In der Pandemie schauen Kinder und Jugendliche noch mehr in Bildschirme als ohnehin schon. Der Kinder- und Jugendpsychiater und Suchtforscher Rainer Thomasius beobachtet das mit Sorge. Nach seinen Studien hat die Sucht nach digitalen Medien während des Lockdowns zugenommen.
Der Kinder- und Jugendpsychiater Thomasius befragte mit anderen Forschern 10- und 17-Jährige sowie deren Eltern und fand heraus, dass die Kinder und Jugendlichen wochentags im Schnitt fünfeinhalb Stunden vor Bildschirmen saßen, am Wochenende sogar über sieben – Steigerungen um 75 Prozent gegenüber Vor-Pandemie-Zeiten. Das Homeschooling sei dabei gar nicht mitgerechnet.
Es stehe zu befürchten, dass über den langanhaltenden Lockdown medienbezogene Süchte zunehmen, warnte der Suchtforscher vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
Mehr als 300.000 Suchtgefährdete zwischen 10 und 17 Jahren
Thomasius zählte im Dlf WHO-Kriterien für die Diagnose einer Sucht auf, darunter Kontrollverlust, zunehmende Priorisierung gegenüber anderen Lebensinhalten. Fortsetzung dieses Verhaltens trotz negativer Konsequenzen, das alles beobachtbar über zwölf Monate.
Nach seinen Befragungen erfüllten mehr als 300.000 der 10- bis 17-Jährigen in Deutschland diese Kriterien "eine doch sehr große Population", sagte Thomasius.
Auch Eltern sind im Homeoffice und in Ermangelung analoger Freizeitaktivitäten viel mit digitalen Geräten beschäftigt. Thomasius betonte, die Vorbildfunktion von Eltern sei zur Suchtvorbeugung sehr entscheidend. Mangelnde Familienfunktionalität könne eine wichtige Risikovariable sein.
Was man tun kann
Eltern sollten sich darüber informieren, welche digitalen Inhalte ihre Kinder aufsuchen, rät Thomasius. Sie sollten Interesse zeigen und Grenzen setzen. Die Nutzungszeiten altersgerecht zu begrenzen, hält Thomasius für sinnvoll und empfiehlt:
- maximal 45 Minuten täglich für 7- bis 10-Jährige
- maximal 60 Minuten täglich für 11- bis 13-Jährige
- maximal 90 Minuten täglich ab dem Alter von 14 Jahren
Kinder sollten zudem nicht zu früh mit digitalen Medien in Berührung kommen. Internet und Chat für Unter-Achtjährige, einen Computer im Zimmer vor dem 12. Lebensjahr oder ein eigenes Smartphone vor der 5. Klasse hält der Kinder- und Jugendpsychiater etwa für zu früh.
Das Interview im Wortlaut:
Thekla Jahn: Was ist dran, wie stark hat die Digitalsucht zugenommen?
Rainer Thomasius: Sie hat zugenommen während des Lockdowns. In eigenen Studien haben wir bei der Untersuchung großer Populationen 10- bis 17-jähriger Kinder gesehen, dass das Nutzungsverhalten für die Computerspiele, die sozialen Medien auf durchschnittlich werktags fünfeinhalb Stunden und an den Wochenenden auf mehr als sieben Stunden angestiegen ist. Das sind Steigerungsraten von 75 Prozent.
Jahn: Das ist enorm. Fünf bis sieben Stunden – wie viel davon ist aktuell dem Homeschooling geschuldet und wo verläuft die Grenze zur digitalen Sucht?
Thomasius: Das Homeschooling ist hier noch gar nicht inbegriffen, das sind reine Freizeitnutzungen, die sich jetzt auf diese mehr als sieben Stunden beziehen. Das Homeschooling kommt noch oben drauf. Die Weltgesundheitsorganisation hat ja jüngst Kriterien formuliert, die erfüllt sein sollen, um eine richtige Sucht zu diagnostizieren. Kontrollverlust, zunehmende Priorisierung gegenüber anderen Lebensinhalten, Fortsetzung des Verhaltens trotz negativer Konsequenzen, das sind solche Kriterien, die über zwölf Monate beobachtbar sein sollen. In eigenen Studien erfüllen diese Kriterien mehr als 300.000 10- bis 17-Jährige in Deutschland, also eine doch sehr große Population.
"Rollenvorbild ist sehr entscheidend"
Jahn: Jetzt ist es aktuell in Corona-Zeiten gar nicht so leicht, auch für die Eltern, diese digitale Sucht, wenn es sie ist, zu erkennen. Viele sind zu Hause im Homeoffice und selber stundenlang am Laptop oder Smartphone tätig, sind vielleicht selber auch digital abhängig geworden, geben zumindest kein gutes Vorbild in digitaler Enthaltsamkeit ab. Wie entscheidend ist das?
