Der Wan'an Friedhof im Westen Pekings liegt am Fuße der Duftberge. Die Nähe der Millionenmetropole ist nur zu ahnen. Vögel zwitschern in den hohen Bäumen, im Frühjahr blüht es weiß und violett zwischen den tausenden Grabsteinen. Wan'an – wörtlich übersetzt "der zehntausendjährige Frieden" – ist ein Ort der Ruhe und Stille. Und: Der Friedhof ist der einzige öffentliche Ort in der 20-Millionen-Stadt Peking, wo der Opfer vom 3. und 4. Juni 1989 gedacht werden darf. Zumindest ein bisschen.
Es ist nicht leicht, die Gräber der Opfer vom Tian'anmen zu finden. Auf den Grabsteinen darf, wenn überhaupt, nur indirekt an die Ereignisse vor 25 Jahren erinnert werden. "Er starb ganz plötzlich", heißt es auf dem Grab von Yuan Li, der in der Nacht zum 4. Juni 89 erschossen wurde. Ein Schwarzweiß-Foto eines ernsten jungen Mannes. Davor ein Strauß vertrockneter Margeriten. Zwei Reihen dahinter ein weiteres Grab vom 4. Juni. Der Tote ebenfalls ein junger Mann. Der Grabstein ist mit roten und violetten Plastikblumen geschmückt.
Der 4. Juni ist ein absolutes Tabu-Thema
Wie aus dem Nichts tauchen vier Sicherheitsleute auf. Fotografieren sei nicht erlaubt, behaupten sie. Nur mit Sondergenehmigung dürfe man den Friedhof überhaupt betreten. Sie verlangen, die Fotos der Gräber sofort zu löschen. Denn Liu Si, wie der 4. Juni auf chinesisch heißt, ist ein absolutes Tabu-Thema. Öffentliches Gedenken ist nicht erlaubt. In den Medien und im Internet darf nicht einmal das Datum erwähnt werden.
Aktivisten, die in den letzten Wochen bei privaten Treffen über die Ereignisse diskutieren wollten, wurden verhaftet. Seit 25 Jahren versucht die kommunistische Führung, jede Erinnerung an die blutigen Ereignisse rund um den Tian'anmen-Platz aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen. Selbst der Friedhof, traditionell ein Ort des Gedenkens und der Trauer, ist vor den Abgesandten des Sicherheitsapparats nicht sicher.
"China ist so groß; Peking ist eine riesige Stadt. Wir - wie auch die anderen Familien der Opfer - sind Bürger dieses Landes. Aber bis heute gibt es keinen einzigen Ort, an dem wir für unsere Angehörigen eine Gedenkveranstaltung abhalten können, die nicht von den Gehilfen der Behörden sabotiert wird."
Ding Zilin klingt bitter und müde. Die 77-Jährige mit dem halblangen, grauen Haar könnte eine typische Pekinger Großmutter sein. Doch Enkel hat sie nicht. Vor 25 Jahren gehörte auch ihr damals 17-jähriger Sohn zu den Opfern des Massakers. Jiang Jielian war einer der Ersten, der starb. Auf dem breiten Boulevard, der direkt auf den Tian'anmen-Platz führt, wurde er von Soldaten der Volksbefreiungsarmee erschossen, als er in einem Blumenbeet Schutz suchte. Er verblutete auf dem Weg ins Krankenhaus und Ding Zilin, Professorin für Philosophie an der Volksuniversität Peking, verlor ihr einziges Kind. In ihrer Wohnung erinnert ein Gemälde an den jungen Mann. Es zeigt einen Jugendlichen mit dem roten Halstuch der jungen Pioniere. Daneben steht die Urne mit seiner Asche. Nur an diesem Schrein im Wohnzimmer darf die alte Dame offen um ihren Sohn trauern. Das aber will sie nicht hinnehmen. Seit Jahren kämpft sie darum, dass die chinesische Führung das Unrecht von damals als solches anerkennt. Vergebens.
"Seit 25 Jahren decken sie die Wahrheit mit ihren Lügen zu. Schon vor zehn Jahren haben wir unser Anliegen deutlich gemacht: die Wahrheit ans Licht bringen, gegen das Vergessen ankämpfen, Gerechtigkeit einfordern. Um diese drei Punkte geht es uns. Doch die Wahrheit fürchten die Behörden am meisten."
