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Mehr als 140 Todesopfer rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung

Vor genau 20 Jahren wurde der Angolaner Amadeu Antonio von Rechtsextremen in Eberswalde zu Tode geprügelt. Uwe-Karsten Heye ist überrascht von diesem rechten Gewalt-Potenzial insbesondere im Osten - rechte Gewalt werde jedoch von allen Deutschen fast nicht reflektiert.

06.12.2010
    Dirk-Oliver Heckmann: Er gilt als das erste Todesopfer rechtsradikal motivierter Gewalt, der Angolaner Amadeu Antonio. In der Nacht zum 25. November 1990 wurde der 28-Jährige, der als Vertragsarbeiter in die DDR gekommen war, im brandenburgischen Eberswalde von einer Gruppe Rechter so schwer misshandelt, dass er am 6. Dezember seinen Verletzungen erlag. Heute ist das genau 20 Jahre her.
    Telefonisch zugeschaltet ist uns jetzt Uwe-Karsten Heye, ehemals Regierungssprecher unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, nun Vorsitzender des eingetragenen Vereins "Gesicht zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland". Guten Morgen!

    Uwe-Karsten Heye: Ich grüße Sie herzlich.

    Heckmann: Herr Heye, wenn Sie sich in die 90er-Jahre zurückversetzen, zurückdenken an die Welle der Gewalt gegen Ausländer, was geht Ihnen da durch den Kopf?

    Heye: Mir geht durch den Kopf, dass seit diesen Wendejahren bis heute wir mehr als 140 Tote als Opfer rechtsextremistischer Gewalt zu beklagen haben. Das heißt, es ist bei Amadeu Antonio nicht stehen geblieben, und die Gesellschaft selbst reflektiert gerade diesen Tatbestand fast nicht, was ich für ganz problematisch halte und auch Ausdruck einer gewissen Haltung natürlich.

    Heckmann: Wie erklären Sie sich das?

    Heye: Schwer zu sagen. Ich glaube, das hat mit unterschiedlichen Dingen zu tun, hat natürlich auch damit zu tun, dass sagen wir mal das, was wir als rechtsextremistisches Potenzial in den neuen Ländern vorfinden – Ähnliches haben wir in den alten, aber da gehen wir dann doch noch etwas anders damit um -, dass uns das, glaube ich, alle überrascht hat. Jedenfalls mich hat es überrascht. Ich hatte mit vielem gerechnet, was mit dieser Vereinigung einhergehen könnte, aber dass das Potenzial von Rechtsextremisten in der ehemaligen DDR so signifikant ist, habe ich nicht erwartet.

    Heckmann: Dass diese rechtsradikale Gewalt gegen Ausländer heute nicht mehr eine solche große Aufmerksamkeit erregt, liegt das daran, dass die Fälle nicht mehr so, ich sage mal, spektakulär sind, oder ist die Aufmerksamkeit einfach gesunken? Hat man sich ein bisschen daran gewöhnt?

    Heye: Na ja, ich glaube, es ist zweigeteilt. Wir haben auf der einen Seite ein höheres Maß an Aufmerksamkeit. Selbst die Polizei muss ja aufschreiben, welcher Anteil an den Delikten, die sie aufklären, mit rechtsextremistischer Gewalt zu tun hat. Diese rechtsextremistisch motivierten Straftaten haben sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Damals hatten wir, als ich "Gesicht zeigen" gründete, etwa 10.000 solcher Delikte, heute haben wir über 20.000. Also das ist sozusagen die eine Ebene. Und die andere Ebene – das darf man nicht unterschätzen – ist, dass wir eine zunehmend merkwürdige Debatte führen, denken Sie an die Integrationsdebatte zurzeit. Wenn der Ministerpräsident Bayerns mitteilt, wir stünden auf einem christlich-jüdischen Fundament, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass dieses Fundament auf den Gebeinen von 5 Millionen ermordeter europäischer Juden liegen würde einerseits, um aber mit dieser Formel eine andere Minderheit, nämlich die muslimische auszugrenzen, dann fragt man sich doch, was ist hier in dieser Gesellschaft passiert und welche Art von Tabuzonen haben wir eigentlich noch, die notwendig sind, wenn so etwas nicht passieren kann oder passieren sollte, was wir da an Debatte führen, oder wenn mitgeteilt wird, wer nicht integrationswillig ist, der muss gehen. Das ist nahe dran an dem, was die NPD als Rückführungsbeauftragten propagiert. Ich finde, diese Debatte müssen wir schleunigst beenden und die Frage stellen, wie und auf welche Weise wir mit dieser bunter werdenden Einwanderungsgesellschaft – und die sind wir doch – besser umgehen, als wir das bisher tun.

