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Materialforschung
Stabiles Glas dank Muscheltrick

Kanadische Forscher haben ein bruchsicheres Glas entwickelt und dabei Muscheln als Vorbild genommen. Auch deren Schalen bestehen aus einem brüchigem Baustoff. Erst eine besondere Mikrostruktur macht die Muschelschale robust.

Von Frank Grotelüschen | 29.01.2014
    Die Party ist in vollem Gange, die Stimmung bestens - doch plötzlich fällt ein Glas zu Boden. Peinliches Schweigen, der Gastgeber sucht hektisch nach dem Kehrblech, um die Scherben wegzufegen. Dass Glas so zerbrechlich ist, hat seinen Grund: Physikalisch gesehen ist es eine eingefrorene Flüssigkeit. Und zwar so schnell gefroren, dass den Atomen einfach nicht genug Zeit bleibt, sich zu einem regelmäßigen Kristall zusammenzufinden, sagt Francois Barthelat, Ingenieur an der McGill-Universität in Montreal:
    "Glas ist ein sehr ungeordnetes Material. Im Gegensatz zu einem Kristall sind die Atome nicht als Gitter angeordnet, sondern wild durcheinander gewürfelt. In so einem Material gibt es keinen Mechanismus, der einen Riss daran hindert, sich auszubreiten. Risse können sich also in Glas sehr gut fortbewegen. Und deswegen zerbricht ein Glas so leicht, wenn wir es fallen lassen."
    Wie könnte man diese Rissbildung eindämmen und damit das Glas stabiler machen? Den entscheidenden Hinweis lieferte die Natur - genauer gesagt die mikroskopische Struktur von Perlmutt, der innersten Schicht von Muschel- und Schneckenschalen. Es besteht zu 95 Prozent aus Kalziumkarbonat, einem überaus brüchigen Mineral. Dennoch ist Perlmutt alles andere als zerbrechlich.
    "Die Schale ist 3000 Mal robuster als das Mineral, aus dem sie besteht. Um den Grund dafür zu finden, haben wir die Struktur von Perlmutt genau erforscht, haben Belastungstests gemacht und dabei unzählige Muschelschalen zerbrochen. Unsere Erkenntnisse konnten wir nun auf Glas übertragen. Und man kann sagen: Wir hatten Erfolg."
    Protein als Riss-Stopper
    Der Grund für die Stabilität von Perlmutt: Es ist von dünnen Protein-Schichten durchzogen. Diese Schichten fungieren buchstäblich als Riss-Stopper: Sie nehmen einen Riss auf und absorbieren ihn, sodass er sich nicht weiter ausbreiten kann. Barthelat und seine Leute haben nun eine ähnliche Methode für Glas entwickelt:
    "Wir bündeln Laserstrahlen ins Glas hinein. Dadurch entstehen in seinem Inneren winzige Defekte, kleine Hohlräume. Dabei können wir unsere Laser so genau steuern, dass wir gezielt Muster ins Glas eingravieren, zum Beispiel Schlangenlinien. Fällt dieses Glas nun herunter, kann sich der dabei entstehende Riss nicht mehr frei ausbreiten, sondern verläuft gezielt entlang der Schlangenlinien - und verliert dabei schnell an Energie."
    Zusätzlich füllten die Forscher die Hohlräume noch mit einem durchsichtigen Kunststoff. Das Resultat: Das Glas war 200 Mal stabiler als zuvor und ließ sich sogar verbiegen, ohne dabei zu zerbrechen. Jetzt versuchen die Kanadier, noch kleinere Hohlräume ins Glas zu gravieren und es dadurch noch stabiler zu machen. Eine Anwendung hat François Barthelat bereits im Blick:
    "Wir denken da an Schutzbrillen. Die bestehen heute meist aus dem Kunststoff Polycarbonat. Der aber ist lichtempfindlich und damit nicht so haltbar wie Glas. Mit unserer Technik könnte man Glas herstellen, das so stabil ist, dass es sich für Schutzbrillen eignet. Grundsätzlich würde unser Material für alle Anwendungen taugen, für die Glas normalerweise zu spröde ist."
    Auch Trinkgläser sollten sich also mit der neuen Methode fertigen lassen. Fällt dann einem Partygast das Weinglas aus der Hand müsste niemand mehr die Scherben zusammenfegen, das Glas bliebe schlicht heil. Peinliches Schweigen gäbe es nur, wenn im Superglas ausgerechnet Rotwein war, der im Teppich des Gastgebers für neue Farbakzente sorgt.