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Martin Schulz: Camerons Nein zu EU-Gipfelbeschlüssen klassisches Eigentor

Der Vorsitzende der Sozialistischen Fraktion im Europaparlament, Martin Schulz, will dafür kämpfen, dass das EU-Parlament in der weiteren Organisation der Eurozone mehr Einfluss ninmmt. Großbritannien sei ein wichtiges Land für Europa, das sich unter Cameron aber weiter isolieren werde, so der Politiker.

Martin Schulz im Gespräch mit Bettina Klein | 13.12.2011
    Bettina Klein: Das Europaparlament befasst sich heute mit den Beschlüssen des EU-Gipfels zur Euro-Stabilisierung vom vergangenen Wochenende. Welche Macht es hat, das Parlament, oder haben sollte, dazu hat sich der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt kürzlich beim SPD-Parteitag sehr deutlich vernehmen lassen, und er hat einen prominenten Europapolitiker namentlich erwähnt. Wir hören in diesen Auszug kurz hinein:

    "Damals, als wir die Volkswahl zum Europäischen Parlament eingeführt haben, bin ich dem Irrtum unterlegen, das Parlament würde sich schon selber Gewicht verschaffen. Tatsächlich hat es bisher auf die Bewältigung der Krise keinen erkennbaren Einfluss genommen und seine Beratungen und Entschlüsse sind bisher ohne öffentliche Wirkung geblieben. Und deswegen möchte ich an Martin Schulz appellieren: Es wird höchste Zeit, dass Sie und Ihre christdemokratischen, Ihre sozialdemokratischen, Ihre sozialistischen, Ihre liberalen und ihre Grünen-Kollegen, dass sie sich gemeinsam, aber drastisch zu öffentlichem Gehör bringen."

    Klein: So weit also der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt kürzlich beim SPD-Parteitag. Martin Schulz, Vorsitzender der Sozialistischen Fraktion im Europaparlament, war angesprochen, und ihn begrüße ich am Telefon. Schönen guten Morgen, Herr Schulz.

    Martin Schulz: Guten Morgen, Frau Klein.

    Klein: Wie drastisch werden Sie sich heute Gehör verschaffen?

    Schulz: Ich gehöre ja, glaube ich, schon zu denen, die sich drastisch Gehör verschaffen, und heute Morgen will ich das in der üblichen sehr harten, aber auch fairen Weise mit Herman van Rompuy, dem Vorsitzenden des Europäischen Rates, tun, und zwar in dreierlei Hinsicht: Erstens, indem wir uns äußern zu dieser merkwürdigen Konstruktion, die 26:1-Lösung, die da am vergangenen Wochenende für die nicht erfolgte Vertragsreform als Ersatzlösung gefunden wurde, zweitens zu der nach meinem Dafürhalten absolut nicht erfolgten notwendigen Beschlusslage zum Mandat der Europäischen Zentralbank, zu der Frage, was wird mit dem europäischen Stabilitätsmechanismus, bekommt der eine Banklizenz, oder nicht, zu der Frage, was ist eigentlich in Europa mit Wachstum und Beschäftigung, warum reden wir immer nur über Haushaltskürzungen, aber nie über das notwendige Wirtschaftswachstum, und zum dritten werde ich mich natürlich auch zu David Cameron äußern.

    Klein: Aber die Kritik des Altkanzlers war ja schon relativ heftig, Herr Schulz. Das Parlament muss sich mehr Gewicht verschaffen und es habe bisher keinen erkennbaren Einfluss auf die Krise nehmen können. Was entgegnen Sie?

    Schulz: Ich teile da seine Auffassung in vielen Punkten nicht. Ich habe mich sehr geehrt gefühlt, dass er mir zutraut, dass ich dem Parlament mehr Gehör verschaffe, aber ich erinnere mal an einen Umstand, der völlig vergessen worden ist. Alles, was wir am 26. Oktober dieses Jahres von Frau Merkel und ihren Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Rat als den großen Durchbruch, als die die Märkte beruhigende Beschlussfassung – Sie erinnern sich vielleicht noch: Am 26. Oktober wurde uns der Europäische Rat als großer historischer Durchbruch verkauft, weil dort das sogenannte Sixpack, sechs Verordnungen zur Regelung des Wirtschaftsraums des Euroraums verabschiedet worden sind. Großer historischer Durchbruch waren alle sechs Beschlüsse des Europäischen Parlaments, die da gefeiert worden sind. Unser Problem ist nicht etwa unsere Machtlosigkeit; unser Problem ist, dass wir unsere Macht nicht in ausreichendem Maße öffentlich zeigen und zur Kenntnis bringen. Und das – da können Sie ganz sicher sein -, das wird sich ändern.

