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Martin Walser
Ein neuer Roman, der keiner ist

Martin Walser feiert am 24. März als einer der letzten großen Nachkriegsliteraten seinen 90. Geburtstag. Der Autor schenkt seinen Lesern ein neues Buch: "Statt etwas oder Der letzte Rank". Vom Verlag wird es als Roman bezeichnet. Doch das stimmt nur teilweise.

Von Julia Schröder | 19.03.2017
    Porträtfoto des Schriftstellers Martin Walser.
    Der Schriftsteller Martin Walser feiert am 24. März 20017 seinen 90. Geburtstag. (dpa / picture alliance / Patrick Seeger)
    "Statt etwas haben wir Wörter”, schrieb Martin Walser 1999 in seinem Aufsatz "Sprache, sonst nichts". Fast 20 Jahre später trägt der Roman, den Walser den Lesern zur Feier seines 90. Geburtstags am 24. März beschert, den Titel "Statt etwas oder Der letzte Rank”. Das will etwas besagen.
    "Mir geht es ein bisschen zu gut. Seit dieser Satz mich heimsuchte, interessierte ich mich nicht mehr für Theorien. Alles Besitzergreifende mied ich mühelos. Das war mein Zustand: Ich merkte, dass mich auch das Umständliche nicht mehr interessierte. Dazu war ich von selbst gekommen. Glaube ich. Genau weiß ich nichts.
    Zum Glück war das Bedürfnis, etwas genau wissen zu wollen, erloschen. (...) Das war die Erzverführung zu allem: etwas genau wissen zu wollen. Damit hat die Welt sich eingenistet in dir. Du warst nicht mehr du, sondern der, der alles genau wissen wollen musste. Es kommandierten die Theorien, jede mit einem Extra-Erlösungsversprechen. Allmählich waren diese Verführungsfeuerwerke der Theorien erloschen.
    Dass mir dieses Geständnis entschlüpft, kommt mir nachgerade mutig vor. Kann etwas, das einem passiert ist, mutig sein?
    Auch wenn ich mich nicht mehr für Theorien interessierte, konnte ich doch sagen: Theorien sind großartig. Eine Theorie, das ist ein Gebäude mit vielen Zimmern, und in allen Zimmern brennt Licht. Und in allen Zimmern tanzt der, der das alles erdacht und gemacht hat. Ich hätte den Schöpfer einer Theorie nie einen Theoretiker genannt. Er tanzt doch, um angeschaut zu werden. Obwohl er mit jeder Theorie etwas beweist, will er noch mehr als etwas sich beweisen. Jede Theorie musste so tun, als meinte sie mich. Und das um meinetwillen. Wenn die Theorie zugegeben hätte, dass sie sich meint, hätte ich mich, weil sie mir dann geglichen hätte, wieder für sie interessieren können. Wenn ich's mir leicht machen wollte, sagte ich einfach: Theorie ist eine zweite Sprache für eine erste. In der ersten Sprache gibt es alles von selbst. Die zweite Sprache ist die Lebenseinschränkung durch das Für-wahr-halten-
    Müssen. Das Wahrheitsgewerbe! Der Inbegriff dieses Gewerbes: die Theorien."
    Die Hauptrolle ist bei diesem Autor dem Satz vorbehalten
    Nichts leichter, als diesen Autor misszuverstehen und die Kulissen seines Erzähltheaters auf Inhalte zu durchstöbern. Denn nicht die Liebe ist Martin Walser das Größte, nicht Freund und Feind und Herr und Knecht sind es, auch nicht die Frauen, das Geld, das Alter, der Schmerz – obwohl Martin Walser in seinen Büchern für all dies große Partien komponiert hat. Die Hauptrolle aber ist einem anderen vorbehalten: dem Satz. Kaum ein Kapitel seiner Prosa ohne den Auftritt "des Satzes” oder "der Sätze". In den Himmel hebende, vernichtende Sätze, Sätze, die alles schöner sagen, als es ist, Sätze, die demjenigen, der sie schreibt oder liest, ganz entsprechen. Und Sätze, die einem vom anderen zugemutet werden.
