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Max Mannheimer
Weiterleben im Land der Täter

Der Großteil seiner Familie wurde ermordet, er selbst ging durch die Höllen von Theresienstadt und Auschwitz. Vor einigen Jahren schrieb der nun verstorbene Maler Max Mannheimer seine Lebensgeschichte auf. Seine Schilderungen der Nachkriegszeit sind ein beeindruckendes Zeugnis für das Verhältnis von Deutschen und Juden.

Von Martin Hubert | 26.09.2016
    Max Mannheimers Erinnerungen verdichten erzählerisch, was der Holocaust auch persönlich bedeutete.
    Max Mannheimers Erinnerungen verdichten erzählerisch, was der Holocaust auch persönlich bedeutete. (dpa/picture-alliance/Andreas Gebert)
    Ich kann nicht hassen, schreibt Max Mannheimer am Ende seiner Erinnerungen. Angesichts dessen, was der Leser bis dahin über sein Leben vor, während und nach dem Holocaust erfahren hat, ist das kaum zu begreifen. Aber das Buch des jüdischen Malers und Autors Max Mannheimer schildert tatsächlich den Versuch, trotz aller Umstände so normal und menschenfreundlich wie möglich zu bleiben - und dessen Schicksal. Relativ normal schien dieses jüdische Leben zunächst zu beginnen.1920 wurde Max Mannheimer als ältester Sohn eines jüdischen Kaufmanns im tschechischen Nordmähren geboren. Zwar lebte die jüdische Gemeinde einigermaßen für sich, aber relativ ungefährdet. Der Vater spielte gerne Karten im Gasthof, Sohn Max interessierte sich für Autos, Mädchen und Fußball und begann eine Lehre. Was im Deutschen Reich geschah, schien weit weg zu sein.

    "Ich war dreizehn, als Hitler an die Macht kam: zwar las ich damals schon jeden Tag die Zeitung; aber ich konzentrierte mich dabei auf den Sport und bekam von der Politik allenfalls die Schlagzeilen mit. Zu Hause wurde über Politik nicht gesprochen. Vorläufig also ging das Leben seinen gewohnten Gang."

    Aber schrittweise zog das Verhängnis in das normale Leben ein. Der Vater glaubte fest daran, dass alles nicht so schlimm werden würde und wanderte nicht aus. Doch dann rückten die Deutschen im März 1939 in Mähren ein. Plötzlich hingen überall schwarz-weiß-rote Fahnen, die Menschen veränderten sich, erinnert sich der 92-Jährige:

    "Wie zum Beispiel der Frisör. Als ich nach der Besetzung durch die Deutschen eines Tages in seinen Laden kam, drückte er mir die antisemitische Wochenzeitung "Der Stürmer" in die Hand, die auf der Titelseite die hässliche Karikatur eines Juden veröffentlicht hatte, und fragte: 'Na was sagst du dazu?' Was sollte ich dazu sagen? 'Natürlich ist die Herrenrasse schöner', antwortete ich. Die Uniformen, die plötzlich das Straßenbild bestimmten, müssen eine so große Wirkung auf ihn gehabt haben, dass er kurz darauf seinen Beruf wechselte und Polizist wurde."
    Wie nationalsozialistische Gewalt Menschen korrumpierte
    Das Buch zeigt in solchen Szenen anschaulich, wie die nationalsozialistische Gewalt Menschen korrumpierte, Ressentiments enthemmte und moralische Werte desavouierte. Der väterliche Besitz wurde enteignet, Gerüchte von Konzentrationslagern tauchten auf, keiner half. Schließlich wurde die ganze Familie nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Mit seinem jüngeren Bruder Edi durchlebte Max Mannheimer anschließend noch die Hölle der KZs von Warschau und Dachau. Alle anderen Familienmitglieder wurden Anfang 1943 in Auschwitz ermordet.

    "Unsere Ängste teilten wir nicht. Damit versuchten wir alleine fertig zu werden. Ich betete still für mich. Die Tränen liefen mir übers Gesicht. In weinte unhörbar. Um meine Eltern. Um meine Geschwister, Erich und Käthe. Um meine Frau. Und um meine Hoffnungen."