    Heckmann: Herr Heye, im Jahr 2006, da haben Sie im Deutschlandradio Kultur ausländische Besucher eindringlich vor einem Besuch bestimmter Gebiete Ostdeutschlands gewarnt. Wir haben gerade eben den O-Ton noch mal gehört.

    Heye: Ja.

    Heckmann: Es war die Rede von No Go Areas. Müssen ausländisch aussehende Menschen heute noch Angst haben in bestimmten Gebieten?

    Heye: Sicherlich hat sich da, sagen wir mal, die öffentliche Wahrnehmung etwas geändert, aber nicht ernsthaft. Wenn heute immer noch in bestimmten Regionen Deutschlands, wo es keine Ausländer gibt, die Ausländerfeindlichkeit bei 40, 50 Prozent liegt, dann können Sie sich vorstellen, in welch einer Atmosphäre Menschen etwa anderer Hautfarbe dann leben müssen oder leben dürfen oder können, je nachdem wie man es will. Ich glaube, dass wir insgesamt eine schwierige, nach wie vor schwierige Debatte führen müssen, die darauf hinauslaufen muss, deutlich zu machen, dass wir mit den demographischen Problemen, die wir haben, Einwanderungsgesellschaft sind, und dass wir nicht nach den Fachleuten aus dem Ausland rufen können. Wer will denn hier her, wenn er das Gefühl hat, willkommen bin ich sowieso nicht.

    Heckmann: Viele Bundesländer tun eine ganze Menge gegen Rechtsextremismus.

    Heye: Ja.

    Heckmann: Wo ist diese Arbeit besonders erfolgreich und wo hapert es?

    Heye: Ich glaube, sie ist besonders erfolgreich in Brandenburg gewesen. Die letzte Jugendstudie belegt zumindest eine abnehmende Tendenz rechtsradikaler Positionen unter den befragten Jugendlichen hier, allerdings eine weiterhin vorhandene, bei 40 Prozent liegende Ausländerfeindlichkeit, obwohl es hier kaum Ausländer gibt. Also ich glaube, da muss man sehr viel tun und vor allen Dingen als Politiker eine Debatte führen, die nicht den Eindruck erweckt, den ja viele rechtsextremistisch eingestellte Jugendliche haben, sie würden in ihrer Gewalt gegen alles, was eine andere Kultur hat, doch nur das exekutieren, was die Mehrheit der Gesellschaft denkt. Da müssen wir total aufpassen, dass wir hier nicht abdriften in eine völlig inhumane und sozusagen unsere eigene Geschichte nicht berücksichtigende Haltung.

    Heckmann: Herr Heye, nach dem Willen von Bundesfamilienministerin Kristina Schröder sollen alle Initiativen, die staatliche Mittel bekommen, eine sogenannte Anti-Extremismus-Erklärung abgeben und sollen auch alle Projektpartner auf ihr Verhältnis zum Grundgesetz abklopfen. Damit soll garantiert werden, dass keine Linksextremen von staatlichen Geldern profitieren. Dagegen richtet sich Protest vieler Vereine und Initiativen, die sich unter Generalverdacht gestellt sehen. Zurecht?

    Heye: Na ja, also runterhängen würde ich das schon. Ich meine, das liegt ja sozusagen auf der Linie der Vorstellung vieler Mitglieder der Union, dass es sozusagen zwischen Rechts- und Linksextremismus keinen Unterschied gibt. Ich mache da einen Unterschied, er ist erheblich. Es gibt, wenn Sie allein auf die Rate der Todesopfer rechtsextremistischer Gewalt schauen, keine Vergleichbarkeit. Wenn die Ministerin meint, sie müsste damit sozusagen der Räson ihrer Partei folgen, dann kann ich das nur als, na ja, als lässliche Sünde abtun, das ist völliger Unsinn. Aber wenn es denn sein muss?

    Heckmann: Vor 20 Jahren starb Amadeu Antonio. Wir haben gesprochen über das Problem des Rechtsradikalismus in Deutschland mit Uwe-Karsten Heye, Vorsitzender des eingetragenen Vereins "Gesicht zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland". Herr Heye, danke Ihnen!

    Heye: Es war mir ein Vergnügen.