Dienstag, 19. März 2024

Archiv


Mehr als nur Kopfgeburten: Kultur und Chirurgie kommen zusammen

Es kommt gar nicht selten vor, dass Chirurgen den Schädel eines Menschen künstlich formen müssen. Aber an welchen Schädelformen soll man sich da orientieren, was ist eine "normale" Kopfform? Darüber diskutierten nun Mediziner und Geisteswissenschaftler auf der Tagung "Culture meets Surgery".

10.11.2012
    Burkhard Müller-Ullrich: Kultur und Chirurgie – diese Kombination knallt jetzt richtig rein. Was haben Kultur und Chirurgie miteinander zu tun? Die erste Assoziation bei vielen (bei mir war es auch so) ist sicher: Dr. Frankenstein. Aber darum geht es jetzt nicht, sondern es geht um moderne Medizin und seriöse Wissenschaft. In Berlin fand gerade eine dreitägige Konferenz unter dem Titel "Culture meets Surgery", veranstaltet vom Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, statt, wobei im Mittelpunkt die Form des Schädels stand, denn es kommt gar nicht so selten vor, dass Chirurgen – zum Beispiel bei Kindern, die an einer Kraniosynostose leiden – den Schädel eines Menschen künstlich formen müssen. Aber an welchen Schädelformen sollen sich die Chirurgen da orientieren, was ist eine "normale" Kopfform? - Uta Kornmeier, Sie haben die Tagung organisiert: zur Bestimmung dessen, was normal ist, dient nicht nur der statistische Durchschnittswert, sondern es spielen ja auch ästhetische Vorlieben und kulturelle Interpretationen mit hinein. Und dann ist der Schädel ja auch metaphysisch aufgeladen, weil er der Sitz des Denkvermögens ist ...

    Uta Kornmeier: Richtig. Das ist natürlich auch eine ganz wichtige kulturelle und historische Komponente dabei, dass im 19. Jahrhundert, als man begann, mit der Lokalisationstheorie, der Intelligenz oder den geistigen Fähigkeiten nach Orten zu suchen am Kopf, im Gehirn, wo man ablesen kann, wie der Charakter, wie die Eigenschaften eines Menschen sind. Und da stammen ja unsere ganzen Vorstellungen her, dass eine hohe Stirn besondere Intelligenz bezeichnet, oder jemand, der es faustdick hinter den Ohren hat, da steckt laut den damaligen Wissenschaftlern, laut Gall und laut seinem Schüler Spurzheim, entweder Diebessinn oder der Betrugssinn. Daher kommt unser Ausdruck zum Beispiel, es faustdick hinter den Ohren zu haben, weil hinter den Ohren wurde eine Stelle lokalisiert, wo eben dann unter dem Knochen diese Eigenschaften sitzen.

    Müller-Ullrich: Noch dicker kommt es ja, wenn es nicht nur um den Schädel geht, sondern ums Gesicht überhaupt. Die ganze Physiognomie und diese Überspringerei in Persönlichkeitsinterpretation von Lavater beispielsweise bezieht sich ja vor allem aufs Gesicht.

    Kornmeier: Ja, das stimmt. Das Gesicht ist natürlich einerseits Teil des Schädels, aber andererseits ist es noch mal ganz davon abgelöst, weil es eben auch sehr viel mehr bewegliche Teile hat als der obere Teil des Schädels. Das sind im Grunde zwei sehr komplizierte, sehr eng zusammenhängende Untersuchungsfelder. Der obere Teil des Schädels wird immer mit dem Gehirn assoziiert, und da kommt es sehr auf die Form an. Der vordere Teil des Schädels ist ja das Gesicht, und da sind natürlich sehr viele Muskeln, und da wird die ganze Sachlage noch viel komplizierter, weil das Bewegliche, das Feste und das Weiche alles zusammentreffen und natürlich da ein viel komplizierteres Bild noch herausbringen. Aber in der Tat gucken wir uns natürlich auch Gesichtschirurgie an, und da gibt es ganz sonderbare Sachen vor allem in der plastischen Chirurgie, dass Menschen meinen, sie sähen zu weich aus und würden gerne durchsetzungsfähiger aussehen, und lassen sich dann ihr Kinn operieren oder solche Sachen. Das kommt natürlich direkt dann aus solchen, heutzutage als veraltet zu betrachtenden Vorstellungen, dass man am Gesicht eben den Charakter ablesen kann.

    Müller-Ullrich: Übernehmen Sie da nicht eine irrsinnige Verantwortung, gerade als Kulturwissenschaftler? Wie kann man verhindern, dass Chirurgen Katastrophen anrichten, bloß weil die Kulturwissenschaftler mal wieder interpretatorisch daneben liegen?

    Kornmeier: Na ja, ganz so ist es natürlich nicht. Die Chirurgen haben ja doch auch ein sehr ausgeprägtes Berufsbild. Und ich meine, es ist ja überhaupt ein Glücksfall, dass die Chirurgen uns jetzt für dieses Projekt einmal konsultiert haben, uns als Geisteswissenschaftler. Das ist ja durchaus nicht die Norm. Und oft gehen natürlich diese beiden Überlegungen über den Menschen, diese beiden Forschungsstränge über den Menschen vollkommen aneinander parallel vorbei und besprechen sich eigentlich kaum. Das ist auch der große Glücksfall bei dieser Konferenz. Wir haben es ja so angelegt, dass Mediziner und Kulturwissenschaftler und Historiker und Künstler hier zusammen sitzen und diskutieren. Und wenn ein Kulturwissenschaftler was erzählt und die Chirurgen finden, das ist Quatsch, dann sagen die das auch, und anders herum ist das eben auch. Wenn die Chirurgen da mit großer Geste erklären, welche Dinge sie machen, dann steht auch schon mal der Kulturwissenschaftler auf und sagt, aber haben Sie eigentlich auch bedacht, dass es ja davon und davon abhängt. Also es ist zum ersten Mal hier für unser Projekt gelungen, einen Dialog zwischen diesen ganzen Disziplinen erst mal möglich zu machen, und hier kann ich Ihnen sagen: es geht ganz schön rund.

    Müller-Ullrich: Uta Kornmeier war das vom Zentrum für Literatur- und Kulturforschung. Sie hat die Tagung "culture meets surgery" in Berlin organisiert. Vielen Dank für die Auskünfte.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.