Donnerstag, 25. April 2024

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Martin Gross: "Ein Winter in Jakuschevsk"
Tricksereien auf dem Eis

In seinem Tagebuch aus dem russischen Krisenwinter 1998/99 erzählt Martin Gross vom Leben, Lieben und Unterrichten in einer sibirischen Provinzstadt. Auch wenn „Roman“ draufsteht, verrät das Buch doch viel über die Ursachen der gesellschaftlichen Verhältnisse in Russland heute.

Von Tobias Lehmkuhl | 15.07.2022
Martin Gross: "Ein Winter in Jakuschevsk"
Martin Gross: "Ein Winter in Jakuschevsk" (Buchcover: Sol et Chant Verlag / Autoren Portrait Ulrich Niehoff)

Die schwere Wirtschaftskrise des Jahres 1998 traf viele Russen härter als das Ende der Sowjetunion, heißt es. Der Ölpreis war damals eingebrochen, der Rubel verlor massiv an Wert, und wer ohnehin kaum über die Runden kam, hatte es nun noch schwerer. Die Datscha mit Garten war keine schöne Sommerfrische, sondern eine Frage des Überlebens. Nicht nur für Marin Gross’ Kollegin Olga:

"Ein ganzes Volk scheint in halbagrarische Verhältnisse zurückgerutscht zu sein. Für Olga sieht das so aus: Ab Mai ist sie jedes Wochenende im Garten vor der Stadt. Sie fährt möglichst schon am Freitagabend, denn Samstagvormittag sind die Busse überfüllt mit Leuten und ihren Körben und Taschen. 'Da kommst du nicht rein in den Bus.' Und in den Sommerferien bleibt sie zwei Monate lang dort draußen in der Datsche. Sie lacht kurz und bitter: 'Das entspricht noch ganz dem sozialistischen Menschenbild, die allseitig entwickelte Persönlichkeit: wochentags deutsche Grammatik und am Wochenende russische Agronomie.'"

Händeschütteln ist verpönt

Frisches Gemüse und sommerliche Gärten bekommt Martin Gross freilich nicht zu sehen, als er nach Jakuschevsk kommt. Als er Anfang November anreist, schneit es bereits, und bei seiner Abreise Ende März sind die Straßen immer noch vereist. Wobei Gross im Nachwort schreibt, dass sein Aufenthalt in Wirklichkeit länger gedauert und er seine Aufzeichnungen gerafft habe. Auch Jakuschevsk wird man auf der Landkarte vergebens suchen. In dieser fiktiven Stadt laufen die Erfahrungen zusammen, die der Autor in zwei verschiedenen Städten Sibiriens gemacht hat. So steht sicherheitshalber die Genrebezeichnung „Roman“ auf dem Umschlag, aber das heißt nicht, dass sie deswegen weniger wahr und gar frei erfunden wären. „Ein Winter in Jakuschevsk“ bietet vielmehr staunenswerte Einblicke in das Leben in der russischen Provinz, angefangen mit kleinen kulturellen Unterschieden - so ist Händeschütteln zwischen Mann und Frau verpönt - bis hin zu den Ursachen für die Verwerfungen zwischen Russland und dem Westen, die nicht zuletzt in der erwähnten großen Wirtschaftskrise ihren Ursprung haben:

„,Ach du grässlicher Mensch, das ist doch eure verfluchte Marktwirtschaft, nach der hier jetzt alles läuft: Geld, Geld, Geld. Jeder rafft, so viel er kann. Das fängt ganz oben an, bei den Politikern. Und ganz unten müssen die Bauern ihre letzten Schweine schlachten. Die Rentner verkaufen irgendwelchen Krimskrams auf der Straße, und wer keine Arbeit hat, besäuft sich und tyrannisiert zuhause die Familie.' Hinterher denke ich: Wahrscheinlich hat Olga ja recht. Das hier ist die Monster-Version der Freiheit: 'Wenn ihr frei sein wollt, müsst ihr liberalisieren, privatisieren, deregulieren, kommerzialisieren!' Und das machen sie jetzt auch hemmungslos, die ehemaligen Kader. Vermutlich werden die Russen noch in 50 Jahren 'westliche Werte' verbinden mit der Raffgier, die jetzt das Land ruiniert. Und nach diesem ganzen Desaster hätte ich auch kein besonderes Vertrauen mehr in den Westen."

Martin Gross ist selbst alles andere als überzeugter Kapitalist, und er entwickelt schnell große Sympathie für die Stadt und ihre Bewohner, auch wenn die Wohnblöcke und Straßen, die er beschreibt, dem Klischee der grauen, ja trostlosen russischen Provinz entsprechen, das viele mit sich herumtragen. Aber gerade die Gleichförmigkeit, die Abwesenheit von allem Schrillen und Grellen gefällt Gross.

Eine deutsche Bürokratenseele

Andererseits entdeckt er aber auch seine deutsche Seite, seine Bürokratenseele, wenn man so sagen kann. Er ist nämlich nicht nur nach Jakuschevsk gereist, um jungen Studentinnen Deutsch beizubringen, er soll auch Kontakte knüpfen, ausloten, welche Möglichkeiten es für Austauschs- und Besuchsprogramme gibt, Kooperationen zwischen den Universitäten anbahnen. Dabei geht es natürlich auch ums Geld:
"So stolpern wir noch eine Weile durch die Vorschriften und Förderbedingungen, Mikitin optimistisch, ich eher zurückhaltend. Aber immerhin: Erste Konturen eines Projektantrags zeichnen sich ab. Das könnten wir mal versuchen, mit allen Tricksereien, versteht sich. Und schon bin ich auf bestem Wege, Komplize zu werden. Aber es fragt sich natürlich, warum die Standards, die sich in Europa allmählich entwickelt haben, hier so hauruck eingeführt werden sollen: 'äquivalente Studienleistung', 'Wahlmöglichkeit', 'individuelle Schwerpunktsetzung'. Alles schön und gut, findet meine volle Unterstützung, ist für den Anfang hier aber viel zu ambitioniert. Das Ergebnis sind doch zwangsläufig Tricksereien auf der einen Seite, Kontrolle und Mahnungen auf der anderen. Das schafft nur schlechte Laune."
Die Osteuropäer haben nach dem Scheitern des Sozialismus ihren Nationalstolz wiederentdeckt, schreibt Gross, die Russen dagegen hätten nicht nur das Scheitern des Sozialismus, sondern auch ihren Stolz als Supermacht eingebüßt. Zwei bittere Erfahrungen, die sicher mitentscheidend sind für die Lage heute, 24 Jahre später. Dem Tagebuchschreiber geht es allerdings nicht darum, irgendjemandem die Schuld zuzuschieben, er zeigt nur auf, was alles schiefgelaufen ist und was niemals funktionieren konnte - wie nicht zuletzt auch seine Beziehung zu einer jungen Tatarin. Wenn sich Putin heute in obszönem und menschenverachtendem Vergewaltigungs-Vokabular ergeht, so ist es beschämenderweise auch eine Tatsache, dass in den 90er Jahren viele Frauen, die aus Russland in den Westen gingen, die Erfahrung machten, dass man sie hier ebenfalls nur als Lustobjekte missbrauchte.
Martin Gross: „Ein Winter in Jakuschevsk“
Sol et Chant Verlag, Letschin.
276 Seiten, 26 Euro.