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Mythos freier Markt

Noch 2008 feierten Ökonomen am renommierten Massachusetts Institute of Technology enthusiastisch die Fortschritte in allen wichtigen Forschungsfeldern ihrer Disziplin. Es gäbe einen breiten Konsens in zentralen Fragen, das Problem der Rezessionsprävention sei praktisch gelöst.

Von Stefan Fuchs | 27.11.2011
    Nur wenig später begannen die Finanzmärkte zusammenzubrechen.

    In der größten Weltwirtschaftskrise seit 1928 stand die überwältigende Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler nackt da. Die moderne Volkswirtschaftslehre mit ihren hochkomplexen mathematischen Modellen und ihrem Glauben an die Rationalität der Wirtschaftssubjekte wurde zum ersten Opfer der Krise.

    Die Ökonomie, wie sie vor allem an amerikanischen Eliteuniversitäten seit mehr als drei Jahrzehnten gelehrt wurde, hat die Gefahr nicht nur nicht vorhergesehen, sie hat die Katastrophe entscheidend mitverursacht. An den Rändern der Disziplin hat inzwischen ein Umdenken begonnen.

    Im dritten und letzten Teil unserer Gesprächsserie "Wirtschaftsweise ratlos" über die Versäumnisse der Nationalökonomie und ihre dramatischen politischen Folgen spricht Stefan Fuchs mit dem amerikanischen Ökonomen James Kenneth Galbraith. Er ist Autor des 2010 auf Deutsch erschienenen Buches "Der geplünderte Staat oder: Was gegen den freien Markt spricht" (Original von 2008).

    In den ersten beiden Teile der Reihe sprach Stefan Fuchs mit dem Chefredakteur der "Financial Times, Martin Wolf, sowie dem Wirtschaftswissenschaftler André Orléan.

    Stefan Fuchs: Herr Galbraith, wir erleben eine Renaissance des Aufbegehrens, suchend und wenig artikuliert, aber vom Gefühl schreiender Ungerechtigkeit getragen. Die Puerta del Sol in Madrid, die Aufstände in London, Generalstreik in Athen. Mit "Occupy Wall Street" hat der Protest jetzt das kalte Herz des finanzgesteuerten Kapitalismus erreicht. Höchstwahrscheinlich wird auch das nichts ändern, wird auch diese Forderung nach einer "globalen Revolution" zu Nichts führen. Aber lässt es sich nicht doch als ein weiteres Symptom lesen, dass tief im Untergrund unserer Gesellschaften nach so viel Enttäuschungen die verzweifelte Suche nach einer Veränderung entbrannt ist, die mehr ist als Marketing? Die Frage ist nur, ob sie eine regressive Form wie etwa die Tea Party in den Vereinigten Staaten annimmt, oder zum Vorschein im eigentlichen Sinne des Wortes von etwas wirklich Neuem wird.

    James K. Galbraith: Zum ersten Mal seit dem Ausbruch der Krise wird in den USA die Stimme von Anstand und Sitte wieder hörbar. Ein ruhiger Protest, der mit beeindruckender moralischer Klarheit und ohne ideologische Verengung zum Ausdruck gebracht hat, dass die Politik sich endlich um die Menschen kümmern muss, die durch die Krise in ihrer Existenz bedroht sind, anstatt sich immer nur als eine Art Zuhälter für jene verschwindend kleine Minderheit aufzuspielen, die von der Krise auch noch profitiert. In Kalifornien beispielsweise gab es Proteste für eine Frau, die ihr Haus verlor, weil die Bank ihre Kreditvergaberichtlinien ohne jede Rücksicht durchsetzte. Die Banker haben noch nicht einmal den Versuch unternommen, eine andere Lösung zu finden, obwohl die Schuldnerin in einer verzweifelten Lage war. Sie hatte ihren Sohn verloren und konnte deshalb ihre Raten nicht rechtzeitig bezahlen. Dieses ausschließlich auf Profit gerichtete, zutiefst obszöne Verhalten hat die Menschen seit Langem beschäftigt und ist jetzt Anlass für breiten Protest. In Europa ist die Lage noch düsterer. Ich komme gerade aus Athen. Dort kann man den physischen Verfall mit Händen greifen. Noch deutlicher als in den Vereinigten Staaten herrscht das Gefühl der Ausweglosigkeit. Das sind jetzt richtige soziale Aufstände, weil die Existenzgrundlage und das Leben der Menschen im gesamten Land auf dem Spiel stehen.