Kein Bedauern, keine Entschuldigung, keine öffentliche Untersuchung
Bis heute gab es vonseiten der Kommunistischen Partei für die Ereignisse vom 4. Juni 89 kein Wort des Bedauerns, keine Entschuldigung, keine öffentliche Untersuchung, nicht einmal eine Angabe über die genaue Zahl der Toten. Ding Zilin, Gründerin der Sammelbewegung Mütter des Tian'anmen, hat für ihre Suche nach Gerechtigkeit einen hohen Preis gezahlt. Als sie drei Jahre nach dem Tod ihres Sohnes ausländischen Medien erstmals ein Interview gab, wurde ihr die Lehrerlaubnis entzogen. Seit Jahren wird die alte Dame von der Polizei schikaniert, überwacht, verfolgt. In den chinesischen Medien wird sie tot geschwiegen. Im Internet ist ihr Name blockiert.
Dieses Jahr ist es besonders schlimm. Seit Wochen schon ist sie aus Peking verbannt. Sie und ihr schwer kranker Mann dürfen erst nach dem Jahrestag wieder zurück in ihre kleine Wohnung im sechsten Stock eines Hochhauses. Das Interview mit Ding – wie alle Interviews in dieser Sendung – hat das ARD-Hörfunkstudio bereits vor mehreren Monaten aufgezeichnet, als sich die Angehörigen der Opfer, die ehemaligen Protestler und Unterstützer, noch relativ frei bewegen durften.
Unter ihnen ist auch Huang Jinping. Sie lebt ebenfalls in einer kleinen Wohnung in einem schmucklosen Hochhausblock. Unter ihrem Bett hat die 51-Jährige einen alten Schuhkarton hervorgeholt. Sie sucht nach Kassetten, nach Audio-Aufnahmen, die ihr erster Mann Yang Yansheng damals auf dem Platz des Himmlischen Friedens gemacht hat.
"Mein Mann arbeitete damals für eine Sport-Zeitschrift. Er war ein sehr leidenschaftlicher junger Mann und fühlte sich von den protestierenden Studenten angezogen, hat schließlich mitgemacht. Er war von ihren Ideen überzeugt, es entsprach seinen Idealen, und deshalb hat er sich engagiert."
Die Aufnahmen von damals klingen heute wie aus einer anderen Welt. Mal sind die Studenten zu hören, Reden auf dem Platz, Forderungen nach Reformen, Freiheit und Mitbestimmung. Mal ist es Yang, Huangs Ehemann, der Gedichte rezitiert. Der Frühling werde kommen, deklamiert er voller Leidenschaft.
Studenten forderten Reformen, Freiheit und Mitbestimmung
Meine Hoffnungen auf die Zukunft, heißt es in dem Gedicht. Alles ist wunderschön, hell und voller Energie. Dass auch Yang den Militäreinsatz nicht überlebte, war ein tragischer Zufall. Er hatte in den frühen Morgenstunden des 4. Juni einer verletzten Frau helfen wollen, als er selbst von einer Kugel getroffen wurde. Die Erinnerungen machen Huang Jinping bis heute schwer zu schaffen:
"Für viele ist das ein Ereignis, das lange zurückliegt. Aber für Menschen wie mich ist es, als wäre das alles gestern passiert."
Ihre Geschichte hat Huang noch nie ausführlich erzählt. Während des Interviews bricht sie mehrfach weinend zusammen. Die Nerven liegen blank unter einer mühsam aufrecht erhaltenen Fassade der Normalität und des jahrelangen Schweigens. Selbst ihrem eigenen Sohn, der 1989 erst anderthalb Jahre alt war, hat Huang jahrelang verschwiegen, warum er ohne seinen leiblichen Vater aufwachsen musste. Sie wollte nicht, dass er durch die Verbindung zu den Protesten von damals Nachteile erleidet. Dabei ist das Trauma von 1989 für Huang immer noch präsent. Tagelang hatte sie damals in den heißen Juni-Tagen, begleitet von sporadischem Gewehrfeuer, in den Krankenhäusern der Stadt nach ihren Mann gesucht.
"An der Leichenhalle wollte man mich nicht durchlassen. Ich habe gebettelt, nach meinem Mann suchen zu dürfen; ich habe geweint und die Wachen angefleht. Ein älterer Mann hatte schließlich Erbarmen und hat mich rein gelassen. Drinnen waren mehrere Berge von Leichen zu sehen. Der Mann sagte, sie hätten die Toten dort aufschichten müssen, weil sie einfach keinen Platz mehr hatten."
