem anderen Sinnfeld.
Doch zurück zum Problem der Wahrnehmung. In "De anima" schreibt Aristoteles:
"Die Wirklichkeit des Wahrnehmbaren und des Wahrnehmenden ist ein- und dieselbe."
Mit anderen Worten: Wahr ist nicht nur das, was wahrgenommen werden kann, sondern auch das, was von der Einbildungskraft dazugedichtet wird. Besser ausgedrückt: Wahr ist nur, wo Subjekt und Objekt miteinander verschmelzen. In diesem speziellen Sinn sind Wahrnehmungen hochproduktiv, insofern sie das, was wahrgenommen wird, mit dem, der wahrnimmt, zu einem Dritten verbinden, das wir "Tatsache" nennen. In der Wahrnehmung vollzieht sich das "Präsentwerden" des Gegenstandes. Sie erfordert trivialerweise zwingend jemanden, der die Wahrnehmung wahrnimmt.
Jede Wahrnehmung nimmt aber nicht bloß irgendein Detail war, sondern im Grunde eine ganze Welt. Wir hören nicht einzelne, voneinander isolierte Töne, wir hören Musik, Vogelgesang, einen Rasenmäher. Der Überschuss an semantischer Energie, der damit verbunden ist, dass wir mehr hören, als wir eigentlich hören, muss von der Einbildungskraft zugesteuert werden, denn nur sie ist in der Lage, aus einem isolierten Einzelding etwas zu machen, das notwendig in einen Kontext eingespannt ist – in eben ein "Sinnfeld", wie Gabriel sagen würde. Es besitzt seine eigene Ironie, dass man dazu auch Welt sagen könnte – dann nämlich, wenn wir einen ontologischen Pluralismus voraussetzen, eine Vielheit von Welten, wie das beispielsweise schon bei Giordano Bruno diskutiert wird (der allerdings die unterschiedlichen Sinnfelder an unterschiedliche Planeten bindet).
Wenn es bei dem ungarischen Chemiker und Philosophen Michael Polanyi in seinem Essay "Impliziertes Wissen" heißt, wir wüssten mehr, als wir zu sagen wüssten, können wir jetzt im Hinblick auf Wahrnehmung mit Edmund Husserl (in der "Krisis der europäischen Wissenschaften") sagen, dass wir immer schon mehr sehen, als wir eigentlich sehen.
Markus Gabriel sagt:
"Zu jeder Wahrnehmungsszene gehört ein Überschuss, der nicht seinerseits direkt wahrgenommen wird, sondern der uns vielmehr mit vielfältigen fiktionalen Gegenständen in Verbindung setzt. Wir sind unter den als normal erlebten Bedingungen unseres bewussten Wahrnehmens nicht in isolierte Wahrnehmungsepisoden eingekapselt."
Mit dieser Aussage sind weitreichende Schlussfolgerungen verbunden. Zum einen bedeutet das, dass Wahrnehmung nur als mit fiktionalen Elementen "angereicherte Wahrnehmung" Wahrnehmung ist. Geist oder Subjekt sind demnach unhintergehbar, denn ohne uns lässt sich nichts wahrnehmen – und das klingt selbstverständlicher als es ist. Ohne unseren, den subjektiven Anteil gäbe es nämlich die phänomenale und herkömmlich "objektiv" titulierte Welt schlechterdings nicht. Tatsächlich aber ist es so, dass wir uns gewöhnlich auf das Außen beziehen, als ob dieses unabhängig von uns bestünde. Gabriel zeigt jedoch, dass kein Gegenstand nur von sich selbst abhängig ist, da unsere mentalen Zustände konstitutiv für die Einrichtung der Wirklichkeit sind und diese mitformen.
Des Weiteren wird mit der These vom semantischen Überschuss bestätigt, dass Fiktionen "wirklich" sind, obwohl sie nicht im landläufigen Sinn existieren. Materielle Existenz ist für Wirklichkeit keine notwendige Bedingung. Und drittens und letztens erledigt sich damit die naive Vorstellung, Realismus bedeute die Anerkennung einer bewusstseinsunabhängigen Außenwelt. Hier also wird der fiktionale Realismus, von dem Gabriel spricht und dem er mit seinem Buch zum Durchbruch verhelfen will, greifbar.