    Fuchs: Wie sind wir in diese Sackgasse geraten? Wie viel Verantwortung tragen die Wirtschaftswissenschaften, die sich über Jahrzehnte als eine Art Cheerleader des finanzgesteuerten Kapitalismus gebärdet haben? Wenn man Ihre Beschreibung Ihrer Erfahrungen als Vorsitzender des Finanzausschusses in Washington in den Achtzigern liest, da hat man den Eindruck, da schwingt ein bisschen Eifersucht des linken Intellektuellen mit angesichts des romantischen Idealismus von Leuten, die mit einem ganz einfachen Programm allgemeinen Wohlstand versprechen: Steuerermäßigungen, Inflationsbekämpfung, Liberalisierung der Märkte. Ist das dieses einfache Programm, was uns in diese Situation gebracht hat?

    Galbraith: Die frühen 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren in vieler Hinsicht ein historischer Wendepunkt. Doktrinen, die damals entwickelt wurden, sind zum Teil ursächlich für das, was seither geschehen ist. Wenn ich diese Zeit aber mit der jüngeren Vergangenheit, mit den letzten zehn, fünfzehn Jahren vergleiche, habe ich eine gewisse Sympathie für die Konservativen in den Achtzigern. Sie reagierten auf die Instabilität und die Inflation, die sich am Ende einer sozialdemokratischen Periode in den 60er und 70er-Jahren eingestellt hatten. Sie handelten tatsächlich als Idealisten, die aufrichtig davon überzeugt waren, dass ihre Rezepte helfen würden. Dieser Idealismus ist lange verflogen. Viele, die damals Konservative waren, haben heute eine ganz andere Einstellung. Das gilt für die USA, aber prinzipiell auch für Europa. War damals die Wahrung öffentlicher Interessen das Ziel der konservativen Wirtschaftspolitik, so wird jetzt staatliche Macht missbraucht, um die Interessen einer ganz kleinen Elite insbesondere im Bereich der Finanzwirtschaft durchzusetzen. Ich nenne das den "Predator State", den Staat im Dienste des Raubtierkapitalismus. Ihn kennzeichnen Korruption und systematischer Missbrauch der staatlichen Institutionen. In den USA hat das schon mit der Clinton Administration begonnen. Unter Präsident Bush erreichte es einen Höhepunkt und führte zum Totalausfall der staatlichen Überwachung des Finanzsektors. Immer mehr Finanzfirmen verfolgten ein Geschäftsmodell, das auf Betrug beruhte. Ich betrachte die letzten 15 Jahre als eine noch ernstere, noch gefährlichere, noch schwieriger zu beseitigende Abweichung von den Prinzipien des Anstands und einer dem Gemeinwohl verpflichteten Politik als die frühere Epoche, die Sie zitiert haben.

    Fuchs: Im Kontext der aktuellen Diskussion in Europa über Schuldenkrise und Inflationsängste muss es überraschen, wenn Sie feststellen, dass Monetarismus, Angebotsorientierung, ausgeglichene Staatshaushalte, Freihandel, Liberalisierung der Märkte, also die ganze Litanei des neoklassischen Glaubensbekenntnisses der Vergangenheit angehöre, dass es nur noch im Elfenbeinturm der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten überlebe, aus der praktischen Politik längst ausgemustert sei. Nur noch in Talkshows Verwendung finde. Ist das, was der IWF und EU beispielsweise Griechenland verordnen, nicht exakt das Standardrezept des "Washington Consensus"?

