Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Martina Wildner: "Der Himmel über dem Platz"
Fair Play gilt nicht für Mädchen

Wer als Mädchen richtig gut Fußball spielen will, muss in eine Jungenmannschaft wechseln, so fordert es der DFB. Dazu gehören Mut und Durchsetzungsvermögen. Martina Wildner erzählt in ihrem Kinderbuch von einem fußballbegeisterten Mädchen allein unter Jungen, das trotz vieler Widerstände nicht aufgibt.

Von Karin Hahn | 20.02.2021
Fußballspielende Mädchen und Jungen und das Buchcover von Martina Wildner: „Der Himmel über dem Platz“
Mädchen, die erfolgreich Fußball spielen wollen, müssen sich in Jungsmannschaften behaupten (Buchcover Beltz & Gelberg / Hintergrund: IMAGO / ActionPictures)
Jolanda, die alle Jo nennen, hat sich eine feste Position im Mittelfeld und im Sturm ihrer Mädchenmannschaft erkämpft. Wenn Jo allerdings ihre Leistungen steigern will, um in die Landesmannschaft zu kommen, muss sie mit Jungen zusammen spielen. Sogar der Deutsche Fußballbund stellt diese Forderung an künftige weibliche Fußballprofis. Das zur Theorie. In der Praxis jedoch gehört sehr viel Mut dazu, in die Männer- oder - in diesem Fall - Jungendomäne einzudringen. Für Jo ist der Zeitpunkt für einen Vereinswechsel mitten in der Pubertät zudem keine gute Entscheidung.
"Jo wechselt ja mit 13 in ein Jungsteam. Das ist meiner Meinung nach ein ganz schlechtes Alter, und das kann nur zu Problemen führen. Die meisten Mädchen, die sich bei Jungs halbwegs wohlfühlen, haben meistens schon mit sechs bei den Jungen angefangen."

Eine harte Zeit

Martina Wildner erzählt aus der Ich-Perspektive. Und so können die Leserinnen und Leser ganz nah Jos Gedanken verfolgen, auch ihre ständigen Zweifel an sich selbst und ihren fußballerischen Leistungen. Trotz aller Selbstkritik wird Jo vom jungen Trainer Jurek sogar mit Lob im Verein aufgenommen. Allerdings ahnt sie nach dem ersten Kontakt mit Ron, Ahmed, Sigi, Niclas und den hysterisch schreienden Vätern am Spielfeldrand, dass eine harte Zeit auf sie zukommt. Besonders Niclas, der arrogante Meinungsführer und beste Spieler, probt sofort den Aufstand gegen das erste Mädchen im Verein. Und so schwindet Jos Selbstvertrauen zunehmend zwischen den viel schneller und aggressiver spielenden Jungen, die bitterernst ausrasten, wenn sie mal verlieren. Auch wenn Jo zur Mannschaft gehört, ist sie doch völlig isoliert. Kein Junge tauscht sich mit ihr über das Training oder Testspiele aus. Wenn etwas schief läuft, ist immer sie die Schuldige.
"Nach dem Training ging Niclas hinter mir. Das fand ich merkwürdig, denn meistens ging ich als Letzte und Niclas im Pulk mit den anderen. Ich befürchtete Schlimmstes und dachte über Fluchtwege nach. Meine einzige Rettung vor Niclas' Rache war meine Kabine. [...] Wieder hörte ich Niclas atmen, jetzt gelang es mir, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. In dem Moment spuckte Niclas an meine Kabinentür, murmelte: ,Missgeburt!', und ging an mir vorbei, weiter zu seiner Kabine. Ich flüchtete mich in meine und schlug die Tür hinter mir zu. Schon wieder musste ich heulen."
"Jo fühlt sich als Fremdkörper, weil sie ein Fremdkörper ist. Man ist als Mädchen immer Fremdkörper, das ist einfach so. Das weiß ich auch aus Erfahrung, von dem, was ich beobachtet habe. Man wird bestenfalls toleriert in so einer Mannschaft oder als nicht störendes Etwas empfunden von den Jungs. Respekt oder dass eine Gleichheit entsteht, das ist eigentlich selten. Allein schon der Torjubel ist schwierig oder überhaupt, dass man eine eigene Kabine hat, weil - diese Kabinengespräche sind ja auch ganz wichtig. Freundschaften entstehen da eigentlich gar nicht."

