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Marlene Streeruwitz: "Yseut"
Das Herz auf Abenteuerreise

Mit einer geladenen Pistole in der Handtasche schickt die österreichische Autorin Marlene Streeruwitz ihre Protagonistin in ihrem neuen Buch "Yseut" auf eine Reise nach Italien. Ein ganzes Frauenleben packt sie in etwas, das sie Abenteuerroman nennt – die Liebe, Mafiosi und andere Verbrecher inbegriffen.

Von Julia Schröder | 18.09.2016
    Die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz
    Die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz. (dpa / picture alliance / Carmen Jaspersen)
    Mit dem Namen, den Namen fängt die Irritation schon an: Yseut ist der eine, die altfranzösische Form von Isolde. Isabella aber nennt sich die Trägerin gelegentlich zu anderen Zwecken. Sie darf das, denn Ysabelle, wieder mit dem Y als Initial, ist ihr zweiter Vorname. Isolde und Isabel, zwei Namen für Königinnen, für große Liebende, für romantische Heldinnen. Yseut, die Titelfigur des neuen Romans von Marlene Streeruwitz, ist all dies, durchaus. Was wir außerdem sehr bald erfahren in diesem Buch: Yseut Ysabelle Lucas, geborene Köbrunner, ist von Wien ins Venezianische gereist mit einer Pistole in der Handtasche. Und Italien ist nicht mehr, was es mal war. Damals, als Yseut jung war.
    Vom ehemaligen Sehnsuchtsland, wo die Zitronen blühten, hat dieses Italien nicht mehr viel, am wenigsten, so scheint es, in der Gegend um Taglio di Po, im Dreieck zwischen Ferrara, Venedig und Ravenna, wo der große Strom sich in weitverzweigtem Delta träge zu den Lagunen und Lidos der Adria schiebt, wo die Wege auf Dämmen hoch über sumpfigen Brachen verlaufen, wo der Reis auf Feldern drei Meter unter dem Meeresspiegel wächst und im Sonnenglast die alten Fattorien ebenso vor sich hinbröckeln wie die aufgegebenen Gewerbegebiete und toten Shopping Malls. Wenn die Landschaft in einem Roman etwas zu besagen hat, was ja die Regel ist, dann sagt sie hier "Land unter”. Sie sagt es in dem Sound, der Streeruwitz’ Prosa unverwechselbar macht:
    "Das Auto stand auf dem Damm. Hoch über der Landschaft rechts. Der Fluss. Links. Sie war ganz allein. Kein anderes Auto auf der Dammstraße. Niemand auf den Feldern. Heiß. Es war Morgen, aber die Sonne sehr heiß. Das war keine Septembersonne. Am Wasser der Auwaldstreifen schütter. Ausgeholzte Strecken, in denen die Waldrebe den Boden entlang kroch. Am Ende der Lianen die Blätter herbstlich rot. Wieder einzelne Stämme der riesigen Schafgarben. Dazwischen der Blick auf das Wasser. Eine dunkle weiche Fläche. Yseut hätte nicht sagen können, in welche Richtung das Wasser floss. Und dann. Sie musste nach rechts schauen. Etwas hatte sich bewegt. Sie suchte. Was war das gewesen. Und dann sah sie es. Bei einem verfallenen Bauernhaus bewegte sich etwas. Das Haus weit drinnen inmitten der Felder. Die Mauern waren an zwei Seiten eingebrochen. Das Dach eingesunken. Hohe Büsche rundum. Ihr wurde sofort übel.”
    In Europa ist irgendetwas ganz schwer schiefgegangen
    Dass Yseut mit körperlicher Übelkeit auf das Forthuschen dunkler Gestalten reagiert, kommt nicht von ungefähr. Schon auf der Anreise zur Unterkunft zwischen den Dämmen – einer malerisch verfallenden Villa, in deren Nähe Lord Byron seine letzten Jahre zubrachte – hat die Italienfahrerin Kontrollposten martialischer Sondereinsatzkräfte passiert. Irgendetwas ist in Europa ganz schwer schiefgegangen. Kreditkarten anstelle des praktisch verbotenen Bargelds ermöglichen die lückenlose Überwachung der Konsumbürger ebenso wie die GPS-Lokalisierung in jedem Auto. Seitdem nicht nur in Wien die Rechtspopulisten das Sagen haben, gelten alle Flüchtlinge für illegal. Yseut gerät, kaum im Veneto angekommen, mitten hinein in verwickelte und ihr wie dem Leser nur schemenhaft erkennbare Kampfhandlungen und Widerstandsakte zwischen Polizei, Mafia, Militär, angeblichen Separatisten und vermutlich rechten Gewalttätern. In der Villa trifft sie auf den "Major”, einen offenkundig steinalten CIA-Mann, und die ebenso steinalte "Contessa”, die irgendwie in den Bürgerkrieg in Nordirland involviert war. Der erste Abend endet mit einem Überfall. Es ist Yseut, die auf die maskierten Täter schießt. Willkommen im Krieg, willkommen in der allernächsten Zukunft.