    "Mir geht es ein bisschen zu gut” ist, wie sich herausstellt, so eine Satz-Zumutung. Damit beginnt Martin Walsers Roman "Statt etwas oder Der letzte Rank", und im Verlauf des Buchs folgen viele solcher Sätze:
    "Zu träumen genügt./Unfassbar sein wie die Wolke, die schwebt./Ich hoffe mehr, als ich will./Ich huste, also bin ich./Ich bin eine blühende Wiese./Der liebe Gott ist ein Masseur mit Händen aus Musik./Ich bin ein Apfelbaum, der Birnen trägt./Alle Vögel singen, als wüssten sie Bescheid."
    Das gemahnt teils an die Notate der Tagebücher, die Martin Walser als eigenen Werkteil seiner erzählenden und essayistischen Prosa an die Seite stellt, teils an die Reflexionen seines aphoristischen Alter Ego Meßmer, deren drei Bände der Rowohlt Verlag zum runden Geburtstag in diesen Tagen als Sonderausgabe "Meßmer - Gedanken, Reisen, Momente” herausbringt. Schon in "Meßmers Gedanken”, erstmals erschienen 1985, entstand eine Art sprachlicher Physiognomie, das Porträt des Schreibenden in einzelnen Sätzen:
    "Von allen Stimmen, die zu mir sprechen, ist meine die schwächste./ Mein Gesicht ist eine Tür, durch die man hinein kann, aber nicht hinaus./ Mich verändert alles. Ich verändere nichts."
    Das äußere Leben kommt allenfalls in Spuren vor
    Solch eine Physiognomie wird auch in "Statt etwas oder Der letzte Rank” erkennbar. In Ermangelung geeigneter Begriffe bezeichnet der Klappentext des Verlags das als "das fulminante Porträt” eines, "der auf sein Leben zurückblickt und begreift”. Das äußere Leben allerdings, das, was hier "die Draußen-Welt” heißt, kommt allenfalls in Spuren vor, in einzelnen Szenen, Erinnerungen an Figuren mit wechselnden Namen, Begegnungen mit einem "Feind”, mit "Freunden”, mit "Gegnern”, mit Frauen natürlich. Zu Handlung im Sinn nacherzählbarer Kolportage wird all dies nicht. Der Schreibende starrt auf eine "leere, musterlose Wand" und macht "aus Erfahrungen Gedanken”. Dennoch nennt der Autor das Buch "Roman”. Das kann man erklären.
    Schon in Walsers Kafka-Dissertation ging es um die autonome Form
    Undatiertes Porträt des Schriftstellers Franz Kafka.
    Seine Dissertation verfasste Martin Walser über Franz Kafka. (picture-alliance / dpa / CTK)
    Mit der Frage, was eigentlich einen Roman ausmache, hat Martin Walser sich schon in seiner 1951 fertiggestellten Dissertation "Beschreibung einer Form - Versuch über Kafka” beschäftigt, lange bevor er 1957 seinen ersten eigenen Roman "Ehen in Philippsburg" vorlegte. Keinen Geringeren als Georg Lukács, den marxistischen Vordenker der Romantheorie, rief der Tübinger Doktorand damals auf – um ihn (mit Unterstützung unter anderem von Bense, Hegel und Heidegger) in die Schranken zu weisen; um nachzuweisen, inwiefern Kafkas "Schloss” und "Process”, so wenig handlungsgetrieben, beschreibungsgetreu und im landläufigen Sinn welthaltig sie sind, eben doch "Totalität" haben. Es ist nicht mehr wie zu Zeiten des Epos die "empirische Totalität” der äußeren Ordnung der Dinge (und auch nicht mehr die der Gesellschaft wie in der bürgerlichen Epopöe), sondern die der autonomen Form. "Innerlichkeit und Abenteuer" fallen hier mitnichten auseinander, wie Lukács über den modernen Roman sagte, sondern entsprechen sich.
    "In 'Prozess' und 'Schloss' bezieht sich Kafka nicht mehr auf eine vorhandene Welt. Durch die Ausbildung seines autonomen Formvermögens hat er seine Subjektivität schon vor dem Werk überwunden. Was er jetzt noch schreibt, gewinnt von ihm unabhängiges, objektives Sein, das in seiner reinen Geschaffenheit keine Totalität empirischer Objekte anstreben muss, dafür aber eine Totalität der über die Existenz eines Menschen entscheidenden Kräfte gewinnt.”