Hilfe vom Fußballgott

Doch Jo hat einen starken Willen und will endlich wieder Tore schießen. Hilfe kommt überraschend vom Nachbarn Kubitschek. Mit dieser Figur hebt Martina Wildner ins Fantastische ab, denn Herr Kubitschek züchtet nicht nur Piranhas, sondern ist auch noch der Fußballgott. Er hat alle Spieler in ihren Anfängen im Blick, auch Cristiano Ronaldo, Jos Idol.
",Es hilft, das Ziel im Auge zu behalten, wenn man den Weg sucht.'
Ich dachte an Sprüche wie ,Der Weg ist das Ziel'. Der Kubitschek war offenbar anderer Meinung. Das Ziel war das Ziel. Jedenfalls im Sport. […]
,Ich sagte ja schon', erklärte der Kubitschek, ,die Bundesliga ist kein Problem für dich. Ein Schritt nach dem anderen. Nur darfst du nicht vom Weg abkommen.'
,Ja... aber wo ist der Weg?'"

Ein eigenes Team

Damit Jo endlich aus ihrem Tief herausfindet, gibt der eigenartige Herr Kubitschek Jo einen Rat. Sie soll sich ein eigenes Team zusammenstellen, dass sie unterstützt. Jos Freundin Betty ist sofort bereit, am Spielfeldrand für Jo zu jubeln. Und dann ist da noch eine fußballbegeisterte Mutter:
"In der Mannschaft gibt es eine Mutter von einem Jungen, der heißt Ahmed, und die wird auch immer Mama Ahmed genannt. Mama Ahmed ist nicht, wie man vielleicht denkt, Tunesierin. Der Vater von dem Jungen ist Tunesier. Sondern sie ist Berlinerin, und sie berlinert auch ziemlich. Ja, es stellt sich heraus, dass sie zum Islam übergetreten ist und auch immer ein Kopftuch aufhat. Und ist auch sehr stolz auf Jo, dass sie so tapfer in dieser Jungsmannschaft kämpft."
",Hey, pass doch auf!', wurde ich angeblafft.
Jetzt stand ich vor Mama Ahmed und sie beugte sich über die Kühltasche.
,Wanillje oda Schoko?'
,Egal.'
,Ejal ham wa nich.'
,Vanille', sagte ich.
.Imma bescheiden, die Mädels', sagte Mama Ahmed.
,Wieso bescheiden?', fragte ich.
,Kommst als Letzte. Det is nich jut. Du mussta det Eis als Erste holen!'"
Zu Jos Team gehört auch Lynn, die kleine Schwester von Ron. Er steht mit Jo auf dem Platz, grenzt sie aber genauso aus wie die anderen.
"Er hat ein Geheimnis, und zwar tanzt er heimlich. Er macht eher so Hiphop, er hat sich so Moves beigebracht. Aber eigentlich will er auch gern Ballett tanzen, und das verbirgt er natürlich vor den anderen. Ich glaub, das ist so ein bisschen wie Mädchen dürfen Hosen tragen, aber Jungen keine Röcke. Vielleicht sind da Mädchen auch toleranter, was Eigenheiten angeht. Jungs sind da manchmal sehr von ihrer Horde abhängig, extrem. Und Mädchen sind das vielleicht nicht ganz so sehr."

Beim Ballett wird Ron bewundert

Martina Wildner zeigt sehr deutlich, wie unterschiedlich die Gesellschaft auf Jos und Rons Leidenschaften reagiert. Fair Play gilt nicht für Jo. Wenn sie sich gegen den Gruppenzwang und die vulgären Attacken ihres Widersachers Niclas wehrt, wird sie bestraft. Ron hingegen genießt die Bewunderung der Ballettmädchen, da er sich für das begeistert, was auch sie interessiert. Kein Mädchen empfindet ihn als Konkurrenz.
Die Berliner Autorin umkreist in vielen temporeich geschilderten Szenen psychologisch genau die gängigen Geschlechterstereotypen und die damit einhergehenden Rollenzwänge, die kaum aufgebrochen werden. Neben Alltagsschilderungen fließen in Jos klare Sprache auch unterhaltsam Fragen zur Technik und Taktik und zu mehr oder weniger erfolgreichen Spielabläufen ein.
Martina Wildner schildert realitätsnah die Atmosphäre auf Fußballplätzen und erspart den Leserinnen und Lesern nicht die rassistischen Attacken auf Minderheiten, sie lässt die ehrgeizigen Väter über alles hinwegsehen, wenn es um die Fußballkarriere ihrer Söhne geht, und sie gibt einem sympathischen Mädchen eine kraftvolle Stimme.
Martina Wildner: "Der Himmel über dem Platz"
Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim. 221 Seiten, 13,95 Euro, ab 11 Jahren.