Wagener: Mazedonien hat sich trotzdem vor einigen Tagen beschwert. Diese Beschwerde ging jetzt nicht an die Bonner Adresse, aber an die internationale Staatengemeinschaft. Die Hilfe sei zu langsam gekommen und bis jetzt auch zu wenig. Was haben Sie ihm diesbezüglich geantwortet?
Schily: Ich habe darauf hingewiesen, daß einige Evakuierungsmaßnahmen oder Zusagen, die aus anderen europäischen Ländern gekommen sind, leider noch nicht erfüllt worden sind und ich mich auch noch einmal an meine europäischen Kollegen wenden werde, gerade an die Länder, die Zusagen gemacht haben, aber sie bisher noch nicht umgesetzt haben. Denn es reicht ja nicht, Angebote zur Aufnahme von Flüchtlingen zu machen, sondern man muß sich dann auch aktiv um die Evakuierung bemühen. Wir haben das ja sehr rasch getan. Wir haben Flugzeuge geschartert und ich habe BGS-Beamte in die dortige Region geschickt, und dadurch war es möglich, daß diese 10.000 Flüchtlinge relativ rasch nach Deutschland kamen. Ich habe übrigens jetzt vor, angesichts der sich doch weiter zuspitzenden Situation in Mazedonien meine Innenministerkollegen zu bitten, auch unser Kontingent noch einmal aufzustocken um weitere 10.000. Ich glaube, daß das nicht zu umgehen ist. Ich bemühe mich allerdings auch darum, daß auf der Grundlage meiner Gespräche in Tirana auch zur Entlastung von Mazedonien unter den besonderen politischen Bedingungen, die ich Ihnen genannt habe, Flüchtlinge aus Mazedonien noch in Albanien aufgenommen werden, obwohl in Albanien natürlich die Verhältnisse sehr schwierig sind mit jetzt immerhin 383.000. Dort gibt es diese politischen Rücksichtnahmen aber nicht, und in Albanien kommt es darauf an, daß alle humanitären Organisationen einschließlich der NATO-Streitkräfte, die sich dort befinden, kurzfristig die notwendigen Plätze bereitstellen, die für die Aufnahme von Flüchtlingen erforderlich sind. Auch das ist ein Punkt, um den ich mich noch zusätzlich kümmern werde.
Wagener: Herr Minister, Sie beschreiben ein Problem, das man etwa so charakterisieren könnte: Der Bund braucht die Länder, um ein Kontingent nach oben zu schrauben, aber die Länder pochen auf einen EU-Schlüssel, wie an diesem Wochenende noch einmal Edmund Stoiber, der bayerische Ministerpräsident, ganz deutlich sagte. Das geht zu Lasten der Mazedonier. Wie läßt sich dieses verkürzen?
Schily: Herr Stoiber sollte einmal in die Regierungszeit unter CDU/CSU-Führung zurückblicken. Dann weiß er doch sehr genau, daß eine Einigung unter den EU-Ländern auf einen Schlüssel nicht möglich ist. Immerhin übersieht Herr Stoiber aber, daß es mir ja gelungen ist, doch sehr viele europäische Staaten zu veranlassen, Flüchtlinge aufzunehmen. Inzwischen hat auch Frankreich 2.000 Vertriebene aufgenommen. Ich darf nur darauf hinweisen, daß ich sehr entschiedene Gespräche in diese Richtung in Paris mit meinem dortigen Kollegen Chevenement geführt habe. Ich darf darauf hinweisen, daß Polen jetzt über 1.000 Flüchtlinge aufnehmen wird. Auch darüber habe ich mit meinem dortigen Kollegen gesprochen. Ich habe mit anderen Ländern gesprochen. Österreich wird jetzt die Aufnahme beschleunigen. Die haben ein Kontingent von immerhin 5.000, was übrigens, wenn man es in Beziehung setzt zur Bevölkerungszahl, sehr viel großzügiger ausfällt als das, was wir bisher aufgenommen haben. Solche Bemerkungen von Herrn Stoiber sind im Moment wenig hilfreich. Ich muß dafür sorgen, daß schnell etwas geschieht. Ich muß mich um die Notlage der Menschen, die jetzt Hilfe brauchen, kümmern. Da muß ich das in Anspruch nehmen, was ich in Anspruch nehmen kann. Ich glaube, Deutschland wird nicht damit überfordert, wenn wir jetzt das Kontingent noch einmal auf 20.000 aufstocken.
Wagener: Wir hatten auf dem Höhepunkt des bosnischen Krieges fast 400.000 bosnische Flüchtlinge hier. Warum ist in Anbetracht dieser akuten Not in Albanien und Mazedonien und auch in anderen Anrainerstaaten es nicht möglich, auch annähernd ein größeres Kontingent vorübergehend hier aufzunehmen?
Schily: Das kann man nicht in Verhältnis setzen, denn wir haben in dieser Situation, glaube ich, mit Recht zugrundegelegt, daß der Grundsatz Hilfe vor Ort Vorrang haben muß. Das hat mehrere Gründe. Es ist für die Flüchtlinge im Prinzip besser, wenn sie in der Region bleiben, mit deren Kultur und Sprache sie vertraut sind. Vor allen Dingen ist aber wichtig, daß Milosevic nicht den Eindruck bekommt, die Vertreibung ist endgültig, so daß die Menschen, wenn sie dort in den Nachbarregionen sind, die Hoffnung und die Erwartung haben können, in kürzerer Frist auch wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können. Ich glaube, diese Gründe gelten nach wie vor. Wir sind uns auch in allen EU-Staaten, einschließlich der UNO-Flüchtlingskommissarin und der EU-Kommissarinnen gerade in dieser Frage völlig einig. Ich bin ja in engem Kontakt mit Frau Ogata. Wir können natürlich auf der anderen Seite auch nicht die Augen davor verschließen, wenn sich die Lage in Mazedonien zuspitzt und eine Destabilisierung dieses Landes droht, daß wir das dann einfach so geschehen lassen. Deshalb muß man auf die besondere Lage von Mazedonien Rücksicht nehmen und sich auch zu dieser Evakuierung entschließen.
Wagener: So weit Bundesinnenminister Otto Schily, mit dem wir nach seinem gestrigen Treffen mit dem mazedonischen Innenminister Pavle Trajanov in Bonn sprachen. Kurz nach dem Interview meldete sich noch einmal sein Büro mit der Information, daß Deutschland definitiv sein Kontingent für albanische Flüchtlinge aufstocken werde. Otto Schily hatte es im Interview, wie eben gehört, vorsichtig angedeutet. Gestern abend ließ er aber noch einmal ausdrücklich bestätigen, daß dem so sei. Die Größenordnung bleibt noch offen. Im Gespräch ist ein Kontingent bis 20.000, vornehmlich für Alte, Kranke und Kinder.