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Massenproteste und Intrigen

Seit einer Woche das gleiche Bild: Jeden Tag versammeln sich Tausende Menschen in Sofia und anderen Städten, um den Rücktritt von Plamen Orescharski zu fordern. Es ist ein Ansehensverlust im Rekordtempo: Erst vor drei Wochen hatte er die Regierungsgeschäfte übernommen.

Von Tim Gerrit Köhler | 21.06.2013
    Doch in dieser kurzen Zeit schaffte er es, große Teile der Bevölkerung gegen sich aufzubringen. Vor der Wahl genoss er einen untadeligen Ruf als Finanzfachmann – nun sehen viele Bürger in ihm und seiner Regierung nur noch Marionetten, die nach dem Wunsch von Oligarchen handeln, sagt die Politologin Antoaneta Zonewa:

    "Die Politiker weigern sich, das zu verstehen. Die Menschen geben ihnen nicht nur ein Zeichen, sondern eine klare Ohrfeige. Wenn man sich vom Volk abkoppelt und kein Feedback mehr annimmt, dann wird man eben bestraft."

    Den ersten Fehler beging Orescharski direkt nach der Wahl – er kassierte einen Großteil seiner Versprechen gleich wieder ein. Ein Kassensturz habe ergeben, dass kein Spielraum existiere für eine Anhebung des Mindestlohns, Zuschüsse für Schulkinder oder mehr Mutterschaftsgeld. Eine gewagte Aktion, wenn man bedenkt, dass die Vorgängerregierung im Februar nach tagelangen Protesten gegen die soziale Ungerechtigkeit hatte zurücktreten müssen. Vor einer Woche dann der nächste gravierende Fehler: In einer Eilabstimmung ließ er das Parlament einen neuen Chef für den bulgarischen Geheimdienst abnicken – einen Medienmogul mit angeblich besten Mafia-Kontakten. Sofort kam es zu Demonstrationen:

    "Die Menschen gehen auf die Straße, weil sich die politische Elite weigert, das Rückgrat der organisierten Kriminalität zu brechen. Diese Entscheidung hat gezeigt, dass die Regierung offenbar von außen gesteuert ist."

    Der Druck der Straße zeigte Wirkung: Der Geschäftsmann verzichtete auf den Posten, vorgestern nahm das Parlament die Nominierung offiziell zurück, Ministerpräsident Orescharski entschuldigte sich. Zurücktreten will er aber nicht:

    "Mir ist bewusst, dass mir viele Menschen nicht vertrauen, weil sie glauben, ich würde nicht selbstständig und unabhängig Politik machen. Aber für mich stellt sich die Frage nach einem Rücktritt nicht, auch wenn der Kreis der Leute, die mir nicht vertrauen, in den letzten Tagen größer geworden ist."

    Orescharski ist nicht der einzige Politiker, der momentan mit einem rapiden Ansehensverlust zu kämpfen hat. Auch Sergej Stanischew, Vorsitzender der regierenden Sozialisten, muss um sein Amt fürchten. Große Teile der Partei haben sich von ihm abgewendet, weil sie ihm Mauscheleien mit dem kleineren Koalitionspartner, der Partei der türkischen Minderheit, vorwerfen. Stanischew, der auch die Sozialdemokratische Partei Europas führt, erklärte sich inzwischen bereit, die Vertrauensfrage zu stellen.

    Vertrauen ist insgesamt rar geworden in Bulgarien, das innenpolitische Klima ist vergiftet. Ex-Premier Bojko Borissow sieht sich von einem Mordkomplott bedroht. Die radikale Rechte wirft Präsident Rossen Plewneliew Offshore-Konten vor. Die türkische Minderheit und ihre politischen Vertreter sehen sich Anfeindungen ausgesetzt. Da verwundert es nicht, dass immer mehr Bürger die Nase voll haben von Streit, Intrigen und Vetternwirtschaft. Zu sehen ist das derzeit jeden Tag auf den Straßen von Sofia, Plowdiw und Blagoewgrad.

    Neuwahlen, wie sie die Demonstranten fordern, sieht Alexander Kaschamow dennoch als falschen Weg. Er arbeitet für eine Nichtregierungsorganisation, die sich für mehr Transparenz einsetzt.

    "Dieses Parlament ist noch nicht am Ende seines Weges. Sobald wie möglich sollten die Abgeordneten beginnen, sinnvolle Gesetze zu schaffen, und zwar transparent und nach einer öffentlichen Diskussion. So können Gesetze verabschiedet werden, bei denen auch die Bürger beteiligt sind."

    Ob diese Bürger aber überhaupt noch so viel Geduld aufbringen wollen, das scheint derzeit äußerst fraglich.