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Meereszensus: Endlose Weiten

Ozeanographie. - Die Tiefsee umfasst den größten Teil der Erdoberfläche, und nur ein Bruchteil davon hat der Mensch auch nur kurz besucht. Da sollte der Zensus des marinen Lebens, der in diesem Jahr zu Ende geht, Abhilfe schaffen. Rund 2000 Forscher aus 82 Ländern waren und sind an dem Projekt beteiligt. Und eines der Gebiete, dass sie unter die Lupe nahmen, war der Meeresboden.

Von Dagmar Röhrlich |
    Die Tiefsee ist das Reich des Schlamms. Felsen sind selten. Hin und wieder erhebt sich ein Seeberg aus der schier endlosen Ebene, dann gibt es wieder Tausende von Quadratkilometer nichts als grauen Schlick, erklärt Allan Hughes vom Southampton Oceanographic Centre:

    "Wenn man sich den Meeresboden anschaut, sieht er manchmal recht eintönig aus, vor allem in den Schlammgebieten, und der größte Teil des Ozeanbodens ist mit diesem sehr weichen Schlick bedeckt."

    Auf den ersten Blick wirken diese Schlammweiten wie Wüsten. Tiere sieht man selten. Oft zeigen die Kameras der ferngesteuerten Tauchrobotern nur ihre Spuren, wie die gewundenen Linien, die Seeigel oder Seegurken hinterlassen. Oder seltsame, exakte Spiralen. Zensusforscher fanden heraus, wer sie produziert: Es sind gleich drei neue Arten von Eichelwürmern, also hirn- und augenlosen Wesen, die Verdaubares von Sandkörnern schlürfen. Allan Hughes:

    "In der Tiefsee leben ungeheuer viele Tierarten, meist kleine Würmer und andere unauffällige Lebewesen wie Schnecken, Seegurken oder Seeigel. Sie leben auf dem Schlamm, aber vor allem im Schlamm. Die meisten Bewohner des Tiefseebodens sind uns noch unbekannt, aber schon jetzt sieht es so aus, als ob in der Tiefsee mehr Arten zu finden sind als in jedem anderen Lebensraum der Erde."

    Die Frage ist, wie am Meeresboden diese Vielfalt der Lebewesen entsteht. Der Lehrmeinung nach geht eine hohe Biodiversität mit vielen ökologischen Nischen einher. Der Tiefseeschlick jedoch wirkt monoton. Aber nur auf uns. Anscheinend sorgen dort unten kleine, von den Tieren selbst erzeugte Veränderungen für Nischen. So gräbt ein Igelwurm vor Südkalifornien Gänge in den Boden. Am einen Ende seiner Wohnröhre saugt er Sediment ein, am anderen entsteht aus den Verdauungsprodukten ein Hügel, der andere Tiere magisch anzieht. Ein weiterer Faktor, der zur Vielfalt beitrage, sei - der Nahrungsmangel, urteilt Allan Hughes Kollege David Billet:

    "Je tiefer man im Ozean kommt, desto weniger Nahrung gibt es. In 4000 Metern Wassertiefe steht nur noch ein Prozent des organischen Materials an der Oberfläche zur Verfügung. Im Grunde genommen hungern die Tiere des Meeresbodens."

    Nährstoffarme Ökosysteme sind jedoch oft besonders artenreich, wie es die Riffe um Hawaii oder Tahiti beweisen, der klare Baikalsee oder der Amazonas-Regenwald. Der Grund: Niemand kann dominant werden und andere verdrängen. Außerdem, so erklärt Allan Hughes, sei der Meeresboden keine abgeschiedene Welt, sondern sehr eng mit dem Geschehen an der Oberfläche vernetzt:

    "Nicht nur, dass die Bodenlebewesen eine große Rolle für das Klima spielen, weil sie einen Teil des Kohlenstoffs aus dem Kreislauf herausziehen. Veränderungen an der Oberfläche schlagen auch zu ihnen durch. Wenn sich das Wasser erwärmt, spüren die Tiere in der Tiefsee das auch."

    Zum Beispiel in der Porcupine-Tiefsee-Ebene südwestlich von Irland. Dort lebt eine kleine, rosa Tiefseegurke namens Amperima rosea, erzählt David Billet:

    "Bis in die 1990er Jahren war diese Seegurke sehr selten. Dann explodierte ihr Bestand nach der alljährlichen Algenblüte. Als die Zahlen nach drei, vier Jahren wieder zurückgingen, hielten wir das für ein einmaliges Ereignis. 2002 passierte es erneut, und es gab mehr Amperima als je zuvor. Gleichzeitig explodierten die Bestände bei Seeanemonen, Würmern und Seespinnen."

    Dahinter steckt das Klimaphänomen El Nino. Wenn im Pazifik durch nachlassende Passatwinde das kalte Tiefenwasser nicht mehr vor der südamerikanischen Küste aufwallt, sind die Effekte auch im Atlantik spürbar. Allan Hughes:

    "Wir konnten die Veränderungen in den Ökosystemen der Tiefsee mit diesen Veränderungen im Weltklima verbinden. Unserer Meinung nach ist das ein Modell dafür, was der Klimawandel anderswo in der Tiefsee anrichten könnte."

    Die Folgen könnten gewaltig sein, denn normalerweise zehren die Bodentiere der Tiefsee monatelang von einer absterbenden Algenblüte. Die riesigen Amperima-Herden jedoch vertilgen den Überfluss in Rekordzeit, nach wenigen Woche ist alles verspeist. Das große Hungern beginnt - und dauert umso länger. Wie das die Ökosysteme verändert, wird derzeit erforscht.

    Lesen Sie mehr zum Zensus des Marinen Lebens und zur Biodiversität auf unserer Übersichtsseite.