    Es geschieht allerdings auch etwas, das Yseut schon oft geschehen ist, aber selten so heftig und umschweiflos: Ein Mann rückt ihr zu Leibe, und sie lässt sich das gern gefallen. Der charismatische Gio Gio erinnert sie mit seiner Aura von Lust an der Gewalt an Albert Spica, die Schurkenfigur aus Peter Greenaways Film "Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber”.
    "Begehren. Stieg auf. Wieder. Stieg wieder auf. Erfasste sie. Schüttelte sie. Ein lebendiges Ding über sie in sie hergefallen. Atemholen dagegen. Zischend atemholen dagegen. Ein Schluchzen. Das war doch befriedet gewesen. Ein Gleichgewicht. Sie hatte ein Gleichgewicht. Gehabt. Erworben. Ein ruhiges Maß war das gewesen. Ebener Grund, auf dem zu stehen. Von dem zu planen. Von dem aus ihre Verteidigung. Sicher und ruhig. Ruhig. Ruhe. Nur Ruhe. Aber. Sie war wieder gejagt. Sie war wieder gehetzt. In ihr. Es jagte in ihr. Es hetzte in ihr. Der Magen. Bis zur Kehle hinauf verschnürt. Hall. Widerhall. Im Bauch. In der Brust. Ein Hall von all den Zeiten, in denen es so gewesen war. Begehren. Es war wohl nie befriedet gewesen. Zu keiner Zeit kein Hunger nach Auflösung. Nach Vergehen. Sich verlieren. Versinken. Sich in Arme werfen und dann nichts. Kein Morgen mehr nach der Nacht und keinen anderen Namen als den einen. Dann. Sie hätten einander zufallen müssen und alles voneinander wissen und sonst nichts. Aber. Nicht ein Mal hatte sie das gehabt. Kein einziges Mal. Nie.”
    Die Anklänge an den Liebestod der Heldin in Richard Wagners Oper "Tristan und Isolde” - "Ertrinken. Versinken. Unbewusst. Höchste Lust” - sind unüberhörbar. Aber der hier erwähnte "Hall von all den Zeiten”, die ein Frauenleben ausmachen, ist nicht nur das Echo auf vielerlei Liebeserfahrung, Liebesverrat und ewig erneuter Suche nach Liebe oder dem, was man so nennt, also nach Sicherheit und Freiheit gleichermaßen, Begehren und Begehrtwerden. Ebenso durchklingt die Erinnerung an katholische Nachkriegserziehung, kleine Fluchten und große Ausbrüche die von Byron- und Shakespeare-Reminiszenzen durchschossene spätkapitalistische Gegenwart dieses Romans.
    Landsleute und Literaturbetrieb stößt sie gern vor den Kopf
    Es ist, je nach Zählung, mindestens der zehnte in den vergangenen zwanzig Jahren, seitdem die bis dato oft gespielte Dramatikerin Streeruwitz mit "Verführungen. 3. Folge. Frauenjahre.” als Romanautorin debütierte. Das war 1996. In der Folge hat die heute 65-jährige Marlene Streeruwitz sich vom Bildungsbürgervergnügungsbetrieb Theater nach und nach vollständig abgewandt, ergreift stattdessen in Essays und Vorträgen das Wort, bezieht Stellung zu Zeitgeschichte und Tagespolitik in Zeitungsbeiträgen und nutzt gern die vielen sich bietenden Gelegenheiten, die Leute, vor allem ihre österreichischen Landsleute, vor den Kopf zu stoßen. Aber sie liest nicht nur ihrem Land die Leviten, in dem die Hälfte der Bürger einem Kandidaten mit völkischen Positionen ihre Stimme gibt. Auch im literarischen Betrieb hat sie sich nicht ausschließlich Freunde gemacht, als sie der Ausschreibung des Deutschen Buchpreises Sexismus bescheinigte. Ihre eigenen Erfahrungen mit der vor allem dem Buchmarketing förderlichen Auszeichnung, für die sie zwei Mal nominiert war, verarbeitete sie im Roman "Nachkommen.” mit großer Lust an Tratsch, Satire und den Untiefen von Buchmesse-Partys.