    Anders ausgedrückt:
    "Deshalb ist die Totalität der Welt des 'existierenden' Menschen in dem Augenblick und spontan erreicht, indem der Mensch seine Situation erkennt und sie als Dichter aussagt."
    Was den jungen Walser am Romanautor Kafka unübersehbar begeistert:
    "Er vermag seine Grenzen zu den Grenzen seiner Welt zu verwandeln."
    Die "über die Existenz eines Menschen entscheidenden Kräfte"; die Erkenntnis und Aussage der "Situation” – mag sein, diese Kafka-Deutung, heute gelesen, wirkt ein wenig zu deutlich der Existenzialphilosophie ihrer Zeit verpflichtet. Und unübersehbar ist ihre Sprache mit voller Absicht der Jargon der entsprechenden Theoriebildung. Die Lektüre dieses frühen Textes ist auch im Vergleich mit späteren Aufsätzen über die Literatur und das Schreiben interessant, denn er atmet nicht unbedingt den Willen zur Lesbarkeit, der Walsers "Liebeserklärungen und Leseerfahrungen" ihre verlässlichen Beliebtheitswerte verschafft.
    Formgeschichtliche Erkenntnisse als Hauptsache
    Aber die Hauptsache dieser Doktorarbeit sind ihre formgeschichtlichen Erkenntnisse, und die poetologischen Konsequenzen daraus hat Martin Walser spätestens mit Beginn der sechziger Jahre, in den Romanen der Anselm-Kristlein-Trilogie gezogen. Fortan sind alle seine Figuren Ausdrucksmittel seiner eigenen Subjektivität, vom Lehrer Helmut Halm in seinem größten Erfolg, der Novelle "Ein fliehendes Pferd”, und den Chauffeur Xaver Zürn in "Seelenarbeit” über die liebenden Ehefrauen Susi Gern im "Lebenslauf der Liebe” und Maja Schneilin im "Dreizehnten Kapitel” bis zum "Angstblüten”-Bankier Karl von Kahn, zum alten Goethe als "liebendem Mann” und zum "sterbenden Mann" Theo Schadt. Alle sprechen sie mit seiner Stimme, und zwar deutlich. Und zwar je gelungener der Roman, desto deutlicher.
    Alle Figuren werden zu Sprechern Walser'scher Sätze
    Das ist Martin Walsers poetisches Verfahren: Indem er sich seinen Figuren anverwandelt, sich in ihre Sprachen hineinhört, bis er darinnen ist, werden sie alle zu Sprechern Walser'scher Sätze. Deshalb brechen Walser-Romane eigentlich allesamt den Spannungsbogen des Erwartbaren, bewegen sich stattdessen in Kreisen oder eher Spiralen, hin zu Untergängen, die sich auf anderer Ebene als Erhellungen, Erleuchtungen oder Erlösungen darstellen. Und wer sie allein wegen der Handlung läse, so pikant, provokant oder herzzerreißend sie sein mag, ließe sich das Beste entgehen: seine Sätze. Begebenheiten, Begegnungen und Beobachtungen in der Realität wie die Schicksale seiner Figuren sind Martin Walser das, was er selbst "Schreibanlässe” nennt. Und in "Statt etwas oder Der letzte Rank” hat der Schreibende statt etwas die "weiße, musterlose Wand”. Hier gibt es keine Zwänge des Plots, hier macht keine Figur sich unterm Schreiben selbstständig. Hier nimmt der Autor sich Freiheit. Es geht um "Sprache, sonst nichts”.
    "Die Sätze, die ich schreibe, sagen mir etwas, was ich, bevor ich diese Sätze schrieb, nicht gewusst habe. Die Sprache ist also ein Produktionsmittel. Allerdings eins, über das man nicht Herr ist. Es wäre schön, wenn man immer schreiben könnte. Natürlich muss das, was man schreibt, überraschend sein für den, der schreibt. Er muss sich andauernd wundern können über das, was da, ohne dass er Herr des Verfahrens ist, aus seiner Hand aufs Papier kommt. Schreibend weiß man nicht, was Gut und Böse ist. Wenn jemand schreibt, der weiß, was Gut und Böse ist, ist die Gefahr groß, dass er das merken lässt. Dann muss er eigentlich nicht weiterschreiben."