Geschätzt werden Hunderte von Toten
Wie viele Menschen im Juni 89 entweder von Panzern überrollt oder von der Armee erschossen wurden, weiß bis heute vermutlich nur die Regierung. Die Zahl ist ein streng gehütetes Staatsgeheimnis. Die Mütter vom Tian'anmen haben die Namen von mehr als 200 Toten gesammelt. Schätzungen gehen von hunderten von Toten, vielleicht sogar von mehreren tausend aus. Darunter eben nicht nur protestierende Studenten, sondern auch viele Pekinger Bürger, die eher zufällig ins Kreuzfeuer der Soldaten geraten sind. Dass die Armee auf das eigene Volk schießen könnte, galt bis zum Juni 89 den meisten Chinesen als unvorstellbar.
"Wir waren mit dem Glauben groß geworden, dass die Soldaten der Volksbefreiungsarmee zu den besten Menschen gehören. Wie konnte es sein, dass diese Menschen auf Zivilisten, auf das eigene Volk schießen? Für uns war es unmöglich, das zu verstehen."
Der Platz des Himmlischen Friedens ist heute eine der großen Touristenattraktionen der Stadt. Jeden Tag kommen mehrere tausend Besucher – vor allem aus der chinesischen Provinz – nach Peking. Der Tian'anmen mit dem Mao-Mausoleum, der Großen Halle des Volkes und dem Mao-Porträt an der Nordseite ist das politische Zentrum Chinas. Auch hier darf nichts an die Ereignisse vom Juni 89 erinnern. Der Platz wimmelt deshalb nicht nur von Touristen, sondern auch von Sicherheitskräften in Zivil. Sie sollen verhindern, dass vom Tian'anmen jemals wieder eine Protestbewegung ausgeht. Jeder Papierschnipsel, der auf den Boden fällt, wird geprüft, ob sich dahinter nicht doch ein Flugblatt verbirgt.
Mehr noch – die Partei hat den Platz in den letzten 25 Jahren mehr und mehr für sich vereinnahmt: mit einer Flaggenzeremonie zum Sonnenaufgang, zu der die Nationalhymne gespielt wird und mit Kranzniederlegungen am Nationalfeiertag, zu denen die gesamte politische Führung antritt. Der Tian'anmen soll im öffentlichen Bewusstsein nicht mehr ein Platz des Protestes sein, sondern ein in Stein gemauertes Symbol des Patriotismus und der Macht der Kommunistischen Partei. Für Frauen wie Ding Zilin ist das schwer erträglich:
Das Ende aller Illusionen
"In den vergangenen 25 Jahren habe ich den Platz des Himmlischen Friedens kein einziges Mal betreten. Ich mag dort weder hingehen, noch mir den Platz anschauen. Wenn ich zum Bahnhof muss, mache ich um den Platz einen großen Bogen. Zum einen, weil mein Sohn auf der Straße des Himmlischen Friedens getötet wurde, aber auch weil bis heute das Porträt von Mao am Tian'anmen-Tor hängt. Für mich als Intellektuelle ist das nicht akzeptabel. Eines Tages wird das Porträt verschwinden. Vielleicht nicht mehr zu meinen Lebzeiten. Aber wenn ich zehn Jahre jünger wäre, hätte ich noch Hoffnung."
Ding Zilin war früher selbst Mitglied der Kommunistischen Partei. Heute betrachtet sie das als großen persönlichen Makel. So wie viele, die durch die Ereignisse von 89 politisiert und der KP entfremdet wurden. Die Partei habe damals ihr wahres Gesicht enthüllt. Es war das Ende aller Illusionen. Und nicht nur für Frau Ding: Jiang Qisheng beispielsweise war 1989 Doktorand in Philosophie und einer der Organisatoren eines Studenten-Komitees, das den Dialog mit der Parteiführung suchte. Die Forderungen von damals – nach mehr Mitbestimmung, mehr Demokratie, weniger Korruption und Vetternwirtschaft - seien heute genau so aktuell. Nur im Rückblick, sagt Jiang, seien er und seine Mitstreiter naiv gewesen:
"Intellektuelle und Studenten waren damals überzeugt davon, dass die Reformen vertieft werden müssen, dass die politischen Reformen mit den wirtschaftlichen Schritt halten müssen. Das war uns ein dringendes Anliegen. Aber anders als heute glaubten wir noch an die Kommunistische Partei. Wir dachten, die Reformen müssten von der Partei kommen; wir wollten von der Partei geführt werden, von der wir meinten, sie könne die Probleme lösen."