    Dabei eilt der Autorin Marlene Streeruwitz der Ruf der entschiedenen Spaßbremse voraus, was mit drei Dingen zu tun hat: Sie ist Österreicherin, sie ist eine mit allen Wassern des Poststrukturalismus gewaschene Intellektuelle, und sie ist – unverdrossen – Feministin.
    Ihre Heldinnen verdienen ihren Lebensunterhalt im Sicherheitsgewerbe wie in "Die Schmerzmacherin", werden als "Partygirl" zur Wiedergängerin der morbiden Madeline Usher oder arbeiten sich mit vollem Körpereinsatz an den Lügen der Politik ab wie "Jessica, 30.” In jedem Fall erfahren sie alle denkbaren Varianten der gesellschaftlichen und pädagogischen Zurichtung des (in Klammern: weiblichen) Subjekts am eigenen Leib und kämpfen in Fährnissen und Wagnissen um Liebe und Restwürde. Auf Scheitern folgt die Krone richten und besser beziehungsweise anders scheitern.
    Schöpferin und Geschöpf sollte man nicht verwechseln
    Bei all dem darf man Marlene Streeruwitz’ Protagonistinnen nicht mit der Autorin verwechseln; die Intimität, die durch die konsequente Innenperspektive entsteht, ist trügerisch, die psychologisch-bekenntnishafte Anmutung des teils elliptischen Stils, der abgebrochenen, atemlosen Sätze des inneren Monologs, die suggerierten Interferenzen von Schöpferin und Geschöpf führen in die Irre. Das gilt auch für den aktuellen Roman "Yseut.”, obwohl in der Verlagsankündigung sogar das Stichwort "Autobiografie” aufgerufen wird. Nein, von Streeruwitz sind keine emotionalen Konfessionen zu erwarten. Sie setzt ihre Effekte mit voller Absicht, ruhiger Hand und kühlem Kopf.
    Von ihrer Protagonistin wiederum kann man das nicht behaupten. Mit der nicht ganz legalen Schusswaffe in der Handtasche sollte Yseut die Entdeckung scheuen, aber sie tut eigentlich alles, was es so braucht, um ungut aufzufallen. Als ein Lkw sie auf der Landstraße bedrängt, revanchiert sie sich für die Demütigung mit einem waghalsigen Überholmanöver unter lautem Hupen. Als sie im Hotel ihren Pass abgeben soll, lässt sie das Zimmermädchen einen Blick auf die Pistole erhaschen. Zudem fährt sie verdächtigerweise scheinbar ziellos durch die Gegend, tatsächlich ist sie – nicht nur belesen, sondern auch cineastisch beschlagen – auf der Suche nach den Drehorten von Michelangelo Antonionis sozialkritischem Epos "Der Schrei – Il Grido” von 1956. Und zu allem Überfluss lässt sie sich mit dem Mafioso Gio Gio ein, der neuerdings für die gute Sache kämpft. Welche genau das sein mag, erfährt der Leser, wie manch anderes Entscheidende, bis zum Schluss nicht. Nicht einmal, als Yseut vom Polizeichef verdächtigt wird, mit Terroristen zu sympathisieren, und sich deshalb verhören lassen muss, lichtet sich der Nebel über den tatsächlichen Verhältnissen und den Beziehungen der Figuren untereinander.
    Dem Ex-Verbrecher Gio Gio verdankt der Roman allerdings ein ganz abgedrehtes Kapitel. Da schleust er Yseut in ein künstliches Paradies, in dem alte Menschen zu Reha-Zwecken die glücklichen Jahrzehnte ihrer Jugend dauerhaft wieder erleben dürfen, inklusive Mode und Musik. Bei Yseut sind das die Sechziger und Siebziger, sie findet sich in poppig-durchsichtigem Hängerchen mit weißblauem Lidschatten und auftoupierten Haaren wieder, surround-beschallt von Beatles-Songs und in einer täuschend echten Projektion von Venice Beach samt Sidewalk Café und Avocadosandwich.
