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Martin Diebel
"Die Stunde der Exekutive"

Im Mai 1968 verabschiedete der Deutsche Bundestag die Notstandsgesetze. Sowohl im Parlament als auch in der Öffentlichkeit führte diese Verfassungsänderung zu heftigen Auseinandersetzungen. Der Historiker Martin Diebel beschreibt die Motive der Beamten, die diese Gesetze entworfen haben.

Von Ludger Fittkau | 27.05.2019
Hintergrundbild: Maidemonstration in Köln 1968. Vordergrund: Buchcover
Die Proteste von 1968 haben dazu beigetragen, dass die Pläne der Beamten des Innenministeriums deutlich entschärft wurden (picture alliance / Klaus Rose)
Ein aufregendes Buch über Beamte, die in grauen Amtsstuben Anfang der 1950er Jahre an Gesetzen basteln? Geht das? Ja – das geht! Denn Martin Diebel wählt einen besonderen Blick auf die Erfinder der Notstandsgesetze:
"Gefragt wird mit Blick auf die berufliche Vergangenheit der Ministerialbeamten, welche ideologischen Kontinuitätslinien vom Ende des Kaiserreichs bis in die junge Bundesrepublik die Arbeit des Bundesinnenministeriums prägten. Inwiefern bestimmten also Antiparlamentarismus, obrigkeitsstaatliche beziehungsweise staatszentrierte Vorstellungen, antiliberales Gedankengut und auch Antikommunismus das Handeln der Ministerialbeamten; und in welchem Maß waren sie in ihrer Traditionsverbundenheit mit einer sich wandelnden Zivilgesellschaft konfrontiert?"
Die Antworten, die das Buch anhand der Personalakten der damaligen Beamten gibt, werfen kein gutes Licht auf die Abteilung "Öffentliche Sicherheit" des Bonner Innenministeriums in der Nachkriegszeit. Denn trotz der erst wenige Jahre zurückliegenden Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur waren die westdeutschen Beamten bereit, im Notstandsfall gleich wieder Grundrechte wie Presse- und Versammlungsfreiheit einzuschränken, die gerade erst im Grundgesetz festgeschrieben worden waren.
Alte Ideen hatten wieder Konjunktur
Der damals führende BMI-Beamte und Staatsrechtler Arnold Köttgen schlug sogar vor, im Krisenfall Menschen ohne richterliche Anordnung wieder in eine Art "Schutzhaft" zu nehmen:
Mit der Idee vom Freiheitsentzug ohne richterliche Anordnung näherte er sich stark der vor 1945 praktizierten Schutzhaft an – und entfernte sich gleichzeitig wieder von der Entscheidung des Parlamentarischen Rates, eben dieses Grundrecht nicht anzutasten. Obschon die Ursprünge der Schutzhaft bereits im Ersten Weltkrieg lagen und auch Köttgens Ausführungen längst nicht an die maßlose Schutzhaftpraxis des ‘Dritten Reiches‘ heranreichten, hätte deren exzessiver Gebrauch gegen politische Gegner nach 1933 dem Staatsrechtler doch ein mahnendes Beispiel für die Gefahren sein können, die eine derartige polizeiliche Sondervollmacht mit sich bringen konnte. Köttgens Ideenwelt blieb jedoch einem traditionellen Staatsschutzdenken verhaftet, das sich bereits im Kaiserreich in der Inschutzhaftnahme politisch missliebiger Personen manifestierte."
Das ehemalige NSDAP-Mitglied Köttgen war bis 1943 für die Nationalsozialisten im Generalpolizeidezernat Kattowitz als Regierungsdezernent tätig gewesen. Die Alliierten hatten ihn deswegen drei Jahre lang in einem Internierungslager festgehalten – der Personalabteilung des Bundesinnenministeriums hat er das verschwiegen. Köttgen wurde Ministerialrat, um die Notstandsgesetze vorzubereiten.
Ein bewaffnetes THW?