    Galbraith: Der Monetarismus ist vor 30 Jahren sang- und klanglos verschwunden. Die Forderung der angebotsorientierten Wirtschaftstheorie nach niedrigeren Steuern wurde erfüllt, ohne dass irgendwelche positiven Effekte eingetreten wären. Deregulierungen und Privatisierungen haben sich als eine Pest erwiesen, die die ganze Welt heimgesucht hat. Die meisten Länder etwa in Lateinamerika fürchten sie, wie der Teufel das Weihwasser. Sobald dort demokratische Regierungen an die Macht kamen, hat man die Privatisierung der Wasserversorgung beispielsweise wieder rückgängig gemacht, weil es nur darum ging, mit den ärmsten Schichten der Bevölkerung Profite zu machen. Das dogmatische Bestehen auf diesen gescheiterten wirtschaftspolitischen Rezepten kennzeichnet absurderweise jetzt den Umgang der starken Mitglieder der Europäischen Union mit einem sehr schwachen Partner, nämlich Griechenland. Man verlangt einen aggressiven Ausverkauf alles staatlichen Eigentums von der Stromversorgung bis zu den Hochschulen. Sogar vor einer Reduzierung der Mindestlöhne schreckt man nicht zurück. Die Troika und der Internationale Währungsfonds gebärden sich als dogmatische Vertreter der Gläubigerinteressen. Sie verfolgen ausnahmslos Rezepte, die schon ausprobiert wurden, die gescheitert sind und von vielen anderen Ländern rund um den Globus in den letzten 20 Jahren als völlig untauglich verworfen wurden.

    Fuchs: Aber sie werden augenscheinlich immer noch gestützt durch gewisse Teile der Wirtschaftswissenschaften, die diese Theorien weiter verfolgen.

    Galbraith: Welche Wirtschaftspolitik von der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie heute jeweils gerade befürwortet oder abgelehnt wird, ist schwer zu sagen. Sicher gibt es Volkswirtschaftler, die solche Klischees und Formeln immer noch wiederholen. Aber man findet in der ökonomischen Literatur auch genügend Hinweise auf all die Katastrophen, zu denen diese Rezepte geführt haben. Die Behauptung, es gäbe eine übereinstimmende Auffassung unter den Wissenschaftlern, die diese Politik unterstützt, stimmt schon seit Jahrzehnten nicht mehr, wenn sie denn überhaupt je gestimmt hat. Das, was an den selbst ernannten amerikanischen Eliteuniversitäten als der Weisheit letzter Schluss gehandelt wird, ist nicht repräsentativ für die Disziplin. Diese Fakultäten haben sich völlig isoliert. Sie sind zu Nährböden eines intellektuellen Dogmatismus geworden. Kritische Forschung, die ihre gesellschaftlichen Folgen mit bedenkt, findet nicht mehr statt. Aber in der erweiterten Scientific Community, an den kleineren staatlichen Universitäten und Hochschulen und vor allem in den Forschungsinstituten im Rest der Welt mangelt es nicht an unabhängigen Wirtschaftswissenschaftlern, die diese Dogmen entweder nie vertreten oder sie inzwischen verworfen haben. In vielen Fällen mussten sie einen hohen Preis dafür bezahlen, was ihre wissenschaftliche Karriere angeht. Aber es gibt sie, und sie haben sich ihren unabhängigen Standpunkt bewahrt.

    Fuchs: Es scheint, als hätten Sie nicht sehr große Sympathien für abstrakte Modellierungen und theoretische Diskussionen in den Wirtschaftswissenschaften. Gibt es so eine Art Teilung der Wirtschaftswissenschaften in eine pragmatische und in eine sehr theoretische, abstrakte Richtung?

    Galbraith: Wirtschaftswissenschaftler mit ausgeprägt dogmatischen Überzeugungen, die nicht selten einschneidende Folgen haben, wenn sie auf die Wirklichkeit angewandt werden, verbrämen diese gern mit einer ausgefeilten abstrakten Terminologie. Sie versuchen damit, ihre Realitätsferne und ihre Isolation innerhalb der Scientific Community zu vertuschen. Aber Abstraktion und theoretische Modelle sind nicht das eigentliche Problem.