Nicht auszutreiben, der Geist
"Unsere ökologische Nische ist kein Phantom, keine Mauer, hinter der sich das Physische befindet, dem wir mittels physischer Experimente und Theoriebildung auf die Schliche kommen. Denn Experiment und Theoriebildung sind genauso Bestandteil der Lebenswelt wie die grüne Farbe des Einbands meiner Husserl-Ausgabe oder der Abfolge von Tonhöhen in einer Beethovenaufführung. ‚Die Art und Weise, wie uns Wirklichkeit erscheint, ist selbst etwas Wirkliches‘. Im Denken und Erleben transzendieren wir weder ein kausal geschlossenes An-sich, das sich nicht um uns kümmert, noch überschreiten wir durch unsere erfolgreichen Erklärungen einen mentalen Innenraum durch Hypothesenbildung darüber, wie es sich in der Außenwelt verhält."
Gabriel ist es in seinen "Fiktionen" um eine Rehabilitation des Subjekts zu tun – und mit dieser einher geht eine Abkehr von jenem seltsamen Pietismus, der verlangt, dass es Sein ohne Schein geben müsse – sozusagen ein Sein, das durch und durch es selbst und nur es selbst ist. Aber nichts auf der Welt ist nur es selbst. Diesen Weg haben allerdings die Naturwissenschaften eingeschlagen, besser: der Szientismus, der ja alles auf Teilchen zurückführen will und behauptet, Geist sei aus etwas emergiert oder emigriert, was kategorial von ihm verschieden ist –- etwa aus Materie, sprich: dem Gehirn. Wenn aber letzthin alles Materie wäre, wäre das System total – und Devianz, Irrtum und Transzendenz blieben ausgeschlossen –, wobei nun wiederum genau dieser Ausschluss dafür sorgen würde, dass das porentiefe Sein in Schein umkippte. Alles löste sich in Nichts auf. Der Geist als das Immaterielle schlechthin ist aus der Materie nicht vollends zu vertreiben.
Damit nämlich etwas als "wirklich" erkannt und "anerkannt" werden kann, muss die Möglichkeit des Irrtums bestehen, muss man sich Illusionen machen können, denn erst dann ist dieses Wirkliche von allen einzelnen Meinungen "unabhängig" und als solches anerkannt.
Sonst bliebe es ja eben Meinung. Die unterschiedlichen Meinungen wiederum erfordern Normierung. Das Wirkliche, so konstatiert folgerichtig der Bonner Philosoph, lässt sich so wenig beweisen wie falsifizieren, weil es umgekehrt das Wirkliche ist, welches falsifiziert oder bewahrheitet. Zum Beispiel über die Wahrnehmung.
"Aus der Physik folgt nicht, dass alles, was es überhaupt gibt, im Sinnfeld der Physik vorkommt. Wer meint, dass eine Bundestagswahl aus Elementarteilchen besteht, so dass das Ergebnis zum ‚Zeitpunkt‘ des Urknalls ‚im Prinzip‘ schon feststand, hat sich in so viel Unsinn verzettelt, dass keine Aussicht auf baldige Rettung mehr besteht."
Dass alles Physik wäre, ist eine Illusion, die entsteht, wenn das Sinnfeld, in dem diese vorkommt, über alle Maßen aufgebläht wird, so dass alle anderen Sinnfelder gegenüber ihr als niederstufige Systeme beschrieben werden müssen. Was wir als "Welt" beschreiben, ist nach der Gabrielschen Sinnfeldontologie eine unendliche und unüberschaubare Ansammlung und mehrdimensionale Verschachtelung von Sinnfeldern. Was nicht existiert, existiert zwar hier nicht, aber woanders. Analog zu dieser Mereologie kann Gabriel sagen: Der Geist ist nicht Teil des Gehirns, sondern das Gehirn Teil des Geistes.
