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Mauerfall ein "Weltenumbruch"

Der Dresdener Schriftsteller Ingo Schulze hält die Erinnerung an den Mauerfall am 9. November 1989 nach wie vor für lohnenswert. Das Ereignis sei einem "Weltenumbruch" gleich gekommen. Für die Menschen im Osten war danach "alles anders". Schulzes neuer Roman "Adam und Evelyn" zeichnet den Weg eine Liebespaares in der rastlosen Wendezeit nach.

Ingo Schulze im Gespräch mit Jasper Barenberg | 08.11.2008
    Jasper Barenberg: Fast 19 Jahre liegen diese Ereignisse inzwischen zurück und jeder von uns erinnert sich wohl daran, wo und wie man diesen Moment erlebt hat und diese Tage, an die Demonstrationen in Leipzig und anderswo, an den Abend, als die Mauer sich öffnete, als sie Begann, die Implosion der DDR. Wie steht es heute um die Erinnerung daran? Darüber wollen wir jetzt mit dem Schriftsteller Ingo Schulze sprechen, geboren in Dresden und damals noch keine 30 Jahre alt. Einen schönen guten Morgen.

    Ingo Schulze: Guten Morgen.

    Barenberg: Herr Schulze, lohnt es sich denn, über den Mauerfall zu sprechen, über das, was die DDR war und über die Erinnerung daran?

    Schulze: Oh doch, ich denke, das lohnt sich schon. Ich meine, unser Heute, das hat ja sehr viel mit den Fragen zu tun, wo wir herkommen, und Erinnerung und Selbstbewusstsein, das ist ja doch miteinander verbunden.

    Barenberg: Sie haben gerade mit "Adam und Evelyn" einen Roman veröffentlicht, einen Roman, eine Geschichte, die in den Jahren der sogenannten Wende spielt. Schildern Sie uns ein bisschen, wenn Sie mögen, warum Sie diesen Zeitabschnitt gewählt haben. Was hat Sie historisch an diesem Zeitabschnitt interessiert?

    Schulze: Na ja, es sind halt wirklich ein paar Wochen, in denen ein Weltenumbruch sich vollzieht, also innerhalb weniger Wochen wird für diejenigen im Osten erst mal alles anders, aber, wie sich dann rausstellt, nicht nur für die im Osten, sondern eigentlich letztlich für die ganze Welt. Das ist die Zäsur, der Schnitt in der Geschichte, in der die Nachkriegsordnung dann zu Ende geht und etwas Neues beginnt, obwohl wir eigentlich immer noch so ein bisschen dabei sind, herauszufinden, was das eigentlich ist. Und in dem Moment, wo zwei Gesellschaftsordnungen so unmittelbar aufeinander prallen, erkennt man sowohl die eine als auch die andere besser. Es ist immer besser, wenn man einen Vergleich hat. Und in dem Buch ging es mir eigentlich auch darum: Wie sieht der Westen aus, aus dieser östlichen Erfahrung? Diese ganzen Hoffnungen, diese ganzen Erwartungen. Und das, denke ich, erzählt natürlich auch eine ganze Menge über den Westen. Und 1989, das zu zeigen war mir auch wichtig, war ja nicht nur eine Zeit von Hoffnungen, sondern da gab es auch wirklich Chancen. Eine Figur in dem Buch sagt, die Evelyn, es wäre doch absurd, wenn jetzt alles so bliebe, wie es bisher gewesen ist. Und das war, glaube ich, eine Hoffnung, die vielleicht nicht nur der Osten hatte.

    Barenberg: Was ist denn aus diesen Hoffnungen, was ist aus den Chancen geworden? Gibt es Enttäuschungen? Nehmen Sie Enttäuschungen heute wahr in den neuen Bundesländern?

    Schulze: Na ja, das ist natürlich ein langes Thema. Erst mal ist es natürlich wunderbar, dass diese Mauer weg ist, dass diese zwei Blöcke weg sind, und dann kam sozusagen der Alltag. Den muss man halt beschreiben als einen Wechsel von Abhängigkeiten. Gerade im Osten war man auf ideologische Abhängigkeiten bis ins Feinste vorbereitet, aber völlig unerfahren mit ökonomischen Abhängigkeiten. Man musste sozusagen von heute auf morgen ein ganz anderes Spiel lernen, man war mit einem ganz anderen Spiel aufgewachsen. Und das hat natürlich Zeit gebraucht und natürlich gibt es da Glück und Enttäuschung, das ist beides natürlich zusammen. Ich glaube, dass es ein vereintes Deutschland gibt, es ist ein großes Glück, dass einfach auch diese Konfrontationsstellung dieser Systeme aufgehört hat, aber mein Problem ist eigentlich gar nicht so sehr dieses Verschwinden des Ostens, sondern das Verschwinden des Westens, also eines Westens mit menschlichem Antlitz. Der Westen war ja, und das wissen Sie ja besser als ich, 1989 noch ein anderer Westen als der, der es heute ist.

