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Marina Weisband
Offene-Brief-Kultur: Wer ist eigentlich intellektuell?

Früher galt als intellektuell, wessen Worte Gewicht im öffentlichen Diskurs hatte. Heute gilt als intellektuell, wer offene Briefe unterzeichnet. Unterschiedliche Gedanken austauschen ist gut, findet unsere Kolumnistin Marina Weisband. Meinungen sollten dabei aber nicht mit Expertise verwechselt werden.

Von Marina Weisband | 06.07.2022
Viele Bücher sortiert in einem lang gezogenen, halbrunden Regal
Wer ist intellektuell? Für manche Menschen reicht wohl eine Bücherwand im Hintergrund. (picture alliance | Daniel Kalker)
Ich gebe zu, ich habe den Überblick verloren, wie viele offene Briefe und Stellungnahmen von Intellektuellen es zum Krieg in der Ukraine gibt. Und ja, ich habe auch so einen Brief unterzeichnet, der auf einen anderen Brief geantwortet hat. Warum? Weil das genau die Art von öffentlicher Debatte ist, die eine demokratische Gesellschaft führen sollte.
Zeitungen transportieren beispielhaft Meinungen, die man haben kann sowie die Argumente, die zu diesen Meinungen führen. Ein Gespräch mit jemandem wie Ranga Yogeshwar gibt mir die Gelegenheit, zu argumentieren, warum wir zwar beide das Ziel eines schnellen Kriegsendes und des Friedens verfolgen, ich aber den Weg schneller Waffenlieferungen und entschlossener Sanktionen für geeigneter halte. Diese Argumente bilden öffentliche Überzeugungen, die in einer demokratischen Gesellschaft wichtig sind.  

Wer oder was ist intellektuell?

So weit so gut. Mich interessiert hier aber die Autorenschaft dieses öffentlichen Meinungsaustauschs: diese ominösen Intellektuellen, zu denen ich laut einigen Quellen auch zu gehören scheine. Zeit für eine Selbstanalyse. Wer sind Intellektuelle und wofür sind sie gut?  
Ich verbuche Intellektuelle als Menschen, die fürs Nachdenken bezahlt werden. Von dem, was man öffentlich als „Experte“ labelt, unterscheidet sie, dass sie nicht tiefe Expertise in einem eng begrenzten Gebiet haben, sondern eher in die Breite denken. Und es ist ja auch gut für eine Gesellschaft, wenn sie Leute hat, die über Dinge nachdenken.  

Keine Gatekeeper, aber viele Meinungen

Historisch ist ein öffentlicher Intellektueller jemand, der es geschafft hat, seine Meinungen und Einsichten der Öffentlichkeit zu präsentieren, in einem sehr formalisierten Kommunikationsmodell voller Gatekeeper und limitiertem Zugang. Denken Sie an Fernsehübertragungen, Zeitungsartikel. Aber Moment. Heutzutage vermarktet jeder seine Meinungen öffentlich. Wir haben diese Gatekeeper nicht mehr. Wenn es irgendwas im Dutzend billiger gibt, dann sind das Meinungen. Über den Krieg in der Ukraine gibt es phantastische Analysen von ganz normalen Ukrainern, die Medien eher nicht als Intellektuelle bezeichnen würden. 

Definition verwischt mit der Zeit

Was ist es also, was sogenannte Intellektuelle abhebt? Ist der Youtuber Rezo ein Intellektueller? Wenn nein, warum nicht? Wäre er ein Intellektueller, wenn er graue Haare hätte? Wäre er ein Intellektueller, wenn hinter ihm eine Bücherwand stünde? (Seien wir ehrlich. Vermutlich ja.) 
Dem Phänomen des Intellektuellen ist es über die Zeit nicht besser ergangen als anderen ehemals klar definierten Begriffen wie „dem Arbeiter“. Heute ist hauptsächlich der Habitus geblieben. Eine Autorität, die auf der richtigen Sprache beruht, auf der Anzahl verfasster Bücher, auf dem Titel. Andere Menschen, die Ereignisse nicht weniger kritisch oder scharfsinnig beobachten, bekommen dieses Label nicht, weil sie zu jung sind oder in den falschen Kreisen verkehren oder den falschen Sprachstil haben. Und das ist in sich auch gar nicht schlimm. Wer braucht schon Label?

Intellekt ist nicht gleich Kompetenz

Aber im Wort „Intellektueller“ schwingt mit: „Intellekt“ – damit einhergehend das Vorurteil von Kompetenz, sich zu einem Sachverhalt zu äußern. Aber reicht Nachdenken als Kompetenz? Phänomene, wie der russische Krieg, sind komplex und brauchen viel Expertise in Militär, Landeskunde, Geschichte und so weiter. Intellektuelle – und da schließe ich mich selbst nicht aus – arbeiten zwar, obwohl sie den Habitus von Wissenschaftlern haben, eigentlich eher wie Künstler: sie rezipieren Ereignisse, verdauen sie in sich und präsentieren der Öffentlichkeit das Ergebnis, was ein spannender und notwendiger Prozess ist. Nur – ob es reicht, den russischen Krieg in einem System zu verdauen, das in den 80er Jahren einer friedlichen BRD geprägt wurde, und das Ergebnis dessen als politische Forderung festzunageln?

Wunsch nach Frieden statt Expertise

Aus vielen öffentlichen Auftritten deutscher Intellektueller spricht für mich eher der vage und verständliche Wunsch nach Frieden mit einer gewissen Ratlosigkeit, wie man ihn denn praktisch erreicht. Während ukrainische Militärexperten die Lage seit Februar ziemlich akkurat und vorausschauend einschätzten. 
Es ist gut, wenn wir öffentlich miteinander reden. Es ist besser, wenn wir dabei mehr Stimmen im Diskurs beachten. Und noch besser, wenn wir mehr jenen zuhören, die direkt betroffen sind.