    Klein: Aber das habe ich noch nicht ganz verstanden. Sie sagen ja selber von sich, Sie werden nicht in der Lage sein, dem Europaparlament mehr Macht zu verschaffen. Geben Sie sich mit der Situation zufrieden, dass das Europaparlament im Prinzip keine wirklich entscheidenden Einflüsse auf die Entscheidungen haben kann?

    Schulz: Jetzt bin ich ein bisschen überrascht, aber liegt vielleicht an mir. Wir haben entscheidenden Einfluss, den nehmen wir auch, aber ich sehe, auch bei den Redaktionen des Deutschlandfunks sind wir bis dato nicht mit unseren tatsächlichen Machtverhältnissen durchgedrungen. Ich wiederhole es deshalb noch mal. Das Europäische Parlament ist sicher einer der mächtigsten Gesetzgeber in Europa, aber es leidet darunter, dass das, was wir an Politik in Straßburg verabschieden, erst zur Kenntnis genommen wird, wenn zum Beispiel der Deutsche Bundestag die entsprechenden Durchführungsgesetze erlässt. Dann wird in der Regel die nationale Politik darauf aufmerksam und die nationale Medienöffentlichkeit auch. Also, was ist zu tun? Wir müssen zu dem Zeitpunkt, wo wir tatsächlich knallharte Gesetzgebung machen, übrigens auch harte Auseinandersetzungen betreiben, dafür sorgen, dass das sichtbar wird, und das reicht nicht. Also die Unterstellung, wir haben nichts zu sagen, ist schlicht und ergreifend falsch. Man muss sagen, das, was wir zu sagen haben, wird nicht hinreichend zur Kenntnis genommen. Aber das liegt an uns selbst, und ein bisschen muss man die Chance nutzen, wenn man morgens im Deutschlandfunk dazu was erklären kann.

    Klein: Ja. Und ich glaube, wir können schon davon ausgehen, dass in den Redaktionen hier die Rolle des Europaparlaments bekannt ist. Die Frage war ja an Sie: Sind Sie zufrieden mit den Einflussmöglichkeiten, die Sie haben?

    Schulz: Nein! Welcher Parlamentarier ist mit den Einflussmöglichkeiten, die er hat, zufrieden? Parlamente haben die Neigungen, das zurecht, mehr Macht an sich zu ziehen, und das, worauf Ihre Frage ja abzielt, ist: Warum wird in der öffentlichen Auseinandersetzung die Handlung der jeweiligen Regierungen im Europäischen Rat so zur Kenntnis genommen, aber die des Europäischen Parlaments nicht. Und das liegt daran, dass wir in Europa nicht die klassischen Parlamentsregierungsverhältnisse haben, hier die Regierung, dort die parlamentarische Mehrheit gegen eine Opposition, die sie bekämpft. Das ist aufgrund der institutionellen Struktur der EU anders und das macht es dem Europaparlament auch oft so schwierig durchzudringen. Wir brauchen – und das wird heute Morgen sicher in der Debatte mit Herman van Rompuy eine große Rolle spielen – in der jetzigen aktuellen Krise sicher eine aktivere Rolle und eine aktivere Einflussnahme des Europaparlaments. Ich gehe deshalb davon aus, dass Herr van Rompuy heute Morgen ankündigen wird – ich erwarte das jedenfalls -, dass bei den Gesprächen der 17 Euro-Staaten mit den neun Staaten, die sich da alle gemeinsam gegen Großbritannien gestellt haben, das Europäische Parlament bei der weiteren Entwicklung der Organisation der Eurozone mit am Tisch sitzt. Das ist nämlich im Rat beschlossen worden, es soll eine Arbeitsgruppe Euro plus plus geben, also die 17 Euro-Staaten plus die neun plus das Europäische Parlament. Das wäre, wenn das heute Morgen bekannt gegeben wird, zum ersten Mal der Umstand, dass das Europaparlament bei einer Euro-Frage am Tisch sitzt. Wird das nicht bekannt gegeben - ich weiß, dass es beschlossen worden ist -, wird das nicht bekannt gegeben, dann werde ich heute Morgen zum ersten Mal den Aufstand proben, den Helmut Schmidt von uns erwartet.

    Klein: Herr Schulz, schauen wir auf das Verhältnis zu Großbritannien. Ihr Fraktionskollege Jo Leinen hat hier gestern einen interessanten Begriff für die künftigen Beziehungen zu Großbritannien ins Spiel gebracht: die privilegierte Partnerschaft. Wäre das das angemessenere Verhältnis?

