Jasper Barenberg: Vier Jahre ist es her, da wurde das letzte Mal über eine Impfpflicht gegen Masern in Deutschland diskutiert. Da war gerade ein Kleinkind an der Infektion gestorben und mehrere Städte registrierten so viele Fälle von Masern, wie seit der Jahrtausendwende nicht mehr. Viel hat sich seitdem offenbar nicht geändert. Schlagzeilen machen gerade 26 Fälle von Masern im Landkreis Hildesheim.
In ganz Deutschland hat sich die Zahl der Infektionen im Vergleich zum Vorjahr verdreifacht, heißt es. So fordert insbesondere der SPD-Fraktionsvize im Bundestag, Karl Lauterbach, einmal mehr die Impfpflicht gegen Masern, quasi als letztes Mittel. Das hat er hier im Deutschlandfunk gesagt.
Ist eine Impfpflicht das notwendige letzte Mittel im Kampf gegen eine potenziell lebensbedrohliche Krankheit? Darüber kann ich in den nächsten Minuten mit dem Humangenetiker Wolfram Henn sprechen, der im Deutschen Ethikrat eine Arbeitsgruppe zum Thema leitet. Die geplante Stellungnahme des Ethikrates ist allerdings noch in Arbeit. Über seine persönliche Haltung zum Thema aber kann ich jetzt sprechen. Schönen guten Morgen, Herr Henn!
Wolfram Henn: Guten Morgen, Herr Barenberg.
Barenberg: Die Situation in Deutschland habe ich etwas angedeutet. Gleichzeitig gibt es ja die Warnung der Weltgesundheitsorganisation, dass die Impfmüdigkeit inzwischen zu einer von zehn großen globalen Gesundheitsgefahren gehört. Ist diese Situation so dramatisch, wie das klingt?
"Es gibt eine verbreitete Skepsis"
Henn: Ja, das kann man ganz klar sagen, zumal es eine vermeidbare Problematik ist. Impfungen sind wirksam, Impfungen sind nebenwirkungsarm, und von daher ist es eine wichtige und richtige Initiative aus der Politik, nun die Rückstände, die Deutschland im Vergleich der Nationen hat, hier endlich aufzuholen.
Barenberg: Der Rückstand muss aufgeholt werden. Das ist ja in den letzten Jahren schon versucht worden. Vor vier Jahren wurden einige Auflagen beschlossen und gemacht. Beispielsweise müssen Eltern, bevor sie ihr Kind in der Kita anmelden, inzwischen eine Impfberatung nachweisen. Das Gesundheitsamt hat mehr Befugnisse bekommen und Geldbußen könnte es auch geben. Warum hat all das nichts gebracht?
Henn: Da gibt es unterschiedliche Ebenen. Wir müssen uns fragen, inwieweit wir die Impfmüdigkeit überwinden können. Es gibt eine verbreitete Skepsis. Skepsis ist ja nichts Schlechtes, wenn man kritisch an Dinge herangeht. Aber es gibt leider gerade unter den sozialen Medien einige wenige aktive, die ohne sachliche Argumente Initiativen, Ideologien betreiben, die Leute verunsichern und damit letzten Endes dazu führen, dass die erforderlichen Impfraten nicht erreicht werden.
Barenberg: Wenn ich da vielleicht noch mal einhaken darf? Das wird ja oft diskutiert: Welche Bedeutung haben eigentlich diese, ich nenne sie mal, prinzipiellen Impfkritiker und Impfgegner. Können wir in einem ersten Schritt vielleicht mit Ihnen klären: Sind die Einwände, die da oft zu hören sind, sind die Argumente eigentlich überzeugend aus der Welt geschafft?
Henn: Es gibt – das sagen psychologische Studien in Deutschland und auch die internationale Betrachtung – einen kleinen harten Kern von ideologischen Impfgegnern. An die kommt man argumentativ nicht heran. Aber es gibt eine recht große Gruppe in der Bevölkerung, vielleicht 20 Prozent, die man mit Argumenten erreichen kann, die vielleicht impfmüde sind, etwas nachlässig sind. Da kann man zum Beispiel mit Erinnerungssystemen diese Leute erreichen. Eine komplette Überzeugung von Ideologen wird man nicht leisten können.
"Da muss im Gesundheitssystem noch einiges getan werden"
Barenberg: Das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe, könnte man es vielleicht so sagen: Es gibt eine gewisse Nachlässigkeit und es gibt eine Offenheit für Argumente, die dieses mangelnde Vertrauen oder die Skepsis dann noch verstärkt?