Forderungen von 89 heute noch aktuell
Heute sieht Jiang die Partei als das Hauptproblem, nicht als die Lösung. Doch auch er ist – wie Ding Zilin - ein einsamer Kritiker, der in China nicht gehört werden darf. Für seine Rolle bei den Studentenprotesten hat er zweieinhalb Jahre im Gefängnis verbracht. Und dann weitere vier Jahre, nachdem er am 10. Jahrestag versuchte, mit einem Flugblatt öffentlich an das Massaker zu erinnern.
Jobs bekommt er seitdem in China nicht mehr. Jiang schreibt Bücher, die im Ausland verlegt werden, und Artikel für chinesische Webseiten in Übersee. Zusammen mit seiner Frau lebt er abseits am Stadtrand von Peking in einer der vielen gesichtslosen, neuen Hochhaussiedlungen. Aber auch dort wird er, wie alle Studentenführer, die 1989 nicht ins Ausland flüchten konnten, rund um die Uhr überwacht.
Seinem Sohn ist eine Karriere im Öffentlichen Dienst oder in einem Staatsbetrieb verwehrt. Überwachungskameras beobachten, wer den Wohnblock betritt oder verlässt. Jiangs Telefon wird abgehört, seine Emails werden überwacht. Einen Reisepass verweigert man ihm seit Jahren. Trotzdem bleibt er unbeugsam.
"Das kommunistische System muss sich ändern. China hat keine andere Wahl, als das System zu ändern. Damals haben die Menschen ihren Wunsch nach Menschenrechten und Würde geäußert. Das war eine große Bedrohung für die Herrschenden. Sie hofften, dass der materielle Wohlstand die Menschen zufriedenstellen kann. Aber irgendwann funktioniert das nicht mehr, wenn die Widersprüche immer offener zutage treten. Warum beispielsweise gibt es so viel Korruption? Weil niemand die Menschen an der Macht kontrolliert."
Politisch herrschen Apathie und Angst
Jahrelang schien die Rechnung der KP aufzugehen. Nach den konterrevolutionären Aufständen – wie die Partei die Proteste von 1989 brandmarkte -, nach der politischen Eiszeit der frühen 90er-Jahre, schienen sich die Menschen in China in ihr Schicksal zu fügen und sich auf das wirtschaftliche Fortkommen zu konzentrieren – auf den eigenen Wohlstand. Der Appetit auf den großen Protest war den Menschen vergangen.
Politisch herrscht seitdem Apathie und Angst, denn jeder weiß, wie hoch der Preis ist für Engagement oder Protest: Sei es Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, der 1989 geholfen hatte, ein noch größeres Blutbad auf dem Tian'anmen zu verhindern und der wegen der Charta 08 für mehr Demokratie und Menschenrechte derzeit eine 11-jährige Haftstrafe absitzt. Oder Xu Zhiyong, der aus den Untertanen der Partei mündige Bürger machen wollte, aus Wanderarbeiterkindern junge Menschen mit dem Recht auf eine gleichwertige Bildung – und der im Januar für vier Jahre im Gefängnis landete. Und der ehemalige Tian'anmen-Aktivist und Menschenrechtsanwalt Pu Zhiqiang, der vor wenigen Wochen verhaftet wurde. Oder auch Sacharov-Preisträger Hu Jia, der zwar vielen mit seinem Aktionismus auf die Nerven geht, aber dennoch immer weitermacht:
"Die Unterdrückung ist extrem. Jeder Bürgerrechtler weiß, dass er jederzeit verhaftet werden kann. Die Regierung erlaubt keinerlei Form der organisierten Opposition – weder dürfen sich Opfer von Landenteignungen zusammenschließen noch gibt es freie Gewerkschaften. Sie wissen genau, wie sie jeden Bürger isolieren können, sodass sie sich nicht zusammenschließen können."
Hu Jia war 1989 gerade mal 15 Jahr alt und in der Mittelschule. Aber auch ihn haben die Ereignisse auf dem Tian'anmen geprägt und ihn zum Dissidenten gemacht. Er steht regelmäßig unter Hausarrest, war lange inhaftiert und ist ebenfalls zum Jahrestag am 4. Juni zum Schweigen verurteilt worden.