Erzählen, was ist
"Menschliche Vergesellschaftung ist fundamental fiktional. Derjenige Zusammenhang menschlicher Gruppen, den wir als ‚Gesellschaft‘ oder ‚Kultur‘ anzusprechen gewohnt sind, verdankt sich historisch der Mythenbildung. Der Mensch ist ohne das mythologische Bewusstsein seiner Stellung im nicht-menschlichen Kosmos nicht zu verstehen."
Konstitutiv für unser Dasein – und hier werden wir von Ferne an den amerikanischen Philosophen Stanley Cavell erinnert – ist das Erzählen, ist, genauer, die Fiktion dessen, was erzählt wird. Der Mensch zählt – aber er "erzählt" auch, weil für ihn nur über das Erzählen isolierte Phänomene zu einer Welt, zu einer Geschichte verknüpft werden können. Eine Geschichte liefert Erkenntnisse darüber, wie sich die Dinge verhalten, liefert folglich Erkenntnis über Tatsachen. Wenn etwa der Weg vom Mythos zum Logos erzählt wird, um am Schluss auf das Gehirn als Quelle des Geistes zu sprechen zu kommen, ist das eine Geschichte, wie sie uns ungefähr Heidegger unter dem Stichwort "Seinsvergessenheit" erzählt. Was nun grundsätzlich jede Erzählung auszeichnet, ihre Fehlbarkeit, d. h. jede Geschichte schließt die Möglichkeit in sich ein, korrigiert werden zu können. Die Geschichte, die uns nämlich der Naturalismus erzählt, wird durch einen philosophischen Essay wie denjenigen, der uns gerade vorliegt, korrigiert - zumindest versucht er das, und, wie ich finde, recht erfolgreich.
Noch einmal der Erkenntnistheoretiker Gabriel:
"Die Frage, wie Werte, Geist, Bewusstsein, Leben, Schönheit, Zahlen, Farbeindrücke usw. ins Universum passen, wirft ontologische und erkenntnistheoretische Schwierigkeiten ersten Rangs auf. Denn unser Menschenbild verdankt sich jederzeit dem Umstand, dass wir aus der nicht-menschlichen Umgebung herausfallen, woran auch die moderne Astrophysik nichts geändert hat, die zum Paradigma unserer exzentrischen ‚Positionalität‘ geworden ist. Wir entfernen uns selbst ständig aus jedem vermeintlichen Zentrum, in das wir uns hineingedichtet haben."
Aus diesem Absatz spricht deutlich der Geist Nietzsches, der meinte, dass der Mensch immer mehr ins Abseits rolle, seitdem er mit Sokrates entschieden habe, das dürre und letztlich nihilistische "Faktum" der reichen und weltschöpfenden Fiktion vorzuziehen.
Markus Gabriel ist mit "Fiktionen" ein dichtes und reich verknüpftes Werk gelungen, das als Antidot zu den akademischen Moden Naturalismus und Konstruktivismus unbedingt zu empfehlen ist. Sein Verdienst liegt darin, die Einbildungskraft von dem Makel, bloßer Fake oder bloße Erfindung zu sein, befreit und einprägsam als ein Organ ausgezeichnet zu haben, das kategorial den Wahrnehmungsorganen zuzurechnen ist. Zuweilen, wenn der Autor die eigenen Positionen und Operationen gegenüber anderen abzudichten trachtet, verliert es sich und mäandert. Dann entsteht der Verdacht, der Mann arbeitete hier an einem "System" nach dem Ende der Systemphilosophie.
Markus Gabriel ist stilistisch ähnlich suggestiv wie Sloterdijk, wobei dessen Stil deutlich ausgeprägter an der Literatur orientiert ist. Gabriel argumentiert in "Fiktionen" im Rahmen der Ontologie, die naturgemäß der Logik verpflichtet bleibt. Ein Bedenken zum Schluss: Vielleicht überdehnt jede Ontologie an ihren heiklen Stellen die Logik – in dem Sinn, dass in Vergessenheit geraten scheint, dass auch diese selbst nur eine Geschichte ist. Die Logik war der Glaube der Griechen. Über das Verhältnis von Sein und Schein sagt sie womöglich nicht so viel aus, wie aussagen zu können ihr zugetraut wird.
Markus Gabriel: "Fiktionen"
Suhrkamp Verlag, Berlin. 636 Seiten, 32 Euro.