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Mehr als ein Apologet des kruden Laissez-faire-Kapitalismus

1776 erschien Adam Smiths Buch "Der Reichtum der Nationen". Das Werk gilt als Bibel des freien Marktes. Das sei aber nur der halbe Smith, sagt Reinhard Blomert. In seinem Essay erzählt er von der Entstehung des Smith-Werkes und zeigt, dass der Schotte mehr war als ein dogmatischer Ökonom.

Von Michael Kuhlmann | 07.01.2013
    Frankreich im Zeitalter der Aufklärung. Der Dreikäsehoch Mozart wird als Musik-Star bestaunt, Voltaire fasziniert sein Publikum mit geistreichen Theaterstücken, Rousseau entwickelt Ideen der radikalen Demokratie. In dieser Zeit – da reist ein schottischer Wirtschaftsphilosoph durch dieses Land. Er studiert Handel und Märkte; er trifft die Größen des Geisteslebens. Was dieser Adam Smith in Frankreich erlebte, das sollte man sich näher ansehen, befindet Buchautor Reinhard Blomert. Denn: Buchzitat

    "Es ist nicht besonders gewagt, wenn man behauptet, dass die Reise nach Frankreich das Wichtigste Ereignis im Leben von Adam Smith wurde. Wenn die Bedeutung dieser Reise bisher kaum gewürdigt wurde, so aus dem einfachen Grund, dass die Engländer ungern zugeben wollen, dass ihr großer Ökonom aus dem Geiste des ewigen Konkurrenten geschöpft hat."

    Dabei stieß Adam Smith in Frankreich auf äußerst konträres Kaleidoskop der Wirtschaftstheorien: verlangten die einen wollten den schrankenlosen Freihandel, andere wollten andere den starken Staat, wieder andere sorgten sich primär um das Wohl der breiten Bevölkerung. Gerade letzteres prägte auch Smiths Denken mit; und daran möchte Blomert mit seinem Essay erinnern. Denn da spuke einiges an Missverständnissen herum:

    "Das erste Missverständnis ist, dass er der Begründer einer bürgerlichen Ökonomie des Industriezeitalters war. Das war er überhaupt nicht, er ist noch ganz Autor der höfischen Gesellschaft. Er blieb in seiner Sichtweise stets ein Grundbesitzer."

    Und das schlug sich auch nieder in "The Wealth of Nations" – Der Wohlstand der Nationen: so hieß Smiths wichtigstes Buch. Ein zweibändiges Opus, tausend Seiten stark. Und wenn man so viel über Ökonomie schreibt, dann hat man eben mehr zu sagen, Und darin ist mehr und anderes zu lesen als das, was allgemein als Smiths Kernthese gilt: als nämlich dass der Markt unfehlbar sei und der Staat sich aus allem heraushalten solle.

    Reinhard Blomert: "Sein Denken war überhaupt nicht staatsfern, ganz im Gegenteil, der Staat galt ihm als oberste Instanz des Handelns, und der Markt war eine Art Experiment für ihn, was also in den Regionen der Güterproduktion geschah und was im einzelnen nicht zu regulieren war, aber er war überzeugt, dass der Markt für die Gesellschaft liefern konnte, was die Gesellschaft benötigte, wenn er richtig reguliert war. Also, die Aufgabe der Politik war es, die Märkte zu gestalten."

    Und zwar im Sinne des Gemeinwohls. Damit schaltet sich Reinhard Blomert in eine bereits seit 1991 geführte Debatte ein, die seit längerem anhält. Damals betonten die beiden Ökonomen Arnold Meyer-Faje und Peter Ulrich in einem Sammelband, dass Smith Regeln für den Handel vorsah: moralische, aber auch gesetzliche Regeln – und die konnte nur ein Staat setzen. Adam Smith hatte schon vor seiner Wirtschaftstheorie auch eine Theorie der ethischen Gefühle und der Tugenden entwickelt. Aber – so Reinhard Blomert:

    "Die Tugendlehre galt nur für die Regierenden. In der Ökonomie gab es für ihn keine Tugenden, sondern einfach Kräfte. Marktkräfte – diese Kräfte können von der Politik geregelt werden, und wenn die Politiker die Tugenden, die er aus der klassischen Antike gewinnt, wenn die diese Tugenden – Gerechtigkeit und Scham – beachten, dann wird auch der Markt das liefern, was die Gesellschaft braucht von ihm."