    "Yseut hatte die Stiefel in die Hand genommen und ging barfuß hinter Gio Gio her. Rundum gingen alte Personen. Helfer. Helferinnen. Rollstühle wurden geschoben. Viele strebten dem Kiosk hinter dem Sidewalk Café zu. Manche spazierten auf der Straße. Gingen in Häuser. Wanderten im Sand. Rollstühle. Rollatoren. Gehstöcke. Krücken. (…) Yseut blieb stehen. Das Rauschen des Meeres. Die Musik fast weggeblendet. Gio Gio nickte. Mittagsruhe. Da waren Naturgeräusche das Richtige. Meeresrauschen. Wind. Blätterrauschen. Wald. Und das Wichtigste wäre die Wiederholung. Die Abfolge müsste genau wiederholt werden. Ein Tag wie der andere. Dann stelle sich ein noch größerer Behandlungserfolg ein. Yseut hatte plötzlich Angst, noch einen Schritt zu tun. Sie dachte, sie müsse jederzeit gegen die Wand rennen. Irgendwo musste ja eine Wand sein.”
    Das Doppelgesicht der Liebe
    An Venice Beach, dem Strandabschnitt bei Los Angeles, einst Tummelplatz der kalifornischen Neo-Boheme, hatte Yseut sich in den Sechzigern von ihrer trübseligen ersten Ehe mit dem Wissenschaftler Ed erholt. Mit ihm war sie von Wien, der Stadt, in der die Leute einander nicht ansahen und nicht miteinander redeten, nach Berkeley gegangen. Auf Ed war Simon gefolgt, er war es, der sie überhaupt erst über den europäischen Judenmord aufklärte. Den Sohn, den sie von ihm bekam, zog sie in einer Hippie-Kommune auf. Es folgte eine Reihe von Lieben und von Rennen gegen Wände: Da war zum Beispiel der verlogene Egozentriker Lauritz, der Jugendfreund Dominick, der an Aids starb, der Breslauer Filmfreund Ryszard, Dieter, der sie wegen der Richterkarriere verließ, ein verklemmter Agenturchef namens Herbert, irgendwann ein Alexander und aktuell der Alfred. Und nun also Gio Gio mit seiner Verbrechererscheinung.
    "Sie trug ihre Lieben als Stimme in sich. Sie hatte ihre Lieben so herumgetragen. Stimmen hinter dem Schild ihres Brustbeins. Geschützt gegen die Welt. Tief in ihr. Stellvertreterexistenzen. In ihr. Der andere. In ihr mit ihr. Und deshalb der Wunsch. So oft der Wunsch. Er wäre tot, und der Besetzer in ihr müsste schweigen. Besatzung. Aber sie war keine Kolonie. Sie hatte sich freiwillig ergeben. Sie hatte sich immer freiwillig ergeben. Man hatte ihr das beigebracht. Aber sie hatte es weitergeführt. Perfektioniert. Es war versprochen gewesen, dass sie mit dieser Perfektion das ultimative Geschenk sein würde und ein Glück für sich selbst.”
    Einen gewissen Hang zum Sentenziösen könnte man Streeruwitz’ Protagonistin unschwer ankreiden. In Passagen wie diesen erinnert Yseuts Blick auf ihr Leben (und Nicht-Leben) als Frau, auf die unausweichliche Dialektik aus Zwang und bereitwilliger Anpassung an wenig nachahmenswerte Klassiker feministischer Prosa. Allerdings ging deren selbstzufriedene Feier des erzählenden Subjekts als hilfloses Opfer patriarchaler Verhältnisse der Leserin schon in den Achtzigern auf die Nerven und macht heutzutage die Lektüre etwa von "Wie kommt das Salz ins Meer” von Streeruwitz’ Landsfrau Brigitte Schwaiger eigentlich unmöglich. Aber Marlene Streeruwitz formuliert solche wehleidigen Selbstbeschreibungen ja auch gar nicht als Identifikationsangebot. Wer hier verständnisinnig aufseufzte, begäbe sich in schlechte Komplizinnenschaft. Vielmehr ist diese, im Verlauf der Erzählung ohnedies mehrfach, teils ironisch, teils zornig gebrochene Innensicht unverzichtbar für dieses Porträt einer Zeitgenossin in zeittypischen Widersprüchen.