    An diese Passage aus dem Aufsatz "Sprache, sonst nichts” knüpft "Statt etwas oder Der letzte Rank” fast zwei Jahrzehnte später wie unmittelbar an. Das Buch besteht aus Sätzen, die man, wie Walser schreibt, "nicht beweisen muss”. Mit Zuschreibungen und Bezeichnungs-Routine, mit dem, was er "Draußen-Sprache” und "Verführungsfeuerwerke der Theorien” nennt, wollen sie nichts (mehr) zu tun haben – und zuallerletzt mit "Meinung”.
    Das könnte aussehen wie Rückzug, denn Martin Walser – den ein Politik-Magazin erst kürzlich im Ranking der "wichtigsten deutschen Intellektuellen” für das Jahr 2017 auf Platz eins wählte – galt sein ganzes Schriftstellerleben lang als einer, der sich einmischt, der Ansichten hat und damit nicht hinterm Berg halten kann. Er ist aber auch einer, der sich dabei immer wieder und zu seiner eigenen Überraschung in gegensätzliche Lager hinein zu formulieren scheint: links, rechts, neuheidnisch oder katholisch.
    Welche seiner Einlassungen diese unterschiedlichen Einordnungen in den vergangenen sechs Jahrzehnten nahegelegt haben, ist jetzt geballt nachzulesen in einer Sammlung, die den doppeldeutigen Titel "Ewig aktuell” trägt und pünktlich am 24. März zum neunzigsten Geburtstag erscheint.
    Der Untertitel lautet "Aus gegebenem Anlass” und trifft es womöglich besser. Das Buch hat mehr als 600 Seiten, was Walsers gelegentlich vorgebrachte Behauptung, er sei kein politischer Mensch, doch ziemlich relativiert. Die Herausgeberin Thekla Chabbi, Koautorin von Walsers Roman "Ein sterbender Mann” aus dem vergangenen Jahr, wählt den Begriff "Empfindungszeugnisse” für die Reaktionen des Jubilars auf tatsächliche oder vermeintliche Zumutungen. Chabbi macht drei wesentliche Themen aus, auf die Walsers, wie sie es nennt, "politisches Schaffen” sich gerichtet habe: den deutschen Judenmord, den Vietnam-Krieg und die von ihm als historische und menschliche Ungerechtigkeit empfundene deutsche Teilung.
    Walser sieht sich an der Seite der Verlierer der Geschichte
    Jenseits der Reden über sein "Geschichtsgefühl”, jenseits der flammenden Aufrufe gegen Krieg und kolonialistische Ausbeutung, jenseits der notwendigen Erinnerung, dass die Mörder in Auschwitz keine Aliens waren, sondern aus der Mitte der deutschen Gesellschaft kamen, ist Martin Walsers literarische Perspektive meist diejenige derer, die er für die Verlierer der Geschichte hält, für die, denen von Mächtigen etwas angetan wird.
    Tatsächlich sah und sieht Walser nicht zu allerletzt sich selbst in dieser Position des Unterlegenen, in der Lage dessen, der einer "Machtausübung” unterworfen wird – und die öffentliche Meinung als feindliche Macht, vorn dran die "Chorknaben des Feuilletons”. Zum Thema wurde ihm dies 2002 in "Tod eines Kritikers”, einem auffallend misslungenen Roman – nicht, weil das Buch antisemitisch wäre, wie der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher und in der Folge viele andere behaupteten, sondern weil der "Schreibanlass” so überdeutlich bleibt, die Dauerfehde mit dem Kritiker-Feind-Freund Marcel Reich-Ranicki, kombiniert mit den Erfahrungen nach der Paulskirchenrede von 1998.
    Deren Fehlinterpretation als Schlussstrich-Appell hat allerdings auch damit zu tun, dass Walser aus ihrerseits maßlosen Angriffen in Reich-Ranickis "Literarischem Quartett” auf seinen auffallend gelungenen Roman "Ein springender Brunnen” die Motivation für die narzisstische Umdeutung eigener Kränkung zur Grundlage einer Fundamentalkritik fehlgehender Erinnerungspolitik gewann.
