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Martha Nussbaum
Warum Liebe für die Politik wichtig ist

Für ihre Bücher zu Bedingungen des politischen Lebens wird Martha Nussbaum mit Preisen und Ehrendoktorwürden überschüttet. Ihre jüngste Veröffentlichung kreist um die Frage, warum es hilfreich sein kann, die Bürger zu guten Emotionen zu motivieren und sie zu stärken. Dabei kommt die amerikanische Moralphilosophin zu einer zentralen Erkenntnis.

Von Heidemarie Schumacher | 25.06.2015
    Die Philosophin Martha C. Nussbaum bei einer Preisverleihung in Spanien
    Die Philosophin Martha C. Nussbaum (picture alliance / dpa / Jose Luis Cereijido)
    "How can a decent society, one that has basically good political principles and firm aspirations to realising them, remain stablein a world dominated by greed, anxiety and self-interest? That´s the problem that I adress in the book!"
    Wie also kann eine geordnete Gesellschaft, die auf guten politischen Prinzipien beruht, in einer Welt, die von Gier, Angst und Eigeninteressen beherrscht wird, auf Dauer gestelltwerden? Diese Frage, so Martha Nussbaum vor Studenten im Dezember 2014, umschreibe den Kern ihres neuen Buches, das Emotionen als wichtiges Element des politischen Handelns reflektiert.
    Nussbaum, Professorin für Ethik und Recht an der Universität von Chicago, ist eine fleißige Publizistin. Seit 1986 hat sie kontinuierlich eine Reihe gesellschaftspolitischer Studien vorgelegt. John Rawls Werk "Eine Theorie der Gerechtigkeit" bildet den Ausgangspunkt und Nucleus ihrer Überlegungen. Die Frage ihres jüngsten Buchs "Politische Emotionen" lautet, wie man die Politik einer gerechten Gesellschaft "in die Herzen der Einzelnen" bringen kann. Der Autorin ist dabei bewusst, dass die Idee, politische Handlungen zu emotionalisieren, gerade in Europa die üblen Erfahrungen heraufbeschwört, die man mit dem Nationalsozialismus und den verschiedenen Faschismen gemacht hat. Ihr scheint es aber dennoch wichtig, einen Willen zum guten politischen Handeln zu stärken. Denn, so ihr Argument, wenn die Bürger nicht lernen, das Gute zu wollen, kommen vielleicht andere und lehren sie das Gegenteil. Aber der Reihe nach.
    Das Buch beginnt mit der Analyse einer Oper. 'Ich behandele die Oper wie einen philosophischen Text', merkt Nussbaum zu diesem unorthodoxen Einstieg in ein moralphilosophisches Werk an. Es handelt sich dabei um Mozarts "Die Hochzeit des Figaro". Ein Höhepunkt dieses Werkes ist die Szene, in der Graf Almaviva, der eben selbst noch jede Gnade für andere abgelehnt hat, von der Gräfin Vergebung für seine Untreue gewährt wird. Symbolisch dankt hier nicht nur ein Feudalherr ab, die Feministin Nussbaum versteht Mozarts Oper auch als Abschied von einer spezifischen Männerwelt, die nur an Ehre, Rache und dem Erhalt ihrer Macht interessiert ist. Ihr gegenüber stehe die Welt der Frauen, in der es Spiel, Verkleidung, List, Capricen, Komik und vor allem Großmut gebe.
    "Am Ende der Oper (...) stellt die Gräfin die Weichen für die neue Ordnung, indem sie auf eine Bitte um Mitgefühl sagt: Ich bin gelehriger und sage: ja. Eine mitfühlende und großherzige Einstellung zu den Schwächen der Menschen (...) ist ein Angelpunkt der öffentlichen Kultur, für die ich hier plädiere..."
    Die Herrschaft des Feudalherrn wird nach der Französischen Revolution durch den säkularen Staat abgelöst und mit diesem Wandel entsteht die Frage, auf welcher Grundlage das Eigeninteresse des Einzelnen und das Gemeinwohl zu vereinbaren sind. Die Leerstelle in einer Theorie der politischen Gefühlswelt füllt nun das Konzept der "zivilen Religion", wie in Rousseaus Gesellschaftsvertrag oder in Auguste Comtes Vorstellung einer Religion der Menschlichkeit. Beide spiegeln zwar das Ideal einer befriedeten Gesellschaft, sind für Nussbaum jedoch noch mit Unfreiheit und Unterdrückung behaftet. Die Autorin schließt sich John Stuart Mill an, der in seiner Kritik an Comte die Freiheit des Widerspruchs im Rahmen gemeinsamer Kernwerte befürwortete.
    Für das 20. Jahrhundert wird der indische Philosoph, Dichter und Nobelpreisträger Rabindranath Tagore Nussbaums Gewährsmann. Tagores 'Religion des Menschen', seine Schule Schandinikitan mit ihrem Focus auf Tanz, Musik, Dichtung und Lebensfreude, seine Idee, dass man Kinder lehren solle, kritisches Denken zu lieben, gelten Nussbaum als beispielhaft für einen demokratisch-liberalen Erziehungsstil. Seine Fassung der indischen Nationalhymne mit ihrer poetischen Kraft, die sie sonst nur noch in den patriotischen Poemen Walt Whitmans findet, sei Ausdruck einer aus Liebe wirkmächtig inszenierten vaterländischen Erzählung. In beiden Fällen stellt sich die Frage, ob diese inbrünstigen Hymnen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine gegenwärtige Theorie der politischen Emotionen wirklich stützen können.