    An dieser Stelle ist es vielleicht angebracht, sich an den Untertitel zu erinnern, "Abenteuerroman in 37 Folgen”. Der Abenteuerroman als neuzeitliches Genre ist eine Entwicklung der Barockliteratur, von Grimmelshausens "Simplizius Simplizissimus” bis Potockis "Handschrift von Saragossa”. Sein später im Bildungsroman gezähmtes Prinzip – Erwerb von Weltwissen durch wildes Hin- und Hergeworfenwerden zwischen Regionen und Milieus – hat Marlene Streeruwitz für "Yseut.” in unsere Tage transponiert. Yseut Ysabelle Köbrunner, Tochter absteigender Bürger und Sprachstudentin, verschlägt es aus der Wiener Engherzigkeit erst nach Kalifornien, in eine reisende alternative Schauspieltruppe mit dem psychoanalytisch grundierten Namen "Gestalt Gestalters”, ans Schauspiel Frankfurt, in eine PR-Agentur, in wechselnde Formen des Zusammenlebens mit Männern und Frauen und immer wieder zurück nach Wien und zurück nach Amerika, und jetzt – wieder – nach Italien.
    Älterwerden und Freiheitssehnsucht
    Dass Yseut nach all dem zuweilen meint, sie habe nicht oder zu wenig oder nicht richtig gelebt, mag befremden. Aber ist diese bohrende, wiederkehrende Empfindung nicht just das, was das Älterwerden in einer Welt der unerfüllbaren Freiheits- und Liebesversprechen ausmacht?
    "Der Alfred war auch nicht die Rettung. Yseut fühlte sich lächeln. Traurig. Eine Liebe. Sie wünschte sich eine Liebe, um alles anders machen zu können. Eine große Liebe noch und dann wirklich nur darin leben und nichts zwischen sie und diese Liebe kommen lassen. Eine Flucht in die Liebe und sie ein Flüchtling. Diesmal nicht normal werden. Nicht sesshaft. Immerhin. Sie war nicht territorial geworden. Mehr hatten die Feminismen ihr nicht eingetragen. Von der Sucht nach Sehnsucht und Selbstaufgabe hatten die sie nicht entwöhnen können. Wie auch. Die Sehnsucht, frei zu sein. Das war auch nur eine Hoffnung und falsch deswegen. Alles falsch. Alles falsch.”
    Marlene Streeruwitz gelingt es in ihren Romanen seit zwanzig Jahren, Figuren in ihrer ganzen peinlichen Bedürftigkeit zu zeigen, ohne sie vorzuführen. Dass ihre Hauptfiguren in aller Regel Frauen sind, ist alles andere als Zufall, aber was sagt das schon, angesichts des Frauenanteils an der Weltbevölkerung? Im Ernst, wenn man die alte und, seien wir ehrlich, nicht immer ohne Hintergedanken vorgetragene Frage, ob es so etwas wie "weibliches Schreiben” gebe, versuchshalber auf Streeruwitz’ erzählende Prosa anwendet, zeigt sich, was das bedeuten könnte: wahrnehmen und ernst nehmen, wie Gefühle und Gedanken Sprache werden, bevor die Rücksicht auf herrschende Normen und die Gewalt der – grammatikalischen, politischen – Verhältnisse diese Sprache einhegt, benutzt und Zwecken unterordnet. Und, nicht zu vergessen: Das dann in eine Form bringen, die all dies Ungesicherte sichtbar macht, zugleich aber den Fundus aus Erziehung und Erfahrung beleuchtet, aus dem die Selbstgespräche ihr Sprachgewand beziehen. Denn, wie Marlene Streeruwitz selbst gesagt hat: "In der Sprache sind alle Möglichkeiten beschlossen.” Und: "Überleben wird im Sprechen entschieden.”
    Ohne Netz, aber nicht ohne doppelten Boden: Marlene Streeruwitz’ Erzählen ist existenzielle Equilibristik. Wenn es gut geht, wie in ihrem neuen Roman "Yseut.”, erkennt der Betrachter, die Betrachterin dabei verteufelt viel von sich selbst.
    Marlene Streeruwitz: "Yseut. Abenteuerroman in 37 Folgen”.
    S. Fischer Verlag, 414 Seiten, 25 Euro