    Wenn wir uns John Maynard Keynes' "Allgemeine Theorie" anschauen, fehlt es dort nicht an Abstraktion und theoretischen Modellen, ohne dass man ihr Grobschlächtigkeit und Realitätsferne vorwerfen könnte. Die richtige Antwort besteht deshalb nicht in einem Feldzug gegen abstrakte Modellbildung, sondern im Widerstand gegen barbarische Vereinfachung.

    Fuchs: Eine grundsätzliche Infragestellung dessen, was Sie den "Kult des Marktes" nennen, bildet das Herzstück Ihrer Analyse der letzten 30 bis 40 Jahre in den Wirtschaftswissenschaften. Was stimmt nicht an diesem weitverbreiteten Glauben, dass Märkte ein unübertreffliches Instrument nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch gesellschaftlicher Organisation sind?

    Galbraith: Wenn man über den Markt spricht, muss man den theologischen Unterton ausschalten, der diesem Begriff üblicherweise eignet, dieses Element der Allwissenheit, der Allmacht. In der Welt, in der wir wirklich leben, wird jedes, aber auch wirklich jedes individuelle ökonomische Handeln von einem Regelwerk eingerahmt, das staatlichem Handeln entspringt. Die Effizienz dieser Regeln macht die Welt überhaupt erst bewohnbar und den Markt möglich. Nur drei Beispiele. Niemand würde ein Flugzeug besteigen, wenn er nicht an die Kompetenz der Fluglotsen glaubte. Niemand würde frisches Gemüse kaufen, wenn er nicht überzeugt wäre, dass die Lebensmittelüberwachung einigermaßen gut funktioniert. Niemand würde sein Geld Banken oder Finanzinstituten anvertrauen, wenn er nicht überzeugt wäre, dass die Finanzaufsicht in der Lage ist, kriminelle Machenschaften zu verhindern. Jeder einzelne Bereich unserer komplexen Wirtschaftsaktivitäten bedarf staatlicher Regulierung. Wenn diese Regeln sabotiert oder außer Kraft gesetzt werden, sind Unternehmen nicht etwa plötzlich frei und können tun, was sie wollen, die Märkte selbst brechen zusammen. Wenn wir das zulassen, kommt es zu einer enormen Verarmung der Gesellschaft, was jetzt ja tatsächlich auch geschieht.

    Fuchs: Einer der Märkte, der beim besten Willen nach ihrer Ansicht nicht als Markt funktionieren kann, ist der Arbeitsmarkt. Warum ist das so?
    Galbraith: Ich frage meine Studenten immer, ob sie schon auf dem Arbeitsmarkt waren. Da viele von ihnen schon gearbeitet haben, denken sie, dass sie auf dem Arbeitsmarkt waren. Dann frage ich, ob sie mit potenziellen Arbeitgebern über den Lohn verhandelt hätten, ob sie beispielsweise eine geringere Entlohnung angeboten hätten, um Lücken in ihrer Ausbildung oder den Mangel an Erfahrung auszugleichen. Regelmäßig stellt sich heraus, dass das eben nicht so abgelaufen ist. Arbeitgeber suchen Angestellte, die die Aufgaben meistern können, mit denen das Unternehmen zu tun hat. Und sie stellen sie mit der üblichen Entlohnung ein, in der unter anderem eine längere Einarbeitungszeit bereits eingepreist ist. Das ist himmelweit von den üblichen wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitsmarktmodellen entfernt. Dort geht man von einer Menge identischer Individuen aus, die ihre Löhne individuell aushandeln können. So funktioniert die moderne Gesellschaft nicht. Wenn man Studenten ein derart irreführendes Modell präsentiert, hat das verheerende Folgen. Wenn sie diese "große Erzählung" erst einmal geschluckt haben, werden sie auch jedes andere Märchen der Ökonomen für wahr halten. Außerdem kann auf dieser Grundlage das Problem der Arbeitslosigkeit nicht verstanden werden. Im volkswirtschaftlichen Lehrbuch steht, dass Arbeitslosigkeit durch zu hohe Löhne verursacht wird. Folgt man dieser Logik, muss man Löhne kürzen, wenn man die Arbeitslosigkeit bekämpfen will. In Wirklichkeit funktioniert das so gut wie nie. Unter ganz bestimmten, seltenen Umständen kann das mal zutreffen. In der überwältigenden Mehrzahl der Fälle hängt die Beschäftigung aber von den Absatzmöglichkeiten der Unternehmen ab. Und das wiederum hängt mit dem Gesundheitszustand der Gesamtwirtschaft zusammen und nicht mit dem Lohnniveau der einzelnen Arbeitnehmer.