    Der Handel sollte nach Smiths Vorstellung allen Menschen politische Freiheit bringen. Wie sich unterschiedlich regulierte Formen des Handels auswirkten, das konnte Smith er in Frankreich studieren. Dort hatte Finanzminister Colbert den Markt wohldosiert geöffnet – und das Land damit zur Blüte gebracht. Einer von Colberts Nachfolgern dagegen, Anne-Robert-Jacques Turgot, bescherte Frankreich mit seiner radikalen Freihandelspolitik eine Hungerkatastrophe. Im mikroökonomischen Bereich studierte Smith den Getreidehandel in Südfrankreich und das Verhalten der Kaufleute. Er zeigte sich dabei als Realist.

    Reinhard Blomert: "Ihm waren die bürgerlichen Unternehmer höchst suspekt, er schimpft über sie an vielen Stellen, er hält sie für egoistisch und warnt davor, ihnen politische Funktionen zu überlassen."

    Im Wohlstand der Nationen besonders deutlich im vierten Buch:

    "Die Herrschaft einer privilegierten Gesellschaft von Kaufleuten ist wohl die schlimmste aller Regierungen für jedes Land. Eine Gesellschaft von Kaufleuten ist offensichtlich unfähig, sich als Landesherr zu begreifen. Selbst dann nicht, wenn sie diese Aufgabe selbst wahrnehmen. Sie betrachten nach wie vor den Handel als ihre entscheidende Funktion. Und in seltsamer Verkennung der Tatsachen sehen sie in der Aufgabe des Souveräns bloß ein Anhängsel zu den Pflichten des Kaufmanns."

    Auch die viel zitierte Metapher von der unsichtbaren Hand des Marktes spielt bei Smith gar nicht die zentrale Rolle: Wie Peter Ulrich gezeigt hat, umschreibt Smith damit nur nebulös eine Art metaphysische Steuerungsinstanz – wirklich zu Ende entwickelt hat er den Gedanken nicht, einfach weil er nicht die erste Priorität hatte. Warum aber ist heute meist nur ein eingefärbter radikale Marktfreiheit predigender Smith bekannt? Reinhard Blomert sieht die Ursache in einem Missverstehen-Wollen bei der Nachwelt:

    "Wenn man zum Beispiel Smith-Ausgaben von etwa 1830, 1840 nimmt – da gibt's diese berühmte McCullogh-Ausgabe – McCullogh will Smith an die Zeit anpassen. Ich hab das mehrfach gesehen, dass aus dieser Ausgabe zitiert wurde, und zwar ganz bewusst! Man wollte gar nicht mehr den Original-Smith, man wollte einen Smith, der in die Zeit passt."

    Den wollte 1976 sogar noch Milton Friedman, der Kronzeuge des Neoliberalismus. Heute aber wissen einige in der ökonomischen Wissenschaft wieder den ganzen Adam Smith zu berücksichtigen. Reinhard Blomerts neuer Essay könnte dieses Wissen weiter verbreiten helfen, gerade als Einstiegslektüre; denn das Buch ist ebenso kenntnisreich wie flott geschrieben; und es wurde von der Leipziger Grafikerin Sabine Golde in eine sehr gelungene bibliophile Form gebracht. Beste Voraussetzungen, um gerade Akteure in Politik und Medien an Adam Smiths reichen geistigen Hintergrund zu erinnern:

    "Adam Smith war mehr als ein dogmatischer Ökonom. Er war Philosoph – in jenem umfänglichen Sinne des Wortes, das es noch im 18. Jahrhundert hatte: nämlich auch Ethiker und Sozialwissenschaftler. Sein Buch über den Wohlstand der Nationen erschien als Politische Ökonomie – ein Begriff, der von den Ökonomen nicht mehr verwendet wird, seit sie sich in ihre Idealwelten zurückgezogen haben. Ohne politische Ökonomie aber lassen sich allenfalls die Schönwetterlagen der Ökonomie überstehen. Die Probleme der integrierten Ökonomie jedenfalls – wie sie sich in Finanzkrisen und Währungskrisen zeigen – sind ohne sie nicht lösbar."

    Daran anschließen lassen sich die Folgerungen des Ökonomen Horst-Friedrich Wünsche: Dieser hat gezeigt, dass wie Adam Smith zwar staatliche Wirtschaftslenkung ablehnte – wie er aber zugleich den Staat in die Pflicht nahm, für soziale Wohlfahrt zu sorgen. Adam Smiths Wohlstand der Nationen ist folglich ein Plädoyer für den heute gern geschmähten Rheinischen Kapitalismus Ludwig Erhards. So ist es wohl kein Wunder, dass dessen Parole dem Buchtitel Adam Smiths gar nicht so unähnlich klingt: "Wohlstand für alle".

    Reinhardt Blomert: Adam Smiths Reise nach Frankreich oder die Entstehung der Nationalökonomie.
    Verlag: AB-Die Andere Bibliothek, 300 Seiten, 34 Euro
    ISBN: 978-3-84770-335-8