    Andererseits ist ein Walser'scher Lieblings-Satz: "Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.” Das unterscheidet ihn von seinem verstorbenen Altersgenossen Günter Grass, dem der Standpunkt immer eine ganz eindeutige Sache gewesen ist. Je mehr der Nietzsche-Leser Walser diese steile Dialektik zulässt, desto überraschender kann er die Unabgeschlossenheit von Erfahrungen zur Sprache bringen - auch in "Statt etwas oder Der letzte Rank”:
    "Ich musste hoffen, die Feinde würden nicht aufhören, sich mit mir zu beschäftigen. Interessierten sie sich nicht mehr für mich, bräche aus das Zeitalter der langen Weile. Solang ihnen noch etwas einfiel gegen mich, erlebten sie sich und erlebte die Welt mich. Die Feinde und ich – wir waren ein Team. Zur Unterhaltung der Welt. Wehe, wenn dieses Team verstummte! Es fielen ihnen über mich immer wieder Sätze ein, die dem Schweigen vorzuziehen waren."
    "Die ganze Welt ein Sinnlieferungsgetobe"
    Tragikomische Ironie ist eine Konstante des Walserschen Blicks auf die Welt und sich selbst. Selten, vielleicht nie, hat Martin Walser sie so rückhaltlos vorgeführt, in so unendliche Bewegung versetzt wie in seinem jüngsten Buch. Der Schreibende gibt sich nicht damit zufrieden, dass ihm gegeben ist, zu sagen, was er leidet – obwohl er just dies tut: Das cartesianische "Ich denke, also bin ich” heißt hier mal "ich huste, also bin ich”, mal "ich leide, also bin ich”, mal "ich bin unmöglich, also bin ich”. Zugleich unternimmt er immer neue Anläufe, das scheinbar Unhintergehbare – die Demütigung durch einen Mächtigeren, die Unmöglichkeit der Liebe – von anderer Warte aus zu betrachten:
    "Alle um mich herum kämpften andauernd darum, sein zu dürfen, wer und was sie gern wären. Und was jeder gern wäre - es wurde ihm schwergemacht oder gar nicht gestattet. (...) Dass ich die um ihr Leben Kämpfenden eingeteilt habe in Freunde, Gegner und Feinde, war krankhaft ichbezogen. Ich hätte doch andauernd sehen müssen, dass jeder, der sich mit mir beschäftigte, in mir nur eine Gelegenheit sah, sich selber so zur Geltung zu bringen, dass er seinem Lebensziel, der zu sein, der er sein wollte, ein Schrittchen näher kam. Es ging nie um mich. Jeder, der sich mit mir beschäftigte, war in einem Sinnlieferungsdienst. (...)
    Wir sind alle immer mit der Sinnlieferung beschäftigt. Was einer gegen mich hatte, gab seinem Leben einen Sinn. Und je mehr Sinn er produzierte, desto mehr durfte er der sein, der er sein wollte. Die ganze Welt ein Sinnlieferungsgetobe. Je mehr Sinn einer produzierte, zum Beispiel durch den Nachweis, dass ich zu wenig oder überhaupt falschen Sinn lieferte, umso lieber war er der Welt. Die Welt will alles sein, aber nicht sinnlos.
    Ich entschuldige mich bei allen dafür, dass ich ihren Kampf um ihr Leben oft verstanden habe, als meinten sie mich. Ich entschuldige mich! Und das, dass ich dann sagen kann: Ich entschuldige mich, also bin ich."
    Mit dem Wort "Rank” – ein Ausdruck, der im Oberdeutschen bis heute gebräuchlich ist – kann laut Grimmschem Wörterbuch ebenso eine Wendung des Wegs gemeint sein wie die Ausweichbewegung eines Verfolgten. In diesem "letzten Rank” erweitert Martin Walser die Grenzen seiner Sprache und damit die Grenzen seiner Welt.
    Bei dem Literaturtheoretiker Georg Lukács, den Walser ehedem in seiner Dissertation so ausführlich rezipierte, ist zu lernen, dass, was den Roman ausmacht, von der historischen Situation abhängt. Was das denkende Subjekt ausmacht, hängt nicht zuletzt von der biografischen, wenn man so will: existenziellen Situation ab. In diesem Roman ist es die Situation des sehr hohen Alters, eine Lage, in der die Perspektive des Verstummens, des Schweigens täglich konkretere Form annimmt. Mit diesem Buch sagt Martin Walser es noch einmal sehr vernehmlich: Ich schreibe, also bin ich.
    Martin Walser: "Statt etwas oder Der letzte Rank"., Rowohlt 2017, 176 Seiten, 16,95 Euro.