    Schulz: Das haben wir ja schon. Großbritannien betrachtet sich ja selbst als privilegierter Partner der Europäischen Union. Cameron hat gestern im Unterhaus ja wortreich versucht, sich zu verteidigen. Ich will aber das zitieren, was er am Tag vorher in der BBC gesagt hat: "Wir haben an der EU nur ein Interesse als Absatzmarkt für unsere Produkte." Und das ist genau die Haltung, die er auch in diesem Rat eingenommen hat. Da kann er jetzt viel von aktiver Mitgliedschaft in der EU reden. Großbritannien hat in der Außen- und Sicherheitspolitik, zum Beispiel da, wo Lady Ashton, eine Britin, als Hohe Beauftragte arbeitet, ich glaube, in den letzten eineinhalb Jahren 90 Mal ein Veto eingelegt gegen das gemeinsame Handeln der Europäischen Union. Also den Begriff, den Jo Leinen da benutzt hat, den kann man zumindest aus britischer Sicht gegenüber der EU so betrachten. Ob die EU Großbritannien so betrachtet, das lasse ich mal dahingestellt, denn wir sind eigentlich mit den Briten relativ solidarisch und geduldig.

    Klein: Also muss man jetzt alles daran setzen, die Briten an Bord zu halten, oder darf man sich eher freuen, wenn sie von Bord gehen, weil es mit ihnen schwieriger werden würde?

    Schulz: Nein. Ich glaube, man muss Großbritannien an Bord halten. Großbritannien ist ein wichtiges Land. Wir brauchen das Land auch. Die EU ist stark, wenn sie gemeinschaftlich handelt. Das haben wir übrigens – Sie hatten ja gestern den Kollegen Leinen da, der war auch in Durban -, wir haben gerade in Durban bei der Weltklimakonferenz gesehen, dass die entscheidenden Anstöße von einer geschlossen und gemeinschaftlich handelnden Europäischen Union kamen. In der Klimapolitik, in der Handelspolitik, in der Migrationspolitik, auch in der Währungspolitik kommt es darauf an, dass Europa geschlossen handelt, mit Großbritannien. Aber es liegt an den Briten zu entscheiden, ob sie das wollen. Und mit dieser Regierung, mit diesem Premierminister, ich glaube, das kann man sagen, wird sich Großbritannien immer weiter isolieren, weil der hat nämlich überhaupt nichts mit Europa am Hut. Worum es dem geht, dem Premierminister Cameron, ist die Befriedung der Euro-Skeptiker und Euro-Rebellen in seiner eigenen Partei.

    Klein: Und das ist ja offenbar auch nicht ganz gelungen, Herr Schulz. – Finanzmarktregulierung oder eher freie Entfaltung derselben, wie die Briten es wollen. Sind wir nach der ganzen Geschichte mit David Cameron aus Ihrer Sicht weitergekommen vom europäischen Standpunkt aus, oder sieht das nur so aus?

    Schulz: Die Entscheidung der Staats- und Regierungschefs, sich nicht erpressen zu lassen, also zu sagen, die Bedingungen von David Cameron für eine Vertragsänderung, für die Zustimmung zu einer Vertragsänderung, als Gegenleistung die Garantie zu bekommen, dass der größte Spekulationsplatz in Europa, nämlich die Londoner City, nicht mit weiteren Regulierungen überzogen wird, die Entscheidung, sich das nicht abkaufen zu lassen um diesen Preis, war eine richtige Entscheidung. Und was David Cameron angeht, noch mal: Gestern hat einer der führenden Manager der Royal Bank of Scotland, einer Bank, die Großbritannien fast in den Abgrund gezogen hätte, gesagt, das Desaster, das wirtschaftliche Desaster, das bei uns angerichtet wurde, lag an einem Mangel an Regulierungen. Am gleichen Tag sagt der Premierminister im Unterhaus, ich will keine weiteren Regulierungen. Das spricht für sich selbst.

    Klein: Aber in der Sache weitergekommen sind wir auch jetzt nicht, und die Frage ist ja, wie die Briten dazu gebracht werden können, diesen Forderungen zuzustimmen, die auch aus Deutschland kommen.

    Schulz: Zunächst mal ist die Situation so, dass sie nicht mehr gefragt werden. Die 26 Staaten haben sich darauf verständigt, dass sie diese Haushaltskonsolidierungsmaßnahmen, die ja aus dem europäischen Recht entstehen werden, bei sich zu Hause umsetzen. Großbritannien wird dabei nicht mehr gefragt und es ist jetzt an den Briten zu entscheiden, ob sie an den Tisch zurückkehren und sich wieder eingliedern – dann kann man eine normale Vertragsänderung machen -, oder aber sie bleiben außen vor. Das wird sie aber nicht davor schützen, dass die Finanzmarktregulierungen sie treffen, denn wenn wir sie im Europäischen Parlament mit dem Rat gemeinsam verabschieden – und ich erwarte dazu weitere Initiativen der Kommission -, dann gelten sie auch für Großbritannien. Das, was er da gemacht hat, ist ein klassisches Eigentor.

    Klein: Martin Schulz, der Vorsitzende der Sozialistischen Fraktion im Europaparlament, heute Morgen im Deutschlandfunk. Danke Ihnen für das Gespräch, Herr Schulz.

    Schulz: Danke, Frau Klein.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.