Mit einem Gutachten half er auch, mit dem "Technischen Hilfswerk" - kurz THW - eine Organisation aufzubauen, die explizit an die sogenannte "Technische Nothilfe" anknüpfte. Diese hatte bereits in der Weimarer Republik bestanden und auch die NS-Zeit überdauert. Für das neue THW der Bundesrepublik wurde Führungspersonal übernommen, das bereits für die Nationalsozialisten tätig gewesen war. Im Buch wird beschrieben, dass es 1950 im Bonner Bundesinnenministerium zeitweise sogar Pläne gab, die THW-Mitarbeiter zu bewaffnen, um gegen – wie es hieß – "staatsfeindliche Elemente" vorgehen zu können:
"Aufseiten der SPD und der Gewerkschaften wurde diese Entwicklung kritisch gesehen, und zwar nicht nur aufgrund der personellen Kontinuitäten zur Vorläuferorganisation. Vielmehr blickten sie mit Sorge auf die Hauptaufgabe des THW, richtete sich die ‘öffentliche Notstandsbekämpfung‘ doch explizit auch auf die Niederschlagung von Arbeitskampfmaßnahmen."
Die Gewerkschaften begriffen, dass mit diesen Plänen aus dem Innenministerium im Notstandsfall ihr Streikrecht ausgehebelt würde. Doch trotz ihres Protestes blieb der sogenannte "staatserhaltende" Einsatz bei inneren Unruhen auch Mitte der 50er Jahre im Aufgabenkatalog des THW verankert. Für die SPD und die Gewerkschaften war es wichtiger, den Einsatz der Bundeswehr im Inneren zu verhindern. Auch dies war im Rahmen der Notstandsgesetze vorgesehen. Außerdem ging es den Gewerkschaften darum, das Recht auf politischen Streik durchzusetzen, sollte sich der Staat in eine Diktatur verwandeln.
Das BMI sah Gastarbeiter als anfällig für Propaganda
In den ministeriellen Planungen für den Notstand spielten sogar die sogenannten "Gastarbeiter" eine Rolle, die ab den 1960er Jahren verstärkt von der deutschen Industrie in Südeuropa angeworben wurden. Die Beamten im Bonner Innenministerium betrachteten sie als potentielle Gefahr für den Staat betrachtet. Für die Gastarbeiter wurden beispielsweise spezielle Internierungen durch die jeweils zuständige Ausländerbehörde diskutiert:
"Gleichzeitig konnte die Notverordnung auch als Ausdruck der Unsicherheit gedeutet werden, die mit dem verstärkten Anwerben von griechischen, spanischen oder türkischen Arbeitern durch deutsche Unternehmen um 1960 verbunden war. Gerade ihre durch die arbeitsrechtlichen Bestimmungen hervorgerufene prekäre soziale Lage machte sie in den Augen der Behörden anfällig für kommunistische Propaganda. Aufgrund ihrer Arbeit im Bergbau oder in der eisen- und metallverarbeitenden Industrie erschienen die ausländischen Arbeiter den Beamten als anfällig für die Spionage- und Sabotageaktionen des politischen Gegners – obwohl die überwältigende Mehrheit der ‚Gastarbeiter‘ gänzlich andere Sorgen hatte als die Politik."
Martin Diebel zeigt schließlich in seinem lesenswerten Werk zur Geschichte der Notstandsgesetzgebung in Westdeutschland, wie die Proteste von Gewerkschaften und Studierenden 1968 dazu führten, dass die Pläne der Beamten des Innenministeriums deutlich entschärft wurden. Am Ende sind Streiks auch in einem Notstand weiter möglich. Grundrechtseingriffe sollten möglichst minimal gestaltet werden, eine Verfassungsbeschwerde auch im Krisenfall weiterhin möglich sein. Die autoritätsfixierten Sicherheitsfanatiker in den Bonner Amtsstuben setzen sich letztlich nicht durch.
Martin Diebel: "Die Stunde der Exekutive. Das Bundesinnenministerium und die Notstandsgesetzgebung 1949-1968",
Wallstein Verlag, 215 Seiten, 22 Euro.