"Nach dem 4. Juni 89 hat die Partei die Umbrüche in Osteuropa gesehen, in Deutschland, aber auch in Polen, Ungarn, der damaligen Tschechoslowakei und der früheren Sowjetunion. Und dann kam 2011 der Arabische Frühling. All das hat die Partei genau studiert. Sie hat dabei nicht nur gelernt, wie man Krisen vermeidet, sondern auch wie man sie unterdrückt, noch bevor sie ausbrechen."
"Die Unterdrückung ist extrem"
Aber der Preis dafür ist hoch: China gibt heute mehr für die innere Sicherheit aus als für die Landesverteidigung. Der Zensurapparat muss im Zuge der Internetrevolution immer neue Herausforderungen bewältigen. Die Führung gerät in immer neue, größere Widersprüche in der Gesellschaft, die viel krasser als 1989 zutage treten: wie die Korruption, die vor 25 Jahren die Studenten auf die Straße trieb, sie hat inzwischen gigantische Ausmaße erreicht. Wie auch die Umweltverschmutzung oder die soziale Ungleichheit.
Es stellt sich die Frage, ob das hierarchische, intransparente Einparteiensystem überhaupt in der Lage ist, mit diesen Herausforderungen fertig zu werden. Nicht nur Jiang Qisheng ist davon überzeugt, dass die Partei nicht fähig ist, sich zu reformieren und freiwillig auf Macht zu verzichten. Der 4. Juni, Dreh- und Angelpunkt für das Verständnis des heutigen politischen China, hat Hoffnungen zerstört. Stattdessen hat sich Zynismus breit gemacht, blanker Materialismus, politische Apathie und Verbitterung:
"Natürlich ist es nicht so schlimm wie zu Maos Zeiten. Damals hätte man meine Frau gezwungen, sich von mir scheiden zu lassen. Damals musste man sich von jemandem trennen, der als konterrevolutionär galt. Heute sieht man das lockerer. Aber die Partei ist nicht besonders clever. Warum sieht sie nicht, welche Vorteile es hätte, wenn man sich der Welt öffnete?"
Korruption hat gigantische Ausmaße erreicht
Aber Jiang und alle anderen Mitstreiter von 1989 wissen auch die Antwort: weil die KP dann vermutlich irgendwann ihre Macht und ihre Privilegien verlieren würde.
In ihrer Dreizimmer-Wohnung sitzt die alte Frau Ding auf ihrem Stuhl am Fenster: das Bild ihres toten Sohnes und die Urne mit seiner Asche im Blick. Nach Jahren des Kampfes um Gerechtigkeit ist sie müde – und doch immer noch kämpferisch. Die Leitung der Gruppe der Tian'anmen-Mütter hat sie vor wenigen Monaten an eine jüngere Frau abgegeben. Das Wissen, dass ihre Arbeit weitergeführt wird, gibt ihr ein bisschen Trost:
"Wenn die Vorfälle vom 4. Juni vernünftig aufgeklärt werden könnten, wäre das ein großer Fortschritt für die Demokratie in China. Die Tragödie hatte ihre Ursachen im System, deshalb kann sie auch nur durch eine schrittweise Änderung des Systems überwunden werden. Ich werde dieses Jahr 78 und werde weiter für Aufklärung kämpfen. Ich kann nur ohne Reue sterben, wenn ich Gerechtigkeit für meinen Sohn bekomme."
Auf dem Friedhof Wan'an, dem Ort des zehntausendfachen Friedens, beobachten die Sicherheitskräfte misstrauisch die Besucher an den Gräbern. "Er war unser Hoffnungsstern, der vom Himmel fiel", heißt es auf einem Grabstein mit dem Sterbedatum 3. Juni 89. "So ein kurzes Leben." Angesichts der Verhaftungswelle der letzten Wochen ist es unwahrscheinlich, dass die Behörden die Ereignisse von damals zu Lebzeiten von Ding Zilin doch noch aufklären, Schuldige benennen oder selbst Schuld eingestehen. Für die Mütter vom Tian'anmen bleibt weiter nur das bleierne Schweigen und das verzweifelte Wissen darum, dass der sinnlose Tod ihrer Kinder vor 25 Jahren ungesühnt bleibt und – nach dem Willen der KP – möglichst vergessen werden soll.