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Massenfach mit Orchideencharakter

Rund 600 Teilnehmer hören beim Germanistentag 2013 in Kiel Vorträge zu aktuellen Themen der deutschen Sprache und Literatur. Vor allem aber diskutieren sie die Frage, wie die Germanistik im 21. Jahrhundert in Forschung, Studium, Schule und Gesellschaft aufgestellt ist.

Von Dietrich Mohaupt |
    Auf mehr als 20 Seiten hat der Deutsche Germanistenverband seine Grundpositionen zum Thema "Germanistik und Deutschunterricht" beschrieben – gemeinsam haben die beiden Teilverbände "Hochschulgermanistik" und "Deutschlehrer" daran gearbeitet, in Kiel ist dieses Positionspapier Grundlage für viele Diskussionen in Workshops, Seminaren und Vorträgen. Eine Fragestellung dabei: "Lesen wir aneinander vorbei?"

    "Also wir wissen ja, dass Schülerinnen und Schüler durchaus Texte lesen - aber das nicht immer die Texte sind, die auch im Deutschunterricht zum mittelbaren Kanon gehören. Und bei den Studierenden ist das ähnlich: Wir wissen, dass Studierende in ihrer Freizeit sehr viele Texte lesen – dass das aber eben nicht immer die Texte sind, die im Germanistikstudium gelesen werden sollen. Und hier müssen wir, glaube ich, durchaus auch mal die Texte Wahrnehmen, die in der Freizeit gelesen werden, und wiederum die anderen Texte, die gelesen werden sollen, uns noch einmal daraufhin anschauen, inwiefern sie exemplarisches Lernen eben befördern."

    Als konkretes Beispiel nennt der Vorsitzende der Gesellschaft für Hochschulgermanistik, Prof. Dr. Jörg Kilian, Schillers "Maria Stuart" – sicher nicht gerade typische Freizeitliteratur.

    "Wir sehen aber, dass dieser Text gerade für Strukturen des geschlossenen Dramas und für das Kennenlernen eine hohe Bedeutsamkeit hat – ganz abgesehen davon eben für die Klassik eine hohe Bedeutsamkeit hat. Aus diesem Grund gehört der Text eben zu dem, was wir wohl "Kanon" nennen dürfen. Zum anderen gibt es aber eben auch Texte, die noch keine Rolle spielen im Studium und auch in der Schule – die aber gleichwohl exemplarischen Charakter haben können und auch zur Weltliteratur zählen. Denken Sie zum Beispiel an die Literatur Astrid Lindgrens - das ist Weltliteratur, spielt aber eigentlich kaum eine Rolle."

    Selbstverständlich sind Klassiker in gewissem Maße unverzichtbar als Lesestoff auch im Deutschunterricht an den Schulen, pflichtet Dr. Gisela Beste bei. Sie steht als Vorsitzende des Fachverbandes Deutsch im Germanistenverband für die Deutschlehrer – und kennt das Dilemma genau: Standards müssen sein, aber …

    "Wir wissen ja aus der PISA-Studie, dass die Lesemotivation ganz entscheidender Faktor auch für das Lesenkönnen, die Lesekompetenz. Dass heute alle Schülerinnen und Schüler ein Werk gemeinsam lesen, das kommt, es ist auch wichtig, aber für die Lesemotivation ist es auch wichtig, dass die individuelle Auswahl ermöglicht und gestützt wird."

    Der individuelle Blick auf den einzelnen Schüler dürfe aber nicht den generellen Blick auf die Anforderungen eines möglichen weiteren Bildungswegs, zum Beispiel auch an der Hochschule, verstellen fordert Gisela Beste weiter. Deshalb müsse ein gewisses Leistungsniveau immer angestrebt werden.

    "Wir haben leider die Situation, dass in manchen Schulformen die Lehrerinnen und Lehrer unterfordern – wahrscheinlich aus der besten Absicht heraus, alle Schülerinnen und Schüler mitzunehmen. Aber wir wissen aus verschiedenen Studien, dass das den Schülerinnen und Schülern gar nicht so gut tut, wenn sie unterfordert werden – also hohe Anforderungen stellen ist wichtig."

    Und genauso wichtig ist es zu akzeptieren, dass die Germanistik als Fach in Forschung, Studium, Schule und Gesellschaft sich den rasanten Veränderungen der vergangenen Jahre und vor allem den weiteren zu erwartenden Entwicklungen anpassen muss. Da immer mit zu halten, das ist für manch einen Professor "alten Schlages" wie Gerhard Aust - bis vor Kurzem noch Sprachwissenschaftler an der Uni Gießen - nicht ganz leicht, aber unabdingbar.
    "Wir kommen jetzt vom Gutenbergzeitalter, das von 1500 bis jetzt gedauert hat – spätere Geschichtsschreiber werden mal sagen, dass ab dieser Zeit das Medienzeitalter beginnt. Zum Beispiel: Es gibt einen neuen gedruckten Duden – und dieser neue gedruckte Duden hat überhaupt nicht diese Absatzzahlen wie früher die Duden, weil die Leute eben "googeln" oder sie haben ein Rechtschreibkontrollprogramm. Der Brockhaus wird nicht mehr neu als Buch aufgelegt, weil man heute eben Informationen sich über neue Systeme verschafft."