Thomasius: Das Rollenvorbild der Eltern ist sehr entscheidend. Wir haben in eigenen Studien gesehen, dass die Familienfunktionalität eine wichtige Risikovariable für die Entwicklung von Computersucht bei den eigenen Kindern sein kann. Eltern müssen gut informiert sein über das, was ihre Kinder im Netz aufsuchen. Sie sollten Interesse zeigen, sie sollten ganz wesentlich auch immer Grenzen setzen, auch wenn das hin und wieder sehr mühsam ist, diesen Aushandlungsprozess altersgerecht mit den eigenen Kindern immer wieder neu auszuführen. Und sie müssen Alternativen anbieten, Vorschläge für eine analoge Freizeitgestaltung mit positiven Erlebnissen und Möglichkeiten der aktiven Stressbewältigung.
Jahn: Auch zum Beispiel mal einfach rausgehen an die frische Luft. Sie haben gerade gesagt, Nutzungszeiten aushandeln. Was sind denn so Richtwerte für Kinder?
Thomasius: Wir empfehlen maximal 45 Minuten am Tag im Alter von sieben bis zehn Jahren, eine Stunde im Alter von elf bis 13 Jahren, anderthalb Stunden ab 14 Jahren. Tatsächlich liegen die Nutzungszeiten in diesen Altersgruppen aber schon deutlich höher. Präventiv macht es schon einen großen Sinn, diese Nutzungszeiten zu begrenzen und auch für die ganze Familie nutzungsfreie Tage in der Woche einzulegen.
"Riskante Nutzung kontinuierlich angestiegen"
Jahn: Wenn der Lockdown nun irgendwann zu Ende sein wird, was befürchten Sie? Welche Auswirkungen der massiven digitalen Nutzung auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen werden sich dann zeigen?
Thomasius: Wir haben ja in den letzten Jahren in Deutschland schon gesehen, dass die riskante Nutzung, aber auch die Computerspielsucht bei den Kindern und Jugendlichen kontinuierlich angestiegen ist. Und wir sehen jetzt eben während des Lockdowns die Steigerung der Nutzungszeiten. Die Nutzungszeiten sind schon ein Risikofaktor für die Entwicklung einer Computerspielstörung, und es steht zu befürchten, dass über diesen lang anhaltenden Lockdown dann auch die medienbezogenen Süchte zunehmen. Ob das tatsächlich so zutrifft, das werden nach Ablauf eines Jahres wissen, denn ein wichtiges diagnostisches Kriterium ist, dass die Störung über ein Jahr vorhanden ist.
Jahn: Wenn dann wieder Schule ist, dann werden mehr Schülerinnen und Schüler wahrscheinlich große Schwierigkeiten beim Lernen haben, Konzentrationsprobleme werden sich verstärken, Antriebs- und Lustlosigkeit, das sind alles keine guten Voraussetzungen für eine Bildungskarriere. Jetzt ist es ja nie zu spät, um eine ungute Entwicklung abzumildern oder zu stoppen. Wie können Eltern und auch Kinder und Jugendliche selber einer Digitalsucht vorbeugen oder, sofern sie schon vorhanden ist, ihr begegnen?
Thomasius: Wichtig ist, dass Kinder nicht zu früh mit digitalen Medien in Berührung kommen. Die kinder- und jugendpsychiatrischen Fachverbände empfehlen, dass bis zum Schulbeginn die Kinder nur analog und nicht mithilfe digitaler Medien lernen, vor Besuch der fünften Klasse sollten Kinder auch kein eigenes Smartphone besitzen. Wichtig sind altersgerechte Nutzungszeiten, wir plädieren dafür, dass frühestens ab dem zwölften Lebensjahr ein PC in das Kinderzimmer gestellt wird. Internetzugang und Chatten am besten nicht vor dem achten Lebensjahr, denn Kinder, die zu früh allein im Netz sich aufhalten, sind immer wieder gefährdet, dann auch riskante Nutzungsmuster zu entwickeln.
Altersgerechte Nutzungszeiten
Jahn: Wenn jetzt bereits eine Digitalsucht vorhanden ist, was sind dann die Maßnahmen, die Sie empfehlen?
Thomasius: Wichtig ist, dass Eltern sich rechtzeitig in Beratung begeben, wenn die Nutzungszeiten kontinuierlich hoch liegen. Wir müssen dann in der Beratung oder auch in der sich anschließenden Therapie die zugrundeliegenden Konflikte erkennen. Wir sehen bei Betroffenen sehr häufig eine erhöhte Ängstlichkeit, eine erhöhte Stressempfindlichkeit, ein negatives Selbstkonzept, soziale Unsicherheit bis hin zu psychischen Störungen wie Depressionen, Angststörungen, ADHS. Und da gibt es sehr unterschiedliche Therapieformen von Familiengesprächen über familientherapeutische Interventionen bis hin zur tagesklinischen oder sogar stationären Behandlung der Betroffenen.
Jahn: Erwarten Sie, dass Sie mehr zu tun kriegen nach dem Lockdown?
Thomasius: Wir sehen ja jetzt schon im letzten Jahren, dass wir mehr zu tun bekommen haben. Und diese Tendenz wird wahrscheinlich anhalten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.