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Meer in Sicht
Warum eine Familie auf Langeoog die EU verklagt

Familie Recktenwald führt ein Hotel auf der Nordseeinsel Langeoog. Wenn der Klimawandel den Meeresspiegel weiter ansteigen lässt, ist die Existenz der Familie in Gefahr. Deshalb klagt sie nun gegen die EU – auf Einhaltung der Klimaziele.

Von Felicitas Boeselager | 11.10.2018
    Luftbild der ostfriesischen Insel Langeoog
    Ringsum konfrontiert mit einem klimabedingt ansteigenden Meeresspiegel: die ostfriesische Insel Langeoog (picture alliance / dpa / imageBROKER)
    "Ich bin ja Koch und kein Rechtswissenschaftler", sagt Michael Recktenwald. "Ich wusste bis zu diesem Moment gar nicht, dass man die EU überhaupt verklagen kann, auf Nichteinhaltung des Klimaziels beziehungsweise Erhöhung der CO2-Reduktion."
    Er war überrascht, als der Bremer Jurist Gerd Winter ihn anrief, um zu fragen, ob er gemeinsam mit neun anderen Familien aus der ganzen Welt die Europäische Union verklagen wolle: "Ja, und dann haben wir das in Ruhe im Familienrat besprochen und haben gesagt, das machen wir."
    Insel und Hotel erhalten - für die Kinder
    Auch die anderen Kläger haben Kinder, und sie alle haben Berufe, die der Klimawandel gefährdet. Ein Lavendel-Bauer in Frankreich, der keine Ernte mehr hat. Ein Forstwirt aus Portugal, dem der Wald abgebrannt ist. Die Recktenwalds befürchten, dass es Langeoog auf Dauer nicht mehr geben wird, wenn der Meeresspiegel weiter ansteigt. Ihr Vorwurf an die EU: Die Klimaziele, die sie sich bis 2030 gesetzt hat, seien zu schwach.
    Das Restaurant der Recktenwalds liegt auf der Nordseite der Insel, vom Strand aus gleich hinter der ersten Düne. Ein paar Schritte weiter ist ihr Bio-Hotel. Bio, das hätten sie schon gemacht, lange bevor es trendy war, sagt Recktenwald, denn "letztendlich gehöre ich durchaus auch zu der Generation, die diese Suppe mit einbrockt hat".
    "Diese Suppe" ist der Klimawandel. Die Recktenwalds haben das Hotel von ihren Eltern übernommen, Schritt für Schritt haben sie es zu einem Bio-Hotel entwickelt - ein Familienunternehmen, das sie für ihre Kinder erhalten wollen.
    "Unsere Kinder, die werden ja irgendwann sagen, 'Ihr habt uns den Mist hier eingebrockt, und irgendwann habt ihr doch ganz genau gewusst, was ihr da macht, ihr könnt uns doch nicht erzählen, dass ihr den Scheiß nicht gewusst habt. Warum habt ihr denn nichts dagegen gemacht?'", sagt Michael Recktenwald. "Und das wollen wir uns natürlich nicht vorwerfen lassen, logisch. Sondern wir wollen auch, dass unsere Kinder hier eine lebenswerte Zukunft auf der Insel haben - oder überhaupt in Deutschland."
    Jurist: Klimawandel verletzt Grundrechte
    Der Klimawandel verletze Grundrechte auf Gesundheit, Eigentum, Lebensgrundlage und Beruf sowie Bildungschancen - ganz bewusst setzt der Jurist Gerd Winter mit seiner Klage gegen die EU auf Familien: "Man ist auch betroffen, wenn das Eigentum gestört ist, also der Bauer auf den Fidschi-Inseln, wenn dem das Haus wegschwimmt, dann ist sein Eigentum betroffen. Gesundheitsprobleme tauchen auf bei Hitzewellen. Vor allen Dingen ist das Kindeswohl, also das Grundrecht von Kindern, von uns besonders in den Mittelpunkt gerückt", erklärt der Anwalt. "Weil Klimaschutz etwas Langfristiges ist und Klimawandel-Folgen sich vor allen Dingen auswirken, wenn unsere Kinder erwachsen sind oder unsere Enkel erwachsen sind - und wir nichts getan haben."
    Winter sitzt in seiner Altbauwohnung in Bremen. Vor zwei Jahren, mit 73, beschloss der emeritierte Forschungsprofessor, mehr gegen Klimawandel zu tun. Seitdem ist es vorbei mit seinem Ruhestand. Die Klage nimmt seine ganze Zeit in Anspruch: die juristische Grundlage ausarbeiten, die klimawissenschaftlichen Daten sammeln. Es war aufwändiger, als er erwartet hatte, dazu arbeitet er pro bono.
    Jurist Winter, die Hotelbesitzer Recktenwald und die anderen wollen keinen Schadensersatz von der EU, sie wollen Veränderung. Und weil sie den Willen zur Veränderung bei Politik und Gesellschaft vermissen, gehen sie den juristischen Weg: "Wir kennen das ja alle, dass wir theoretisch große Umweltschützer sind, aber wenn wir uns praktisch fragen, was wir tun, mich eingeschlossen, dass wir uns nicht daran halten", sagt Winter. "Deshalb ist es eben dann doch so, dass wir Gesetzgebung brauchen und nicht darauf vertrauen können, dass wir alle gutwillig werden."
    "Bricht das Meerwasser durch, haben wir kein Trinkwasser"
    Zurück auf Langeoog zeigt Michael Recktenwald bei einem Spaziergang über die Dünen die klimabedingten Veränderungen, die jetzt schon sichtbar sind: "Zum Beispiel die Holunder-Ernte haben wir schon durch, und normalerweise hätten wir um diese Zeit erst angefangen mit Holunder. Das ist einen Monat früher gewesen. Meine Mitarbeiter haben Anfang September angefangen, Holunder zu ernten."
    In seiner Küche verwendet Recktenwald viele Früchte der Insel: Holunder, Hagebutten, Sanddorn - sie alle werden immer früher reif. Und auch die Herbststürme setzen früher ein. "Wenn wir den Klimawandel nicht aufhalten, dann wird's die Insel Langeoog irgendwann nicht mehr geben, dann wird die Küste, keine Ahnung, irgendwo in Oldenburg sein, ich weiß es nicht. Jetzt im Moment befürchten wir akut eine Gefährdung unseres Trinkwassers. Wir haben eine eigene Süßwasser-Linse, die ist direkt hinter einer sehr schmalen Dünenkette. Sollte der Meeresspiegel weiter steigen und die Sturmfluten sich dadurch verstärken, dann ist diese Dünenkette sehr stark gefährdet."
    Immer häufiger seien Küstenschutzmaßnahmen notwendig. Inzwischen müsse fast jedes Jahr Sand aus dem Meer auf den Strand aufgeschüttet werden, um die Dünen zu schützen, sagt Michael Recktenwald: "Und sollte dort irgendwann das Wasser durchbrechen, dann haben wir kein Trinkwasser mehr hier auf der Insel. Dann wäre unsere wirtschaftliche Existenz auf Jahrzehnte, ja, weg."
    Drei Jahre würde ein Prozess dauern, schätzt der Jurist
    Sollte das Gericht der Europäischen Union die Klage zulassen, dann rechnet Gerd Winter mit drei Jahren bis zum Ende des Prozesses. Für Michael Recktenwald hat sich der Aufwand jetzt schon gelohnt, er erzählt, dass viele Klimaschützer sich durch die Klage bestärkt fühlen. Und auch die große öffentliche Aufmerksamkeit für seinen Fall wertet der Hotelbesitzer als gutes Zeichen.