Henn: Genau, wobei die Skepsis lässt sich mit sachlichen Argumenten bei vielen Menschen überwinden. Ein großes Problem, wo man praktisch herangehen muss, ist die Nachlässigkeit und auch die Hochschwelligkeit von Zugängen, was geleistet werden muss.
Da sind auch die Leistungserbringer in der Pflicht, etwa mit erleichterten Durchführungen von Impfungen, dass beispielsweise, wenn Eltern mit ihren Kindern zum Kinderarzt gehen, dass der Kinderarzt die Eltern gleich noch mit impfen kann, dass es Impfsprechstunden am Tagesrand gibt, solche Dinge, die einfach erleichtern, Impfungen durchführen zu lassen. Da muss im Gesundheitssystem noch einiges getan werden.
Barenberg: Das klingt jetzt alles danach, dass diese Forderung, die jetzt auf dem Tisch einmal mehr liegt, Impfpflicht im Fall von Masern – aus der SPD hören wir das, aber auch eine Neigung des Gesundheitsministers -, dass Sie da anderer Meinung sind?
Henn: Wir müssen Dinge unterscheiden. Eine moralische Impfpflicht, die kann man auf jeden Fall bestätigen, sowohl was Eltern gegenüber ihren Kindern angeht, was die Verantwortung gegenüber Menschen angeht, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können, was Menschen angeht in anderen Ländern mit schlechtem Impfschutz. Wir haben im Moment eine schreckliche Masern-Epidemie in Madagaskar. Und wir müssen auch – denken wir an die Pocken, wo wir es geschafft haben – an künftige Generationen denken.
Ob eine staatliche Impfpflicht wirklich das geeignete Instrument ist, das ist allerdings zu hinterfragen. Wenn Sie mich vor einem halben Jahr gefragt hätten, muss ich sagen, hätte ich gesagt: Ja, das stimmt so.
Der Ethikrat hat eine Anhörung durchgeführt, bei der der Abteilungsleiter des Robert-Koch-Instituts und der WHO-Koordinator für Masern Europa beide in gleicher Weise geäußert haben, dass eine staatlich gestützte Impfpflicht wahrscheinlich eher kontraproduktiv wäre – unter anderem deshalb, weil in Ländern mit Impfpflicht für bestimmte Krankheiten (hier sind ja erst mal nur die Masern in der Rede) die Überzeugung oder die falsche Einstellung in der Bevölkerung aufkommen kann, dass andere wichtige Impfungen dann doch nicht so wichtig wären, und dann würde man sich mit einer Erhöhung der Impfrate für Masern schlechtere Impfraten bei anderen wichtigen Impfungen (ich nehme mal als Beispiel die Windpocken) erkaufen.
Letzten Endes sollten wir die Schwerter schon schärfen sozusagen, aber auf eine niedrigere Ebene gehen, und da gibt es in den letzten Wochen ja eine durchaus hilfreiche Diskussion, wie es mit dem Kita-Zugang sein soll.
"Betriebserlaubnisse für eine Kita davon abhängig machen"
Barenberg: Inwiefern?
Henn: Da kann man sich überlegen, ob man die Betriebserlaubnisse für eine Kita davon abhängig macht, dass Impfen sichergestellt ist, oder auch die Tätigkeitserlaubnis für Tageseltern. Auf dieser Ebene kann man sicherlich sehr vernünftig an die Dinge herangehen. Aber vor und parallel zu diesen scharfen Methoden müssen auch Aufklärungskampagnen laufen. Wir brauchen ein nationales Impfregister, damit man überhaupt weiß, wo wir stehen.
In Praxissystemen, in den Verwaltungen von Krankenpraxen, sind üblicherweise bereits in den Systemen vorgerüstet Impf-Erinnerungssysteme. Manche Leute kennen das vielleicht vom Zahnarzt, wo man erinnert werden kann, dass das Kind oder man selber noch nicht geimpft ist. Mit solchen kleinen Anschüben kann man sicherlich da die Impfraten auch ohne staatliche Zwangsmaßnahmen erhöhen.
Barenberg: Unterm Strich: Hürden abbauen ist besser als die Brechstange der Pflicht?
Henn: … als die Brechstange der staatlichen Pflicht. Auf der anderen Seite müssen wir uns schon anschauen, welche Fehler auf der Erbringerseite gemacht werden. Es gibt einige wenige Ideologen, auch unter Ärzten, die ohne sachliche Argumente in den sozialen Medien aktiv sind, und da muss man sich wirklich fragen, ob man denen in die Parade fahren muss.
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