    Mit seiner Co-Autorin, der freien Journalistin Marie-Luise von der Leyen, vermittelt Max Mannheimer auch historische Fakten. Sie informieren über die Reichspogromnacht, die Wannseekonferenz, über Organisation und Funktion der einzelnen KZs, die Zahl der Ermordeten und über die Firmen, die mit der Arbeit der KZ-Häftlinge Geschäfte machten. Es sind keine neuen Fakten, aber sie genügen, um die Hintergründe dieses Lebensberichtes zu verstehen. Die persönliche Erfahrung bleibt weiterhin das Zentrum dieses Buches: Wie Max Mannheimer und sein Bruder unter der brutalen Wachmannschaft litten und wie das Morden alle Realität durchdrang.

    "Zu meiner Arbeit in der Schreibstube gehörte unter anderem die Vorbereitung von Paketen mit den sterblichen Überresten arischer Toter. Zu diesem Zweck stand eine Holzkiste in einer Ecke des Büros, die mit Asche vom Verbrennungsplatz gefüllt war. Bei entsprechender Anfrage füllte ich ein paar kleine Schaufeln davon in ein Sperrholzkästchen, das die Lagerleitung dann verschickte. Dass es sich nicht um die individuelle Asche ihres Toten handelte, erfuhren die Angehörigen natürlich nicht. Dieses zweifelhafte Privileg bezog sich nur auf die arischen Familien. Aber jüdische Familien, an die man hätte Pakete schicken können, gab es in Europa ja ohnehin kaum mehr."
    Mit viel Glück überlebte Mannheimer die Nazis
    Mit Glück und der Hilfe seines Bruders überlebte Max Mannheimer mehrere Krankheiten und brenzlige Situationen und wurde schließlich 1945 von amerikanischen Truppen befreit. Er kehrte zunächst ins heimatliche Mähren zurück, schwor sich, nie wieder in das Land der Täter zurück zu kehren. 1946 tat er es doch, aus Liebe zu der deutschen Sozialdemokratin Fritzi Eiselt, die er bald darauf heiratete. Nun begann sein drittes Leben, der Versuch, wieder eine normale Existenz aufzubauen. Aber die Anstrengung, im Land der Täter heimisch zu werden, stieß von Anfang an Grenzen. Die am Wiederaufbau arbeitenden Deutschen schienen an der Vergangenheit nicht interessiert, konstatiert Mannheimer.
    "Zuweilen sprach ich mit ehemaligen Mithäftlingen darüber. Da das Thema in der Familie und vor allem vor den Kindern nach wie vor tabu war, benutzten wir verschlüsselte Namen. Mein Sohn erinnert sich, dass wir des Öfteren über 'Onkel Adi' redeten, so nannten wir Hitler."

    Gerade die Nachkriegsschilderungen machen Max Mannheimers Erinnerungen zu einem beeindruckenden Zeugnis für das psychologische Verhältnis zwischen Deutschen und Juden. Sie zeigen, wie dem Schweigen und indirekten Sprechen der Täter auch ein Schweigen der Opfer entsprach. Die einen verdrängten die eigene Schuld und Verantwortung, die anderen ein Gefühl von Schuld und Verrat: die Scham gegenüber den Ermordeten, überlebt zu haben und nach Deutschland gegangen zu sein. Max Mannheimer plagten seit den 50er-Jahren zunehmend Albträume, Angstzustände und Depressionen. 1964 schrieb er erstmals seine Lagererinnerungen für die Tochter auf. Dann machte er eine Therapie und begann unter dem Pseudonym Ben Jakov expressiv-abstrakte Bilder zu malen. Schließlich engagierte er sich und erzählte seit den 1980er-Jahren Tausenden von Jugendlichen und Soldaten von seiner Vergangenheit.

    "Zum ersten Mal konnte ich plötzlich auch den Gedanken zulassen, dass die Erfahrung Auschwitz ein Schicksal ist, das kein normales Leben mehr erlaubt. Jedenfalls keines, das man führen kann, als hätte es den Holocaust nie gegeben. Es war Teil meiner Identität und würde es immer bleiben."

    Max Mannheimer kann nicht hassen, sein Ziel aber, ein normales Leben zu leben, blieb ihm verwehrt. Seine Erinnerungen verdichten erzählerisch, was der Holocaust auch in seinen Nachwirkungen persönlich bedeutet. Sie sind daher gerade auch für eine jüngere Generation von Lesern wertvoll, für die die NS- Zeit allmählich in eine abstrakte Ferne zu rücken droht.
    Marie-Luise von der Leyen/Max Mannheimer: "Drei Leben",
    Deutscher Taschenbuch Verlag, 216 Seiten, ISBN: 978-3-42324-953-9, 14,90 Euro