    Fuchs: Es gibt also keinen "natürlichen" Prozentsatz von Arbeitslosigkeit, der sozusagen inhärent ist, der gar nicht aus der Gesellschaft herausgebracht werden kann?

    Galbraith: Der Begriff des "Natürlichen" vermittelt den Eindruck, man könne nichts gegen Arbeitslosigkeit unternehmen, dass es keinen Sinn mache, dagegen anzugehen, dass man 10, 12, 16, 20 Prozent akzeptieren müsse, weil das das Ergebnis eines funktionierenden Marktes sei. Das ist die schlimmste Form von Nonsens, der übelste Vorwand, sich aus der Verantwortung zu schleichen. Wenn Regierungen sich dieser ihrer ureigensten Verantwortung entziehen, setzen sie ihre Bevölkerung einem wachsenden Verlust von Lebensqualität aus, stürzen sie in letzter Konsequenz in Armut.

    Fuchs: Eng verbunden mit dieser Ideologie der Markteffizienz in den Arbeitsmärkten ist die Vorstellung, dass die Ungleichheit der Entlohnung die Bereitschaft zu größerer Leistung stimuliere und damit größeren Wohlstand erzeuge. Sie haben diese Relation auf den Kopf gestellt und gezeigt, dass Ungleichheit Arbeitslosigkeit erzeugt und damit eine Abwärtsspirale in Gang setzt. Warum ist das so?

    Galbraith: Die Frage Größenordnung ist entscheidend bei der Ungleichheit. Es gibt immer etwas davon. Entscheidend ist die Beziehung zwischen Ungleichheit und ökonomischer Effizienz, zwischen Ungleichheit und Arbeitslosigkeit. Wenn man dieses Verhältnis in Europa oder im Verhältnis zwischen Europa und den Vereinigten Staaten untersucht, erkennt man sehr schnell, dass Länder mit weniger Ungleichheit in ihrem Lohngefüge schon immer weniger unter Arbeitslosigkeit zu leiden haben, während Länder mit mehr Ungleichheit in den Einkommen höhere Arbeitslosenquoten aufweisen. Einer der wichtigsten Gründe dafür ist die erzwungene Mobilität der Arbeitnehmer. Immer werden sie versuchen, einen der vielen schlecht bezahlten Jobs mit einem der wenigen gut bezahlten Jobs zu tauschen. Sie stehen Schlange für diese besser entlohnten Arbeitsplätze, die nicht in genügender Zahl zur Verfügung stehen. Das Ergebnis ist Arbeitslosigkeit. Als nach dem Ende der Franco-Diktatur viele Spanier die verarmten Dörfer verließen, um in den Städten besser bezahlte Jobs in der Industrie zu finden, stieg die Arbeitslosenquote abrupt auf 20 Prozent. Sie fiel erst wieder mit dem Immobilienboom, der auf die Einführung des Euro folgte. Das zeigt ziemlich deutlich, dass wir unsere Gesellschaften so regulieren sollten, dass weniger Ungleichheit entsteht, dass wir das untere Ende der Lohnskala Schritt für Schritt anheben sollten. Weil das auf längere Sicht auch den Trend zu größerer Effizienz in der Wirtschaft stärken wird.
    Fuchs: Und dann gibt es natürlich auch noch die Auswirkungen der Ungleichheit auf die Nachfrage.

    Galbraith: Was die Nachfrageseite angeht, so ist der entscheidende Punkt, dass Ungleichheit zu einer extremen Instabilität des Wirtschaftssystems führt. Die Menschen werden versuchen, die große Ungleichheit in der Kaufkraft durch Kreditaufnahme auszugleichen. Das Ergebnis ist eine hohe Verschuldung der privaten Haushalte mit niedrigen Einkommen. Das ist alles andere als nachhaltig. Wenn die Zinsen steigen, wie das in den USA am Ende der letzten Dekade geschehen ist, können diese Kredite nicht mehr bedient werden. Unbezahlbare Kredite werden nicht mehr bezahlt.