    Nach dieser eigenwilligen Rekonstruktion der Geschichte des Liberalismus fragt die Studie nach den Wurzelnmenschlichen Mitgefühls. Hier folgt sie Donald Winnicott, der die Entstehung des Mitgefühls in der Liebe der Eltern zum Kind und in die frühkindliche Umgebung in der Familie legte. Die Frage, wie man diejenigen zu Mitgefühl erziehen kann, die keine hinreichend gute Mutter à la Winnicott mit der Spiegelung ihrer Bedürfnisse hatten, stellt sich die Autorin leider nicht. Für die Glücklicheren fordert sie eine Erweiterung der familiären Liebe zu einem gemäßigten Patriotismus.
    "Eine der offenkundigsten Fragen, vor denen unsere ambitionierten Gesellschaften stehen, lautet, wie die Emotionen der Bürger gegenüber ihrem Land geprägt werden können und sollen. Was ist Patriotismus? (...) Es ist leicht erkennbar (...) dass er Positives bewirken kann, wenn er in die richtigen Bahnen gelenkt wird."
    Auf dem Weg zu einer Gesellschaft, in der die Einzelnen den jeweils Anderen respektieren, gilt es auch, negative Gefühle wie Angst und Ekel, die Mitgefühl verhindern und sich als projektiver Abscheu gegenüber dem Fremden äußerten, einzuschränken. Eine erstrebenswerte Weise, mit Angst und Abscheu umzugehen, verkörpere der Geist der griechischen Dramen. Die Tragödien ermöglichen dem Zuschauer, spielerisch am Schicksal Betroffener teilzuhaben und sein Mitgefühl zu stärken, die Komödien – wie bei Aristophanes – führten vor, den Körper in seiner Schwäche anzunehmen und der Sinnenfreude den Vorzug vor falschem Heldentum zu geben. An diesem antiken Maßstab werden im folgenden Artefakte wie politische Reden, ein Bollywood-Film, ein Roman, Karikaturen, Comedy, Denkmäler oder Monumente wie die Vietnam Memorial Hall in Washington ausführlich auf ihre Möglichkeit hin befragt, inwieweit sie Mitgefühl und Interesse am Gemeinwohl befördern oder Ängste und projektiven Abscheu eindämmen.
    Der freundliche Middle-class-Optimismus der Autorin kann dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele ihrer Illustrationen die eigene Argumentation ad absurdum führen, denn die genannten Beispiele zeigen, dass sie zwar Dinge angestoßen, die entsprechende Politik jedoch nicht nachhaltig beeinflusst und auf Dauer gestellt haben. Ob der als sinnenfroh apostrophierte Millennium Park in Nussbaums Heimatstadt Chicago, tatsächlich der Inklusion unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen dient, weil sie sich dort gerne von den Wasserspeiern berieseln lassen, muss jedenfalls bezweifelt werden.
    Nussbaums vehemente Ablehnung von Ausgrenzungsmechanismen gebührt Respekt. Davon zeugen ihre Beiträge zur Situation der Behinderten, ihre Unterstützung der Rechte der Homosexuellen in den USA, ihre Kritik der religiösen Intoleranz in Indien, ihr streitbares Eintreten gegen Rassismus: Sie alle sprechen von einem starken Engagement für die Würde des Individuums. Es bleiben jedoch Zweifel, ob die Inszenierungen des politisch Guten in der Lage sind, größeregesellschaftliche Gruppen zu erreichen, und ob Mitgefühl die Antwort sein kann in einer Welt, in der Terror, Bürgerkriege oder Steuerbetrug tagtäglich die Nachrichten beherrschen. Man kommt auch nicht umhin, der Autorin entgegenzuhalten, dass es einfacher ist, Gier, Eigensucht und Angst in der Natur des Menschen zu verorten, als nach deren sozialen Ursachen zu forschen.
    Das Buch liefert keine Theorie politischer Emotionen, allenfalls Illustrationen für Fälle, in denen spezifische Emotionalisierungsstrategien eine Zeitlang funktionierten (wie etwa die große Rede Martin Luther Kings, die den Beginn einer neuen Ära für die afroamerikanische Bevölkerung der USA einleitete). Die Bricolage von Denkansätzen, Meinungen und einer bunten Fülle von Exempeln liest sich dennoch als anregendes Plädoyer dafür, Wertschätzung für diejenigen zu entwickeln, mit denen wir Religion, politische Einstellungen, sexuelle Orientierung, Körperbild oder ethnische Herkunft nicht teilen. Und es wirft Fragen auf, die in bestimmten sozialen Teilbereichen (im Erziehungswesen, in der politischen Bildung, in den Medien und in der Kunst im öffentlichen Raum) stärker konturiert und fruchtbar gemacht werden können.
    Martha C. Nussbaum: Politische Emotionen. Suhrkamp Verlag 2014, 623 Seiten, 39,95 Euro