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75 Jahre "Der Spiegel"
"Sturmgeschütz" - auch in der digitalen Welt

In den zurückliegenden Jahrzehnten hat "Der Spiegel" viele Themen gesetzt und Skandale öffentlich gemacht - und so die deutsche Nachkriegsgeschichte mitgeprägt. Die Verantwortlichen fühlen sich immer noch den Leitsätzen von "Spiegel"-Gründer Augstein verpflichtet, der einst vom "Sturmgeschütz der Demokratie" sprach.

Von Daniel Bouhs | 04.01.2022
Verschiedene Ausgaben des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" liegen übereinander auf einem Tisch.
Seit 75 Jahren erscheint das wöchentliche Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" (picture alliance/dpa)
Wenn vom "Spiegel" die Rede ist, dann fällt meist die Formulierung: "Das Hamburger Nachrichtenmagazin...". Das stimmt auch - doch Rudolf Augstein legte in einer anderen Stadt los, in Hannover, seiner Heimat. In den ersten Jahren war das Magazin eines unter vielen. Das änderte sich schlagartig 1962. Damals gingen plötzlich Menschen für den "Spiegel" auf die Straße.
Die Redaktion, mittlerweile in Hamburg, deckte unter der Schlagzeile "Bedingt abwehrbereit" Interna der Bundeswehr auf. "Der Spiegel" wurde durchsucht, Herausgeber Augstein musste gut hundert Tage in Untersuchungshaft. Der Verdacht: Landesverrat. Am Ende war die Affäre beste Werbung für den "Spiegel". Der hat seitdem immer wieder neue Skandale aufgedeckt. In den 80er-Jahren etwa die Flick-Affäre, einen riesigen Skandal um Parteispenden aus der Wirtschaft, vor allem für die Union.

"Fast alles unsere Geschichten"

Und heute? Steffen Klusmann, von Hause aus Ökonom und Wirtschaftsjournalist, ist seit dreieinhalb Jahren Chefredakteur: "Wir haben die Typen dingfest gemacht, die Nawalny auf dem Gewissen hatten, zusammen mit 'Bellingcat' in London. Das war eine echt super Recherche. Klar, das Ibiza-Video, dann diese Maskendeals, das waren fast alles unsere Geschichten. Also: Es ist schon super."
Nicht super war, was "Spiegel"-Redakteur Claas Relotius tat. Er war an Dutzenden Artikel mit allzu großer Fantasie herangegangen, erfand teilweise ganze Protagonisten. "Der Spiegel" enthüllte diese Affäre in eigener Sache selbst. Chefredakteur Klusmann setzte als Neuer in der Redaktion ganz zu Beginn seiner Zeit 2018 auf Transparenz. Doch diese Affäre klebt am "Spiegel". Menschen, die den Journalismus kritisieren, nutzen seitdem mitunter das Schimpfwort "Relotiuspresse".
"Der Spiegel"-Chefredakteur Steffen Klusmann steht im Foyer des Verlagsgebäudes. Foto: Marcus Brandt/dpa
"Spiegel"-Chefredakteur Steffen Klusmann. (Marcus Brandt / dpa)
"Wenn man so einen Bock geschossen hat, dann muss man damit leben, dass man damit für sehr lange Zeit in Verbindung gebracht wird und dass das für andere ein gefundenes Fressen ist."

Neue Konkurrenz durch Kooperationen

Unter Klusmann setzt das Magazin heute auf Kooperationen. Die Ibiza-Affäre enthüllte das Magazin zusammen mit der "Süddeutschen Zeitung". "Spiegel"-Redakteure kooperieren aber etwa auch mit politischen Magazinen der ARD. Marvin Schade beobachtet mit seinem Portal "Medieninsider" dabei auch neue Konkurrenz für den "Spiegel".
"Die 'Süddeutsche Zeitung' ist da glaube ich, das beste Beispiel gemeinsam mit dem NDR und mit dem WDR - das sind Kooperationspartner, die hat der 'Spiegel' so nicht. Und die entwickeln aber eine größere multimediale Durchschlagskraft, die den 'Spiegel' durchaus mal in den Schatten stellen kann."
Und auch wirtschaftlich ist die Lage beim "Spiegel" nicht mehr ganz so entspannt wie früher, beobachtet Schade: "Der 'Spiegel' hat wirtschaftlich definitiv ein Stück weit an Schlagkraft verloren. 2018 gab es ein großes Sparprogramm, das erste wirklich große Sparprogramm in der Geschichte des 'Spiegel'. Das ist nicht leicht zu verdauen. Auch die Corona-Krise hat dem 'Spiegel' natürlich noch einmal zugesetzt."

Zuwächse im Digital-Geschäft

In der Corona-Krise hat der "Spiegel" sein ambitioniertes junges Portal namens "Bento" geschlossen. Inzwischen geht der Umsatz allerdings wieder nach oben. Denn während das gedruckte Magazin zwar immer weniger Abonnentinnen und Abonnenten zählt und längst weit unter der Marke von einer Million liegt, zuletzt bei knapp 500.000 verkauften Exemplaren, kann Chefredakteur Klusmann vermelden: die digitalen Abos - gut 200.000 - kommen dazu, stoppen den Rückgang nicht nur.
"Wir haben insgesamt eine steigende harte Auflage, wenn Sie also Kiosk und Abos zusammennehmen. Mal gucken, wie lange das noch so gut geht. Jetzt werden ja so ein bisschen die digitalen Märkte verteilt. Alle haben jetzt ihre Bezahlschranken hochgefahren. Noch läuft es sehr gut."
Damit das so bleibt, stellt Steffen Klusmann den "Spiegel" im Jubiläumsjahr etwas neu auf. Ein spezielles Nachrichtenteam soll dafür sorgen, dass der "Spiegel" gerade im digitalen weiter Agenda-Setting betreibt - und das Nachrichtenmagazin aus Hamburg bleibt.