    Barenberg: Ich habe in der Vorbereitung auf unser Gespräch über Sie gelesen, dass Sie es Leid sind, beim Thema DDR immer am Anfang sagen zu müssen, dass die DDR eine Diktatur gewesen sei, dass man die Diktatur natürlich nicht zurückhaben möchte. Gibt es in dieser ganzen Debatte, wenn wir uns über den Blick zurück unterhalten, gibt es da aus Ihrer Sicht falsche politische Zwänge, gibt es Hürden dafür, dass man sich nicht ehrlich austauschen kann, im Blick zurück?

    Schulze: Ich denke schon, dass man sich ehrlich austauschen kann. Aber es ist für mich schon verwunderlich, wie Ost und West heute fast mehr denn je im Raum steht oder sagen wir mal, manchmal spielt es eine ganz große Rolle, bei bestimmten Dingen spielt es dann erst mal gar nicht so eine Rolle, aber, ich meine, man merkt es schon, dass einem dann so oft der Vorwurf gemacht wird: "Ach, na ja, aber bei Ihnen erscheint ja der Osten idyllisch." Dann fange ich an, aufzuzählen, dass ja eigentlich all das, was, all diese Bedrückungen sind drin in dem Buch und dann kommt: "Na ja, aber trotzdem." Und dann merke ich halt, dass das eine Schwierigkeit ist mit diesem Vergleichen, ein Riesennachteil der DDR war, dass man nicht vergleichen konnte. Man konnte sich also auch quasi gar nicht für sie entscheiden, weil es gar keine Wahlsituation gab. Und im Nachhinein merkt man jetzt natürlich auch mit ganz anderen Erfahrungen, die man damals gar nicht haben konnte, dass es Freiräume gab bis hin zu Freiheiten, die wir damals gar nicht als Freiräume oder Freiheiten empfunden haben. Ich habe beispielsweise mit 28 Jahren, also im Sommer 1990, zum ersten Mal überhaupt über Geld nachgedacht. Bei der Berufswahl spielte Geld keine Rolle, weil alle mehr oder minder dasselbe verdienten. Und so was prägt natürlich jemanden.

    Barenberg: Es ist ja viel die Rede davon, dass es eine Ostalgie gerade unter jungen Leuten gibt. Stimmt diese Beobachtung, wenn Sie sich umschauen, wenn Sie unterwegs sind?

    Schulze: Meiner Meinung nach stimmt das nicht. Es gibt so einen Hang, sagen wir mal, wenn man ab Mitte 30, da sehnt man sich irgendwie zu bestimmten Sachen zurück, die gibt es ja im Westen genauso, Stichwort Generation Golf oder so. Ich denke, dass das jetzt keine Sache des Ostens ist beziehungsweise das haben ja die Wenigsten, ich meine, wer 20 ist, der weiß ja gar nichts mehr aus eigener Erfahrung von der DDR. Da bin ich skeptisch. Aber was für mich eben rückblickend wichtig ist und das würde ich schon gerne sagen, wenn wir über den 9. November sprechen: Den 9. November hätte es eben nicht gegeben ohne den 9. Oktober. Das war also der erste Montag nach dem 7. Oktober, nach dem 40. Jahrestag der DDR. Und das war eigentlich der Kipppunkt in diesem Herbst 1989. Diese Revolution, diese Demonstration in Leipzig gelang an diesem Montag, dem 9. Oktober. Das war der Kipppunkt der ganzen Sache. Von da an wurde es auch tatsächlich friedlich, von da an war alles anders. Und ich denke eben oft, dass man, wenn man gerade über Nationalfeiertag spricht, wenn man über Erinnerung spricht, dass man gerade eben sich an solche Dinge erinnern müsste, dass es dann der Osten ja doch aus eigener Kraft geschafft hat, mit einer friedlichen Revolution dieses System beiseite zu schieben. Und das ist ja in der deutschen Geschichte wirklich sehr selten passiert.

    Barenberg: Erinnerungen und Einschätzungen von Ingo Schulze, dem Schriftsteller, fast 19 Jahre nach dem Fall der Mauer. Vielen Dank, Herr Schulze, für dieses Gespräch.