    Fuchs: Nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems fester Wechselkurse und eingeschränkter Kapitalbewegungen wurde die Ideologie der Markteffizienz auf die Kapitalmärkte ausgedehnt. Die Zentralbanken sollten nur noch Geldstabilität sichern. Das Wachstum würden die Marktkräfte ganz allein bewirken. Das Versprechen wurde nicht eingehalten. Die Frage stellt sich, warum durch diese Deregulierung der Finanzmärkte das versprochene Ergebnis nicht erreicht werden konnte.

    Galbraith: Wir müssen die Möglichkeit ernsthaft erwägen, dass diese Versprechen nicht ehrlich gemeint waren, und dass das, was daraus entstanden ist, durchaus den Absichten derjenigen entsprach, die die Deregulierungen durchgesetzt haben. Das heißt eine Welt, in der mächtige private Institutionen sich einen größeren Anteil am geschaffenen Reichtum sichern konnten, als das zuvor der Fall gewesen war. Bezahlt wurde das mit größerer Instabilität, größerer Ungleichheit, geringeren Wachstumsraten und dem Einfrieren des Lebensstandards für die Mehrheit der Menschen. Das genau ist es, was der Protest ausdrückt, von dem wir zu Beginn gesprochen haben. Darauf möchte die "Occupy Wall Street" Bewegung aufmerksam machen.


    Fuchs: Wir sollten die Hörer vielleicht daran erinnern, dass der Entschluss zur Schaffung des Euros eben genau deshalb gefasst wurde, weil das Chaos auf den hochspekulativen und volatilen Devisenmärkten nach dem Zusammenbruch von Bretton Woods, nach der Deregulierung so groß war, dass es politisch kaum noch zu tolerieren war.

    Galbraith: Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass für die schwächeren Mitgliedsländer, die Länder an der Peripherie der EU die Einführung des Euro mit der Hoffnung verbunden war, die spekulativen Angriffe auf ihre Währungen zu unterbinden. Die Krise, der sie nun ausgesetzt sind, ist im Wesentlichen eine Krise der großen Banken der Eurozone. Die Eurozone wurde auf Grundlagen errichtet, die wirtschaftlich nicht lebensfähig sind. Das hätte man zum Zeitpunkt ihrer Gründung bereits wissen können. Dazu zählt das nur auf Inflationsbekämpfung begrenzte Mandat der Europäischen Zentralbank, das ihr jede Flexibilität in ihren Reaktionen nimmt. Dazu gehören auch die mangelnde politische Vertiefung der Integration und das Fehlen einer zentralen Institution zur Steuerung einer kontinuierlichen und nachhaltigen Entwicklung an der Peripherie der EU.

    Ab dem Jahr 2000 verschuldeten sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union in ähnlichem Ausmaß wie die privaten Haushalte in den USA. Im Falle Griechenlands wurden diese Kredite zu untragbaren Konditionen gewährt. Was die europäischen Institutionen hätten wissen können, und was sie wohl auch gewusst haben. In Irland kam es zu einem Boom beim Bau von Industrieanlagen, in Spanien zu einem privaten Immobilienboom. Aber die Verantwortung liegt nicht allein bei den Schuldnern. Auch der Gläubiger muss prüfen, ob Konditionen für einen Schuldner tragbar sind. Gläubiger tendieren jedoch dazu, gierig zu werden und nur auf eine hohe Rendite zu schielen. In Boom-Zeiten suchen sie sich schwache Schuldner und geben ihnen Kredite wider besseres Wissen. Kommt es zum Crash, muss der Schaden deshalb von beiden Seiten zu gleichen Teilen getragen werden. Das geschieht aber weder in den USA noch in Europa. In den Vereinigten Staaten erfahren die Schuldner so gut wie keinen Schutz, sie verlieren ihre Immobilien. Nur die Gläubiger werden durch Steuergelder gerettet. In Europa geschieht genau das Gleiche. Die Gläubiger werden geschützt, die Europäische Zentralbank kauft die notleidenden Kredite auf, die Schuldner aber lässt man im Regen stehen. Ihre Verarmung wird der Wirtschaft der Europäischen Union eine schwindelerregende Abwärtsspirale bescheren. Die Menschen werden ihre Hoffnung verlieren, ihre Loyalität Europa gegenüber wird schwinden. Es wird zu massiver Emigration aus Ländern wie Griechenland und Irland kommen. Das europäische Integrationsprojekt wird seine Attraktivität verlieren, das Versprechen von mehr Wohlstand durch eine große, wirtschaftlich starke Gemeinschaft wird als Schimäre oder gar als bewusster Betrug erscheinen. Und ich glaube nicht, dass die EU diese Enttäuschung lange überleben wird.

