Donnerstag, 25. April 2024

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Unterhaltung mit der Fliege
Mary Ruefle: „Mein Privatbesitz“

In Mary Ruefles Prosaminiaturen wird das Profane, werden Obsessionen, Sehnsüchte und widersprüchliche Neigungen zum Katalysator von Erkenntnis. Es geht um die Banalität, wie auch um das Glück im Alltäglichen, aber auch um die Traurigkeit und die Vergeblichkeit menschlichen Tuns. 

Von Angela Gutzeit | 20.01.2022
Das Buchcover von Mary Ruefle: „Mein Privatbesitz“ vor einem See mit Steg
Im Werk der amerikanischen Lyrikerin Mary Ruefle geht es um Traurigkeit, die zu Glück werden kann. (Buchcover Suhrkamp Verlag / Hintergrund: IMAGO / robertkalb photographien)
Elf Gedichtbände hat Mary Ruefle in 30 Jahren veröffentlicht. Auch zwei Prosabände. Ihre Essays und Erzählungen aber deshalb als Nebenprodukt zu werten, wäre falsch. Die in den USA hochgeschätzte Lyrikerin hat in 30 Jahren eine Art literarisches Gesamtkunstwerk geschaffen, dessen Genres ineinandergreifen. Wenn der Suhrkamp Verlag sich jetzt der Dichterin zunächst  mit einer Übersetzung von „My Private Property“ von 2016 nähert, ist damit zumindest ein erster Einblick gegeben in den vielgestaltigen literarischen Kosmos der amerikanischen Autorin.
41 Prosa-Miniaturen vereinigt der Band. Kleine Geschichten wechseln sich ab mit 11 kurzen Texten über die verschiedenen Farben der „Traurigkeit“. Dazwischen Zeilen, die das eigene Schreiben reflektieren – wie im Kürzest-Text „Selbstkritik“:
„In einem typischen Gedicht von mir sitzt eine Frau allein und tut überhaupt nichts. Sie bemerkt eine Fliege, die über den Tisch krabbelt, und beginnt eine Unterhaltung mit ihr. Etwas schrecklich Dramatisches passiert, und das Gedicht endet. Das geschieht Tag für Tag, so viele Tage wie Gedichte in einem Buch sind, und sie bleibt erschöpft zurück.“
Ruefle beschreibt hier ihre eigene Gedichtproduktion. Wie sie das macht, ist charakteristisch für die meisten Prosastücke in diesem Band. Ein lakonischer, fast beiläufiger Ton, mal ins Komische und Skurrile, mal ins Resignative kippend, verrätselt mit überraschenden Wendungen. Das Drama versteckt sich im Detail, eingebettet in eine Verkettung von scheinbar beliebigen Betrachtungen und wechselnden Stimmlagen. In der Geschichte „Beobachtungen am Boden“ zum Beispiel wird in äußerst schlichter Sprache vom  menschlichen Handeln erzählt, so als sei der Adressat jemand, der den Planeten zum ersten Mal betritt: Wir begraben unsere Toten im Boden wie auch den Müll, heißt es dort. Die Toten kommen in Kisten, der Müll auf Müllhalden. Im Boden werden auch Samen vergraben. Daraus wachsen Blumen, die verwelken, nachdem man sie abgeschnitten hat. So geht es in einem fort.  Aber dann mittendrin dieser beunruhigende Satz:
„Wenn die Toten nicht in Kisten sind und sie zu einem von Menschen gemachten Berg getürmt liegen, benutzen wir Erdbaumaschinen, um sie alle zusammen zu begraben wie Müll.“

Vom Kopfschrumpfen und dem eigenen Begehren

Wie grelle Signale wirken dabei die kursiv hervorgehobenen Wörter wie „Boden“, „Schaufel“, „Erdbaumaschine“, „Friedhof“, „stirbt“ oder „furchtbar“. Wer Ruefles sogenannte „Löschgedichte“ kennt, Relikte von fremden Texten, die die Dichterin derart bearbeitet, dass nur noch einzelne Worte übrigbleiben -  alle anderen werden mit Tippex unkenntlich gemacht -,  vermag in dieser Geschichte durchaus eine Anspielung auf diese experimentelle Form der Poesie zu entdecken.
Ähnlich hintersinnig wie in der eben genannten Geschichte präsentiert sich auch das Prosastück „Mein Privatbesitz“, der titelgebende Text des Buches.  „Es ist doch wirklich traurig“, heißt es hier zu Beginn, „dass heutzutage niemand an der Kunst des Kopfschrumpfens Interesse zeigt“, so wie es auf dem afrikanischen Kontinent üblich gewesen sei. In Sprachschleifen windet sich nun der Text ausgehend von der Bewunderung der Erzählerin für die kunstfertige Präparierung menschlicher Köpfe, über die Erwähnung kolonialer Verbrechen im Kongo bis zum eigenen Begehren, die toten Liebsten auf diese Weise in Eierkartons aufbewahren zu können. Und dann auf einmal dieses in eine Art beflissener Beiläufigkeit eingepackte Erschrecken vor der Natur des Menschen:
„Sehr oft ist der Besitz eines einzelnen Kopfes nicht genug, der Besitz des eigenen Kopfes weckt den Wunsch nach dem Kopf eines anderen, allein aus dem natürlichen Wunsch nach Liebe und Vereinigung. (…) Doch aus der Gier, aus dem Verlangen nach Kontrolle und Macht erwächst ein Ungeheuer…“

Die Vergeblichkeit menschlichen Strebens

In einem weiteren Text dieses Bandes geht es zum Beispiel um die Menopause und den Vorteil des Alterns für Frauen. An anderer Stelle wird die kurze Existenz eines Weihnachtsbaums zum Anlass genommen über die Notwendigkeit des Sterbens nachzudenken. Dazwischen die sogenannten  „Farbstücke“, meditativen Prosagedichten ähnlich, die versuchen, den Zustand der Traurigkeit farblich zu klassifizieren. Wenn aber Mary Ruefle im Abspann des Buches schreibt, „Traurigkeit“ könne man, wenn man wolle, auch durch das Wort „Glück“ ersetzen, dann wird damit noch einmal unterstrichen,  was in ihrem Prosastück „Wiegenlied“ seinen vielleicht prägnantesten  Ausdruck findet: die Erkenntnis der Dichterin, dass alles menschliche Streben eigentlich irrelevant sei angesichts der Unendlichkeit des Universums:
„Man kann Brahms hören, man kann Giacometti betrachten, man kann Henry Miller lesen, und jeder wird dir auf seine Art und Weise sagen, dass es nichts, absolut nichts gibt außer den Sternen, die auf dich herabschauen, auch wenn du meinst, dass du hinaufschaust.“
Die absolute Meisterleistung der Schriftstellerin Esther Kinsky, die die Übersetzung dieses Bandes aus dem Englischen besorgte, darf hier nicht unerwähnt bleiben. Und wer mehr von und über Mary Ruefle erfahren möchte, der sollte die Literaturzeitschrift „Schreibheft“ hinzuzuziehen, die in ihrer 97. Ausgabe einen sehr interessanten Einblick in das Schaffen dieser Dichterin ermöglicht.
Mary Ruefle: „Mein Privatbesitz“
Aus dem amerikanischen Englisch von Esther Kinsky
Suhrkamp Verlag, Berlin
127 Seiten, 18,00 Euro.
„Schreibheft“. Zeitschrift für Literatur.
Nr. 97/August 2021
Darin: Mary Ruefle. Weisse Schatten.
Rigodon-Verlag, Essen
Einzelheft 15,00 Euro.