    Fuchs: Wenn das, was wir jetzt seit drei Jahren erleben, eine systemische Krise der Ideologie der Markteffizienz ist, die uns alle unter diese Herrschaft der Finanzindustrie gebracht hat, bleibt die Frage, was kann man tun? Können wir auf Aktienmärkte beispielsweise verzichten, um die Realwirtschaft zu finanzieren? Können zumindest einige der Finanzmärkte geschlossen werden?

    Galbraith: Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Finanzmärkte, wie sie noch vor drei Jahren funktioniert haben, am Ende sind. Sie können auch nicht wieder ins Leben zurückgerufen werden. Das Geschäftsmodell der amerikanischen Banken bestand hauptsächlich in Privatkrediten, Hypothekenkrediten vor allem. In Europa haben die Banken mit Geschäftskrediten und staatlichen Schuldverschreibungen gearbeitet. Diese Märkte haben schlicht zu existieren aufgehört. Sie wurden zerstört durch den enormen Vertrauensverlust und die Erfindung ausgeklügelter Derivate, bei denen niemand sicher weiß, wie die Kreditwürdigkeit des jeweiligen Vertragspartners einzuschätzen ist. Es gibt keinen Weg dahin zurück. Die amerikanische Mittelklasse hat ihre Kreditwürdigkeit für lange Zeit verloren. Die wirtschaftlich schwächeren europäischen Länder werden sich auf absehbare Zeit nicht mehr auf dem internationalen Kreditmarkt bedienen können. Wir müssen also den Finanzsektor erst einmal wieder aufbauen, ihm eine neue institutionelle Basis geben, sodass er seine Funktion auf einer verlässlichen und angemessenen Grundlage erfüllen kann. In den 30er-Jahre hatte man das gleiche Problem und benötigte nach dem Zusammenbruch von 1929 40 Jahre, um wieder einen funktionierenden Finanzsektor aufzubauen. In den USA beispielsweise wurde die Hypothekenfinanzierung damals streng regulierten halbstaatlichen Instituten anvertraut. Die Rolle der Banken unter diesen stark veränderten Umständen wird sicher eine ganz andere sein. Wenn man Banken haben will, die sich um die Finanzierung kleiner und mittlerer Unternehmen kümmern, braucht man kleine und mittlere Banken. Großbanken interessiert das nicht. Wir hätten schon vor drei Jahren die Mega-Banken zerschlagen sollen. Die gesamte Finanzindustrie muss auf eine vernünftige Größenordnung zurückgeführt werden. Eine Verkleinerung um 30 Prozent wäre das Richtige. Die Boni der Topmanager müssen gekürzt werden. All jene, die in die rücksichtlosen und betrügerischen Geschäftspraktiken der Vergangenheit verwickelt waren, müssen ausgetauscht werden. Auch die Gründung neuer und kleinerer Banken muss in Angriff genommen werden. Deren Wettbewerb sollte dann aber in einem engen Regulierungsrahmen stattfinden. Nur so kann man sicherstellen, dass sie die ihnen von der Gesellschaft zugewiesenen Funktionen auch erfüllen. Banken müssen der Gesellschaft dienen, sie dürfen ihr nicht ihre Bedingungen diktieren, wie sie es während der letzten 30 Jahre getan haben.